1. Revision ATSG
Seit dem 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) in Kraft. Seither sind lediglich vereinzelte Anpassungen erfolgt. Gegenwärtig beschäftigt sich allerdings das Parlament mit einer umfangreicheren Vorlage, mit welcher verschiedene Bestimmungen des ATSG neu gefasst werden sollen. Es geht dabei insbesondere um verschiedene Änderungen mit Blick auf die Versicherungsdurchführung.
Eine Übersicht über die einzelnen Änderungen ist nicht leicht zu gewinnen, weil das Parlament sie in zwei getrennten Vorlagen berät. Im Geschäft 17.022 werden die Änderungen im Zusammenhang mit der laufenden Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) und die Art. 17, Art. 32 sowie Art. 44 ATSG behandelt. Offensichtlich steht die Diskussion von Art. 44 ATSG zu den Gutachten im Zentrum der Auseinandersetzungen.
Die andere Gesetzesrevision trägt die Nummer 18.029 und betrifft eine Reihe von Bestimmungen, wobei die vorsorgliche Leistungseinstellung (Art. 51a ATSG), die Kostenpflicht im kantonalen Gerichtsverfahren (Art. 61 ATSG) sowie Bestimmungen zum Regress für die Rechtsanwendung besonders wichtig sind.
Per 1. September 2019 treten Art. 43a und 43b ATSG in Kraft. Mit diesen beiden neuen Gesetzesbestimmungen wird die Observation in der Sozialversicherung neu geordnet.
2. AHV
In der AHV wird gegenwärtig eine umfangreiche Revision vorbereitet, welche den Titel «AHV 21» trägt und zum Ziel hat, das Leistungsniveau der Altersvorsorge zu erhalten und das finanzielle Gleichgewicht der AHV zu sichern. Im August 2019 wird der Botschaftsentwurf zur AHV 21 dem Bundesrat unterbreitet.
Aus der Rechtsanwendung ist auf einen illustrativen Entscheid zur Abklärung der selbständigen und der unselbständigen Erwerbstätigkeit hinzuweisen.1
Was die ebenfalls zentrale Abgrenzung von Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit betrifft, ist die Rechtsprechung mittlerweile gefestigt, wonach nur der Zeitaufwand im Umfang einer eigentlichen Erwerbsorientierung berücksichtigt wird; insoweit wird darauf abgestellt, ob die Erwerbsabsicht in Form eines angemessenen Verhältnisses zwischen Leistung und Entgelt zum Ausdruck kommt.2 Der Einkommensbegriff selber ist weit gefasst; grundsätzlich ist jede Entschädigung, die wirtschaftlich mit dem allenfalls bereits abgelaufenen Arbeitsverhältnis zusammenhängt, Teil des beitragspflichtigen Einkommens.3
Die AHV ist nach wie vor nicht geschlechtsneutral gefasst, was indessen nach Art. 190 BV für das Bundesgericht bindend entschieden ist.4
Deutlich weniger häufig zu beurteilen hat das Bundesgericht Streitigkeiten wegen der Schadenersatzpflicht von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern nach Art. 52 AHVG.5
3. Invalidität
Mit dem Geschäft 17.022 6 wird die «Weiterentwicklung der IV» verfolgt. Es geht um eine adäquate und koordinierte Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und psychisch erkrankten Versicherten, damit ihr Eingliederungspotenzial gestärkt und so ihre Vermittlungsfähigkeit verbessert wird.7
