Das Bundesgericht entschied im Oktober 2010, private Zeugenbefragungen durch Rechtsanwälte seien nur ausnahmsweise zulässig – wenn eine sachliche Notwendigkeit für die Befragung bestehe und bestimmte Vorsichtsmassnahmen eingehalten würden (BGE 136 II 551).
Das Bundesgericht hatte vor dem Hintergrund einer besonderen Konstellation im Strafverfahren entschieden: Der vom Verteidiger befragte Zeuge war als Tatverdächtiger in Frage gekommen. Hätte er wie erhofft ausgesagt, hätte dies den Mandanten des Verteidigers entlastet, zugleich aber den Zeugen selbst zum Tatverdächtigen gemacht.
Für den Zürcher Rechtsanwalt Peter Reichart widerspricht dieses Urteil tragenden Grundsätzen des Zivilprozessrechts und schränkt die Anwaltstätigkeit übermässig ein. Der Zivilprozess sei von der Maxime beherrscht, dass die Parteien dem Gericht die Tatsachen darlegen, auf die sie ihre Begehren stützen. «Dabei haben sie substanziierte Behauptungen aufzustellen, über einen nicht substanziiert vorgetragenen Sachverhalt wird nämlich kein Beweis abgenommmen», so Reichart.
Die Ermittlung des Sachverhalts sei eine der Hauptaufgaben des prozessführenden Anwalts. Reichart: «Es genügt nicht, Akten zu studieren und sich vom Mandanten instruieren zu lassen. Vielmehr müssen regelmässig potenzielle Zeugen befragt werden.»
Die förmliche Zeugenbefragung sei zwar Aufgabe des Gerichts. Das schliesse aber das Recht und mitunter die Pflicht des Anwalts nicht aus, den Sachverhalt auch durch die private Befragung von Zeugen abzuklären: «Die private Zeugenbefragung im Zivilprozess gehört zu den Grundsätzen der freien Anwaltsausübung.» Denn, so Reichart: «Welche Angaben ein in Betracht kommender Zeuge zum Sachverhalt machen kann, lässt sich in der Regel ohne ein Gespräch mit ihm nicht feststellen. Ob eine sachliche Notwendigkeit besteht, weiss man mit anderen Worten erst im Nachhinein.»
Eine sorgfältige Prozessführung verlange, dass der Anwalt die verfügbaren Informationsquellen ausschöpfe und die in Betracht fallenden Beweismittel prüfe. «Dazu gehören eben auch Gespräche mit potenziellen Zeugen.»
Reichart findet das Kriterium der sachlichen Notwendigkeit keine Stütze. Er ist der Ansicht, das Verhältnis von Regel und Ausnahme sollte genau umgekehrt sein als im Entscheid des Bundesgerichts: «Eine private Zeugenbefragung sollte grundsätzlich zulässig sein, unter Berücksichtigung gewisser Schranken und zweckmässiger Vorsichtsmassnahmen. Grenze des Erlaubten soll das Strafrecht bilden, der Anwalt darf den Zeugen daher nicht zu einem falschen Zeugnis anstiften.» (Art. 307 StGB)
“Bei jeder Befragung wird der Zeuge beeinflusst”
Isaak Meier, Professor für Zivilprozessrecht an der Universität Zürich, verweist auf die international unterschiedlichen Konzepte zur Befragung von Zeugen. Im englischen Zivilverfahrensrecht bereite der Anwalt die Befragung seiner eigenen Zeugen vor. «In der Schweiz gehen wir dagegen davon aus, dass der Zeuge möglichst wenig beeinflusst wird.» Bei jeder Befragung durch einen Anwalt werde dieser aber auf irgendeine Art beeinflusst – «alles andere ist unrealistisch». Meier ist überzeugt, dass Zeugeneinvernahmen durch Private dem geltenden schweizerischen Recht widersprechen. «Ich vertrete daher eher den Standpunkt des Bundesgerichts.»
“Lehre und Praxis sind nicht mehr zeitgemäss”
Unterstützung erhält Reichart vom Zivilprozessspezialisten Peter Hafter. Seiner Meinung nach sind die Schweizer Lehre und Praxis nicht mehr zeitgemäss: «Dies gilt insbesondere für Zivilprozesse.» Laut Hafter ist in Schiedsverfahren die Kontaktierung von Zeugen im Hinblick auf deren Befragung nicht nur zulässig, sondern sogar üblich. «Der Umstand, dass einerseits Schiedsgerichte regelmässig und in der Regel mit Erfolg Zeugen befragen, die von den Parteivertretern auf ihre Befragung vorbereitet wurden, während andererseits ordentliche Gerichte Zeugenbefragungen mehr und mehr zu vermeiden suchen, sollte zu denken geben.»
Hafter schlägt die Einführung von vorbereiteten Zeugenerklärungen vor, sogenannten Witness- Statements. Solche sind vor Gerichten in angelsächsischen Ländern üblich. Eine als Zeuge in Betracht kommende Person setzt ein Papier auf, in dem jene Feststellungen enthalten sind, die er als Zeuge bestätigen kann. «Der Anwalt der Partei, die den Zeugen angerufen hat, ist in der Regel an der Erstellung dieses Papiers beteiligt und reicht es dem Gericht ein.» So würden die Zeugenbefragungen effizienter und ergiebiger, ist Hafter überzeugt.
Auch Lorenz Droese, Assistenzprofessor für Zivilverfahrensrecht an der Universität Luzern, unterstützt Reicharts Position. Es sei am Anwalt und nicht an den Gerichten, über das Klienteninteresse zu wachen. Hingegen will er nicht Art. 307 StGB als Grenze des Erlaubten bei Zeugenbefragungen heranziehen. Hintergrund der Formulierung «Vermeidung jeder Beeinflussung» bilde Art. 7 der Standesregeln der Anwälte, wonach jede Beeinflussung von Zeugen verboten sei. Droese: «Art. 12 lit. a BGFA verlangt von Anwälten, dass sie ihren Beruf sorgfältig und gewissenhaft ausüben.» Das Bundesgericht suche zwischen diesen Radikallösungen einen Mittelweg. So wie Droese das Bundesgericht versteht, kommt es am Ende darauf an, ob das Interesse an vollständiger Sachverhaltsbehauptung oder das Interesse an unbeeinflusster Zeugenaussage überwiegt.
Alexander Markus, Professor für Privat- und Verfahrensrecht an der Universität Bern, ist weder vom Standpunkt des Bundesgerichts noch jenem Reicharts überzeugt. «Einserseits haben wir die Verhandlungsmaxime, andererseits haben wir in der ZPO einen Numerus clausus an Beweismitteln. Die private Zeugenbefragung gehört nicht dazu.» Das Bundesgericht stelle beim Strafprozess sehr hohe Hürden für die private Zeugenbefragung. «Man kann diese Regeln auf den Zivilprozess übertragen, aber in einer weniger strengen Art und Weise. Man muss nämlich berücksichtigen, dass es um Verfahren geht, in denen die formelle und nicht die materielle Wahrheit erforscht wird.» Was Reichart vorschlage, gehe in die Richtung US-amerikanischer Verhältnisse:. «Dort ist die private Zeugenbefragung sogar als Beweismittel möglich – bei uns ist sie dagegen kein zulässiges Beweismittel.»