Seit Juli 2010 präsidiert Vincent Martenet, 40, die zwölfköpfige Wettbewerbskommission (Weko), der er als Mitglied seit 2005 angehört. Martenet schätzt diese «Feldarbeit»: «Das ist eine willkommene Ergänzung zu meiner akademischen Tätigkeit.» Ihr geht er auch heute noch nach als Professor für Verfassungs- und Wettbewerbsrecht an der Universität Lausanne.
Als Verfassungsrechtler sticht Martenet aus der Reihe seiner Vorgänger im Präsidentenamt, dem Privatrechtler Pierre Tercier und den beiden Wirtschaftsrechtlern Roland von Büren und Walter Stoffel, heraus. Kein Nachteil, findet der Neuenburger: «Wir sind in der Weko oft mit grund- und verfahrensrechtlichen Problemen konfrontiert.» Dass er seine Rollen dennoch trennt, wird im Verlaufe des Gesprächs aber deutlich: Mal antwortet der Weko-Präsident, mal der Professor.
Für den Weko-Präsidenten Martenet ist das «Wir» zentral: «Bei der Weko geht es nicht um meine Person, wir arbeiten im Team.» Als «oberster Wettbewerbspolizist» mag er sich denn auch nicht bezeichnen lassen. Die Ruhe, die Martenet ausstrahlt, kann täuschen: In Konsumentenkreisen wird er als überaus aktiv und engagiert beschrieben. Als Beispiel mag die jüngste Schlacht gegen Behinderungen des Onlinehandels dienen. Im Visier waren die Firmen Electrolux und V-Zug - sie haben ihre Vertriebssysteme bereits während der Weko-Untersuchung angepasst.
Mit der Ruhe des Präsidenten ist es auch vorbei, wenn seine Kommission attackiert wird, so wie diesen Sommer. Zu wenige Entscheidungen? «Im Gegenteil. Pro Mitarbeiter haben wir mehr Entscheidungen als die Europäische Wettbewerbskommission.» Zudem: «Die Zahl der Entscheide ist nicht so wichtig. Wichtig ist ihre Qualität. Unsere Entscheide betreffen Musterfälle und sind Leitentscheide mit Einfluss auf den Markt.»
Zu wenige Sanktionen? «Das ist nicht korrekt.» Martenet weist auf die kürzlich verhängten Sanktionen wegen harter horizontaler Absprachen - also Preisabsprachen - im Umfang von mehreren Millionen Franken gegen Fenster- und Sanitärunternehmen hin. Martenet relativiert jedoch: «Eine Sanktion soll nie das Ziel sein, sondern immer das Mittel. Wichtig ist der Präventiveffekt.» Und damit sei seine Kommission, so der Weko-Präsident, erfolgreich: «Die Schweiz als Land der Kartelle ist ein überholtes Bild.»
In die Nesseln setzte sich der Weko-Präsident, als seine Kommission im Rahmen der Frankenkrise kritisiert wurde. Martenet erwiderte, dass die Konsumenten selber agieren und im Ausland einkaufen könnten. Diese Aussage kam bei den Detailhändlern nicht gut an, doch der Weko-Präsident sah keinen Grund, zurückzukrebsen. Im Gegenteil: «Was den starken Franken angeht, kann die Weko nur gegen internationale Kartelle sowie gegen Vereinbarungen vorgehen, die den Schweizer Markt abschotten.» Wenn er auch die Konsumenten nicht ermutigen wolle, im Ausland einkaufen zu gehen, so gelte doch: «Kartellrechtlich ist es wichtig, dass dieser Verkaufskanal offen bleibt. Er diszipliniert den Schweizer Markt.»
Diszipliniert ist auch Martenet selbst. Kurz nach seinem vierzigsten Geburtstag am 10. Oktober wird er sich im November dem New York Marathon stellen. Dafür trainiert er regelmässig. Ein willkommener Ausgleich zu seiner Sechs- oder gar Siebentagewoche als Weko-Präsident und Professor: «Wenn man zwei 50 Prozent-Pensen zusammenzählt, gibt das immer mehr als 100 Prozent», erklärt Martenet gelassen. Damit hat der Marathonläufer aber noch nicht genug: «Ein bis zwei Tage am Wochenende arbeite ich an meinen Publikationen», so Martenet. Mitleid will er dafür aber nicht - «diese Wahl habe ich selbst getroffen».
Und damit ist Vincent Martenet mit Leib und Seele Professor geblieben, der die Schwächen des schweizerischen Kartellrechts - wie sie sich in diesem Sommer deutlich zeigten - analysiert: «In der Schweiz gilt für Preisabsprachen bloss die Vermutung, dass sie unrechtmässig sind.» Zuerst einmal müsse also geprüft werden, ob diese Vermutung umgestossen werden könne - «das Bundesgericht nimmt dies schnell einmal an», erklärt Professor Martenet. «Weiter muss festgestellt werden, ob die Beeinträchtigung des Wettbewerbs erheblich ist», führt Martenet aus, «die Klärung dieses Punktes kostete uns beispielsweise im Fall der Fensterunternehmen viel Zeit.» Schliesslich müsse noch abgeklärt werden, «ob die Abrede aus Gründen wirtschaftlicher Effizienz zulässig ist».
In der EU läuft dieses Verfahren viel schlanker ab: «Hier genügt es, eine Preisabsprache zu beweisen und abzuklären, ob sie wirtschaftlich nicht gerechtfertigt ist.» Mit anderen Worten: Im Gegensatz zu der EU sind in der Schweiz die harten Wettbewerbsabreden nicht per se verboten.
Dies dürfte sich allerdings ändern. Im Nachgang zur Frankenkrise hat der Bundesrat entschieden, die Kartellrechtsrevision entsprechend zu ergänzen. Professor Martenet freut sich darüber. Skeptisch steht er allerdings dem bundesrätlichen Vorschlag gegenüber, ein Wettbewerbsgericht zu schaffen: «Ein Gericht mit Entscheidkompetenz und einem Sekretariat als Untersuchungsbehörde würde uns in Europa zum Sonderfall machen.» Martenet gibt zudem zu bedenken: «Das Verfahren würde verlängert und schliesslich müsste das Sekretariat durch erfahrene Anwälte aus der Praxis verstärkt werden - das würde die Kosten steigern.»
Dass in seiner Kommission die Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften vertreten seien, beurteilt der Präsident als problematisch. Martenet ist es jedoch wichtig zu betonen: «Es geht nicht um die betroffenen Kommissionsmitglieder als Personen.» Aber: «Diese Zusammensetzung beeinträchtigt unsere Glaubwürdigkeit gegenüber der EU, mit welcher wir in der Bekämpfung internationaler Kartelle zusammenarbeiten», bedauert Martenet. Er würde eine von den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften unabhängige sowie auf fünf - im Gegensatz zu heute zwölf - Mitglieder verkleinerte Kommission begrüssen. Allerdings: Das Sekretariat der Weko wird personell verstärkt werden. Vier neue Stellen wurden bereits geschaffen, weitere Anstellungen folgen. Darüber freut sich sowohl der Präsident als auch der Professor.