Die Rechtsprechung im Sozialversicherungsbereich beschäftigt sich weit überwiegend mit Streitigkeiten aus dem Bereich der IV. Das Bundesgericht hat hier verschiedene Grundsatzentscheide gefällt. So hat das Bundesgericht festgehalten, dass eine ärztlich festgelegte gesundheitliche Einschränkung im Rahmen der Rechtsanwendung bezogen auf die funktionelle Leistungsfähigkeit bewertet werden muss.8 Diesbezüglich ist die Rechtsprechung recht streng und hat beispielsweise beim Barpianisten in fortgeschrittenem Alter angenommen, es liege keine Erschwerung des Zugangs zum Arbeitsmarkt im Bereich der Pianistentätigkeit vor.9 Was posttraumatische Belastungsstörungen betrifft, setzt die Rechtsprechung eine aussergewöhnliche Bedrohung oder ein katastrophenartiges Ausmass des Ereignisses voraus.10
Auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt, welcher für die Bestimmung der Vergleichseinkommen (Valideneinkommen sowie Invalideneinkommen nach Art. 16 ATSG) von Bedeutung ist, lassen sich nach bundesgerichtlicher Feststellung auch Nischenarbeitsplätze finden, bei denen die betreffende Person mit einem sozialen Entgegenkommen von Seiten des Arbeitgebers beziehungsweise der Arbeitgeberin rechnen kann.11
In der IV wird nach wie vor die gemischte Methode zur Bestimmung des Invaliditätsgrades bei Teilerwerbstätigen angewendet; Ausgangspunkt der Sachverhaltsfeststellung ist hier die Antwort auf die Frage nach der hypothetischen Tätigkeit ohne gesundheitliche Einbusse.12
Die laufenden Renten der IV werden periodisch überprüft, wobei es einerseits um allfällige Entwicklungen des Sachverhaltes nach Art. 17 ATSG (Anpassung beziehungsweise Revision) und anderseits um die Frage geht, ob die Rentenzusprache im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG bereits anfänglich zweifellos unrichtig war (Wiedererwägung). Zum letztgenannten Prüfungspunkt hat das Bundesgericht festgehalten, dass eine zweifellose Unrichtigkeit der bisher gewährten IV-Rente ausscheidet, wenn ermessensgeprägte Teile der Anspruchsprüfung im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprache in vertretbarer Weise beurteilt wurden.13
Was die stationäre Behandlung von geburtsbehinderten Kindern betrifft (welche in weiten Bereichen zulasten der IV geht), hat das Bundesgericht Art. 14bis IVG so ausgelegt, dass der hier vorgesehene kantonale Anteil von 20 Prozent nur zu entrichten ist, wenn das betreffende Spital alle Voraussetzungen von Art. 39 KVG, auch den Erhalt eines Leistungsauftrags, erfüllt.14
Schliesslich ist aus dem Bereich der Sachverhaltsabklärung darauf hinzuweisen, dass bei einer allfälligen Aggravation eine versicherte Gesundheitsschädigung verneint wird; dies betrifft aber nur denjenigen Teil, der auf Aggravation beruht; im Übrigen ist die Abklärung aber insgesamt – gegebenenfalls auch mit der Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281 – durchzuführen.15
4. Unfall
Nach dem Inkrafttreten der UVG-Revision am 1. Januar 2017 haben sich bezogen auf die neuen Bestimmungen keine besonderen Fragen ergeben. Immerhin ist bislang noch nicht fassbar geklärt worden, ob mit der gesetzlichen Umschreibung der unfallähnlichen Körperschädigung in Art. 6 Abs. 2 UVG (ohne Verwendung des genannten Begriffes) eine Veränderung der bisherigen Praxis zu erfolgen hat oder nicht.
Im Übrigen sind der aktuellen Rechtsprechung einige Urteile zum Unfallbegriff, zur Berufskrankheit sowie zur Kausalität zu entnehmen.
4.1 Unfallbegriff
Was die Einordnung des Schreckereignisses als Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG betrifft, haben sich in der jüngeren Rechtsprechung keine Veränderungen ergeben. Die Rechtsanwendung verlangt nach wie vor eine konkrete objektive Lebensgefahr, was in einem Fall bezogen auf die örtliche Nähe der versicherten Person zum Terrorattentat in Nizza verneint wurde.16 Im Zusammenhang mit dem Schreckereignis betont die Rechtsprechung allenfalls etwas fassbarer als zuvor, dass auch die Voraussetzung der Plötzlichkeit der Einwirkung gegeben sein muss.17
Ob ein Suizid ausnahmsweise als Unfallereignis anzusehen ist, musste das Bundesgericht im Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme beurteilen; es ging um die Frage, ob durch die gemeinsame Einnahme von Paroxetin und Lexotanil ein Zustand der gänzlichen Unfähigkeit, vernunftgemäss zu handeln, eingetreten war.18
Hinzuweisen ist ferner auf ein Urteil zum sogenannten accident médical; hier verlangt die Rechtsanwendung für die Annahme eines Unfallereignisses eine grobe (ärztliche) Ungeschicklichkeit, was bezogen auf die Verletzung eines Seitenasts der Arteria mammaria bei der Einsetzung des Herzschrittmachers verneint wurde.19
In der Palette der beurteilten Sachverhalte fehlt der regelmässig anzutreffende Biss auf den Olivenstein nicht; das Bundesgericht beschäftigte sich mit dem mediterranen Salat (beim Grossverteiler gekauft), wobei auf dem Verpackungsbild die Oliven nicht klar sichtbar waren; es wurde vom Bundesgericht angenommen, es sei bei dieser Ausgangslage nicht ungewöhnlich, auf eine nicht entkernte Olive zu beissen, weil das Packungsbild eben nicht aufzeigt, dass die im Salat enthaltenen Oliven entkernt wären.20
In der Unfallversicherung bietet auch die Einordnung des Zeckenbisses als Unfall oft Gegenstand von Auseinandersetzungen.21
Schwierig ist die Einordnung von Unfallereignissen auch im Zusammenhang mit der Einwirkung von Wasser; gegebenenfalls kann der längere Aufenthalt in heissem Wasser nach einem Sturz den Unfallbegriff erfüllen.22
4.2 Berufskrankheit
Bei der Beurteilung des Vorliegens einer Berufskrankheit – in der obligatorischen Unfallversicherung ein ebenfalls versichertes Risiko – befasste sich das Bundesgericht mit der Einordnung der ionisierenden Strahlung auf den menschlichen Organismus, wobei bezogen auf die aufgetretene Tumorerkrankung massgebend war, ob sie zu mehr als 50 Prozent durch die entsprechende Exposition verursacht wurde.23
4.3 Kausalität
Häufig hat sich die Rechtsprechung mit Kausalitätsfragen zu befassen, wobei es um die natürliche und die adäquate Kausalität geht. Bei dieser oft schwierig zu treffenden Abgrenzung berücksichtigt das Bundesgericht, ob eine besonders empfindsame Körperregion – im konkreten Fall das Gesicht – betroffen war, was für die Frage nach der Adäquanz von Bedeutung ist.24
Beim Vorliegen einer Diskushernie wird in der Regel ein Vorzustand beziehungsweise eine degenerative Schädigung angenommen, weshalb diese gesundheitliche Einschränkung nur ausnahmsweise als massgebende Unfallursache der bestehenden gesundheitlichen Schädigung anzusehen ist.25 Regelmässig ist schliesslich in der Rechtsanwendung das CRPS (complex regional pain syndrome) bezogen auf die Annahme des Unfallereignisses und die sich daraus ergebende Kausalität einzuordnen.26
5. Berufliche Vorsorge
In einem weit gefassten Fokus lässt sich erkennen, dass in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Auseinandersetzungen in der beruflichen Vorsorge zunehmende Bedeutung erhalten. Zweifellos ergeben sich hier vermehrte Gerichtsverfahren, mit denen teilweise bereits seit längerer Zeit bestehende Unklarheiten bereinigt werden können. Freilich zeigt die Durchsicht der berufsvorsorgerechtlichen Urteile des Bundesgerichts, dass Auseinandersetzungen über die Zuständigkeit der Vorsorgeeinrichtung zur Erbringung von Invalidenleistungen quantitativ weit im Vordergrund stehen. Dabei geht es jeweils um die Frage, ob zwischen dem Auftreten einer Arbeitsunfähigkeit und einer später einsetzenden Invalidität eine sachliche sowie zeitliche Konnexität besteht.27
Das Bundesgericht hat in Grundsatzurteilen festgelegt, dass die Vorsorgeeinrichtung bei (hypothetischer) Teilerwerbstätigkeit den Invaliditätsgrad nicht unter Berücksichtigung des Verhältnisses zu einer hypothetischen Vollzeiterwerbstätigkeit zu bestimmen hat; insoweit weicht die berufliche Vorsorge von der IV ab.28
Das Bundesgericht hält nach wie vor an der umfassenden Bedeutung des Anrechnungsprinzips fest, soweit eine umhüllende Vorsorgeeinrichtung besteht; nach dem Anrechnungsprinzip ist der gesetzlichen Mindestregelung Genüge getan, wenn die aufgrund des Reglements beziehungsweise der Statuten berechneten Leistungen frankenmässig höher liegen als die gesetzlichen Leistungen.29
Das Bundesgericht hat sich mit der Tragweite der Gesundheitsprüfung sowie des Gesundheitsvorbehaltes in der beruflichen Vorsorge auseinandergesetzt30 und die Frage geklärt, ob bei einer hauptberuflichen Erwerbstätigkeit im Ausland bezogen auf die schweizerische Nebenerwerbstätigkeit eine obligatorische Unterstellung unter die berufliche Vorsorge besteht.31
Die Vorsorgeeinrichtung kann reglementarisch einen Verzugszins bestimmen; bei einer solchen Ausgangslage ist in der Folge nicht der Verzugszins von 5 Prozent, sondern der reglementarisch festgelegte Verzugszins geschuldet.32
Selten sind Urteile zur Teilung des Pensionskassenguthabens bei Scheidung.33
Bei Fragen der Leistungskoordination nimmt die Rechtsprechung an, dass bei einer Resterwerbsfähigkeit von lediglich 10 Prozent grundsätzlich eine Unverwertbarkeit dieser Restleistung besteht.34 Bei der Überentschädigungsgrenze entspricht der mutmasslich entgangene Verdienst prinzipiell dem Valideneinkommen, wobei die Verwertbarkeit der Resterwerbsfähigkeit hinsichtlich der persönlichen Umstände und der tatsächlichen Lage auf dem im Einzelfall relevanten Arbeitsmarkt überprüft werden kann.35
6. Krankheit
Der Bereich der Krankenversicherung befindet sich in ständiger Entwicklung. Die Durchführung der Krankenversicherung ist komplex aufgebaut, und es fällt schwer, sich einen Überblick über die jeweils aktuellen und strittigen Punkte zu verschaffen. Dabei zeigt sich mit Deutlichkeit, dass die Krankenversicherung derjenige Versicherungsbereich ist, in dem Streitigkeiten oft auch ausserhalb von Gerichtsverfahren ausgetragen werden und in welchem neue Ansätze beziehungsweise neue Modelle recht oft geprüft und umgesetzt werden.
Das Bundesgericht beschäftigt sich trotz der prinzipiell grossen Bedeutung der Krankenversicherung an sich sehr wenig mit krankenversicherungsrechtlichen Streitigkeiten. Dabei zeigt sich, dass die Krankenversicherer im weit überwiegenden Bereich Leistungen ohne gerichtlich ausgetragene Streitigkeit vergüten. Das Bundesgericht hat bei dieser Ausgangslage eher besonders gelegene Fälle zu beurteilen. Dazu zählt etwa die Frage, ob mit Blick auf das Kriterium der Wirtschaftlichkeit der Leistungen allenfalls absolute Grenzen der Kostenvergütung bestehen, was das Bundesgericht verneint.36
Bei der Pflegefinanzierung werden durch die Krankenversicherer nur Teile der entstandenen Kosten vergütet, wobei diesbezüglich bei der allfälligen Normierung betraglicher Höchstansätze Grenzen bestehen.37 Im Bereich der Krankenversicherung sind in einem engeren Rahmen Leistungen zu vergüten, welche in pflegerischer Hinsicht durch Familienangehörige erbracht wurden.38
Ausnahmsweise vergütet die Krankenversicherung die Behandlung im Ausland, was das Bundesgericht bezogen auf eine Phallo-Plastik zu beurteilen hatte; das Bundesgericht weist die Sache zur weiteren Abklärung zurück.39
Die Prämienverbilligung hat angesichts des Finanzierungssystems mit Kopfprämien eine erhebliche sozialpolitische Bedeutung.40
Verschiedentlich muss sich das Bundesgericht mit Fragen der pauschalen Rückforderung gegenüber Leistungserbringenden – konkret jeweils ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzten – befassen, wobei hier seit längerer Zeit eine (freilich umstrittene) statistische Methode zur Bestimmung der allfälligen Unwirtschaftlichkeit zum Tragen kommt.41 Bei der im Krankenversicherungsrecht wichtigen nachträglichen Wirtschaftlichkeitsprüfung hat das Bundesgericht – bezogen auf ambulante ärztliche Leistungen – geklärt, mit welchen Schritten ein allfälliges quantitatives Ausmass der Unwirtschaftlichkeit festzulegen ist; vorerst ist der Index aller direkten und veranlassten Arztkosten zu bestimmen, wobei in der Folge zu prüfen ist, ob der Index der totalen direkten Kosten den Toleranzwert übertrifft; hier muss eine Betrachtungsweise Platz greifen, welche insgesamt die direkten Arzt- und Medikamentenkosten umfasst.42
7. Arbeitslosigkeit
Das Bundesgericht hatte sich mit der Frage der selbst verschuldeten Arbeitslosigkeit zu befassen, wobei es um einen Fall von Mobbing ging.43 Ebenfalls war zu beurteilen, ob die Kündigung der bisherigen Arbeitsstelle ohne rechtswirksames Zustandekommen des neuen Arbeitsvertrages zu einer selbstverschuldeten Arbeitslosigkeit führt.44
Von den betroffenen Personen regelmässig nicht verstanden wird die gesetzliche Regelung beziehungsweise die daraus abgeleitete Rechtsprechung, wonach bei einer arbeitgeberähnlichen Person (sowie deren Ehegatten) kein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung besteht, wenn gegenüber dieser Person (zum Beispiel gegenüber einer Gesellschafterin der GmbH) die in der betreffenden Gesellschaft bekleidete Arbeitsstelle gekündigt wird.45
8. Verfahren
In recht zahlreichen Fällen muss das Bundesgericht – gestützt auf Art. 25 ATSG – die Frage einer Rückerstattung von zu Unrecht bezogenen Leistungen beziehungsweise die Frage des Verzichts auf eine Rückerstattung beurteilen.46
Das sozialversicherungsrechtliche Verfahren sollte nach den gesetzgeberischen Intentionen so ausgestaltet sein, dass auch nicht vertretene Parteien zu ihrem Recht gelangen. Davon hat sich die Rechtsdurchführung freilich entfernt, und es bestehen heute Hürden, die im Laufe eines Verfahrens zu bewältigen sind. Dazu zählt beispielsweise die Wahrung von Fristen. Hier kommt der Zustellung von fristauslösenden Entscheiden mittels A-Post Plus Bedeutung zu. Diese Zustellart ist im Sozialversicherungsrecht prinzipiell zulässig und wirkt sich dahingehend aus, dass die Zustellung des Briefes erfolgt ist, wenn er in den Machtbereich des Empfängers gelangt. Dabei zeichnet sich die Zustellart dadurch aus, dass dieser Zustellzeitpunkt (der auch an einem Samstag sein kann) elektronisch festgehalten wird.47
Wer vorerst die Mitwirkung an der Sachverhaltsabklärung verweigert, in der Folge dazu aber bereit ist, befindet sich in derselben Situation wie bei einer neuen Anmeldung zum Leistungsbezug.48
Aus dem Bereich der Observation ist auf ein Urteil hinzuweisen, wonach im konkreten Fall eine lege artis diagnostizierte Simulation vorliegt, worin keine versicherte Gesundheitsschädigung zu erblicken ist.49 Observationsergebnisse bezüglich des Bedienens von Bancomaten im öffentlich einsehbaren Raum durch die versicherte Person sind im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren der IV-Stelle verwertbar.50
In verfahrensrechtlicher Hinsicht geht es bei der Prüfung der Frage, ob eine Nachfrist zur Beschwerdefrist anzusetzen ist, darum, ob allenfalls ein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorliegt. Dies wurde in einem konkreten Fall verneint, als der Anwalt die Akten schriftlich angefordert hat, wobei diese vor Ablauf der Beschwerdefrist nicht eingingen, weshalb vorderhand eine unbegründete Beschwerde eingereicht wurde.51
Praktische Bedeutung hat der Entscheid des Bundesgerichts, dass im Berufsvorsorgeprozess keine res iudicata vorliegt, wenn im ersten Berufsvorsorgeprozess einzig der prinzipielle Anspruch auf die Leistungen geklärt wurde, hingegen bezüglich Zeitraum und Umfang der Leistungen nichts festgelegt wurde.52
Bei der unentgeltlichen Vertretung hatte das Bundesgericht zu prüfen, ob ein in Deutschland zugelassener Rechtsanwalt mit Geschäftssitz in Deutschland als Vertreter zugelassen werden kann.53 Die reformatio in peius, die im kantonalen Verfahren zulässig ist, ist nur zurückhaltend vorzunehmen, weil die Verwirklichung des materiellen Rechts über das individuelle Rechtsschutzinteresse gestellt ist.54
9. Gutachten
Art. 44 ATSG ordnet das Vorgehen bei der Notwendigkeit eines Gutachtens. Diese Bestimmung wird gegenwärtig im Parlament überarbeitet, wobei der definitive Wortlaut der neuen Bestimmung gegenwärtig noch nicht bekannt ist. In der Rechtsanwendung haben Gutachten ein überaus hohes Gewicht, was die grosse Zahl der darauf bezogenen Urteile des Bundesgerichts unschwer zeigt. Es sind folgende Aspekte zu nennen:
Zulässigkeit von versicherungsinternen Berichten, ausser wenn (auch nur geringe) Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit bestehen55
Zufallsgesteuerte Zuteilung der medizinischen Gutachten in der IV56
Ergänzende Fragen beim Gutachten; vorgängige Fragestellung versus nachträgliche Fragestellung57
Ausschluss von «second opinion»-Gutachten58
Bei Gerichtsgutachten spielt das Verbot der second opinion ebenfalls eine Rolle; wenn ein verwertbares Administrativgutachten vorliegt, kann die kantonale Gerichtsinstanz nicht ein Gerichtsgutachten einholen59
Neuropsychologische Abklärung als Teil des gutachtlichen Prozesses60
Einbezug von Observationsmaterial in die Abklärung des Sachverhaltes61
Fachärztliches Ermessen der sachverständigen Person im Gutachtensprozess62
Einbezug einer Evaluation von allfälligen funktionellen Einschränkungen63
Würdigung des Gutachtens, insbesondere von Informationen, welche im Rahmen von Social-Media-Profilen dargestellt werden64
Notwendigkeit der Einholung einer Fremdanamnese sowie Berücksichtigung von allfälligen Qualitätsrichtlinien65
Unterzeichnung des medizinischen Gutachtens66
Würdigung eines nach dem strukturierten Beweisverfahren mit Indikatorenprüfung erstellten Gutachtens67
Prinzipieller Ausschluss einer juristischen Parallelüberprüfung des massgebenden Sachverhalts68
Revision eines Urteils des Bundesgerichts wegen Abstellens auf ein Gutachten einer Begutachtungsinstitution, der in der Folge die Bewilligung entzogen wurde, Gutachten zu erstellen.69