1. Wo Veränderungen stattfinden
Im vorliegenden Beitrag sind die Entwicklungen im Sozialversicherungsrecht zu schildern. Freilich ist es nicht leicht, den zutreffenden Blickwinkel zu wählen, um diese Entwicklungen zu erkennen. Das Sozialversicherungsrecht stellt einen durchnormierten Bereich des Bundesrechts dar, welcher durch Regelungen auf verschiedenen Stufen (bis hin zu Dutzenden von praxisrelevanten Wegleitungen und Kreisschreiben) geordnet wird. Diese Regelungen werden bezogen auf Einzelaspekte oft und gelegentlich auch in grundsätzlicher Hinsicht geändert und angepasst.
Es könnte also zur Schilderung der Entwicklungen primär ein Blick auf die Rechtsgrundlagen geworfen werden. Diese Veränderungen der rechtlichen Grundlagen stellen nämlich selbstverständlich eine massgebende Entwicklung dar. Als Beispiel dafür zu nennen ist die Aufnahme einer Regelung zur Frage, wie im Bereich der IV die Invalidität bei teilerwerbstätigen Personen zu bestimmen ist (Art. 27bis IVV). Diese Regelung auf Verordnungsstufe hat eine weitreichende Bedeutung und steuert die Rechtsanwendung in sehr vielen Fällen. Bei einem solchen Blick müsste auch die Ebene der Wegleitungen und Kreisschreiben einbezogen werden. Es ist gerade im Sozialversicherungsrecht auffallend, dass zentrale materielle Fragen gelegentlich auf tiefer Regelungsebene geklärt werden. Als Beispiel dafür ist die Erfassung von Dividenden als massgebender Lohn zu nennen. Diese Entwicklung geht darauf zurück, dass Dividenden im Rahmen der Unternehmenssteuerreform II neu teilbesteuert werden, was Auswirkungen auf die AHV-beitragsrechtliche Aufrechnung als massgebender Lohn hat; die entsprechende Regelung findet sich in Rz. 2011.1 ff. der Wegleitung über den massgebenden Lohn (WML).
Oder sollen die Entwicklungen geschildert werden, welche sich in der Rechtsprechung ergeben haben? Das Bundesgericht und die kantonalen Versicherungsgerichte sowie das Bundesverwaltungsgericht beurteilen jährlich Tausende von strittigen Fällen, und es sind auch hier zentrale Entwicklungen auszumachen. Bei diesen Entwicklungen ist es nicht einfach, den Überblick zu behalten und allfällige allgemeine Entwicklungstendenzen zu erkennen.
Der vorliegende Beitrag richtet sich schwergewichtig an der Rechtsprechung aus. Dennoch soll dieser Schilderung ein allgemeiner Abschnitt vorangestellt werden, welcher die allgemeinen Entwicklungen des Sozialversicherungsrechts aufzeigt.
2. Grundsätzliche Betrachtung
Es steht fest, dass die schweizerische Sozialversicherung in quantitativer Hinsicht mit jährlich rund 180 Milliarden Franken Einnahmen einen zentralen Faktor der Volkswirtschaft darstellt. Der hohe Betrag spiegelt einerseits die Bedeutung dieses Rechtsbereichs und anderseits die Erwartung an ihn. Angesichts des dichtgewobenen Netzes von sozialversicherungsrechtlichen Regelungen besteht ein zunehmender Anspruch der Versicherten auf eine allgemeine, gut abgestützte und auch Sonderfälle erfassende Absicherung gegen den Eintritt aller sozialen Risiken. Dieser Anspruch kann nicht leicht abgedeckt werden. Die zunehmende Individualisierung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse bringt nämlich mit sich, dass der allgemeinen Erwartung an eine umfassende, zutreffende Risikoabdeckung im Sozialversicherungsrecht schwierig Rechnung getragen werden kann. Wenn früher einfache und durchführungsmässig gut umsetzbare Lösungen gewählt wurden, ist dies angesichts der Vielfalt von zu regelnden Lebenssachverhalten oft nicht mehr möglich. Wie ist diese allgemeine Entwicklung einzuordnen?
Ausgangspunkt der Überlegungen bildet die Feststellung, dass das Sozialversicherungsrecht eine öffentlich-rechtliche Regelung darstellt und dass der Gesetzgeber sich für Durchnormierungen der erfassten Bereiche entschieden hat. Dabei zeichnen sich die bisher gewählten Lösungen dadurch aus, dass regelmässig auf durchschnittliche Verhältnisse abgestellt wird und damit besonders gelagerte Sachverhalte nicht eine eigenständige, allenfalls differenzierende Regelung erfahren haben. Anders als beispielsweise im Privatversicherungs- oder im Haftpflichtrecht sind im durchnormierten Bereich des Sozialversicherungsrechts individuelle Lösungen nicht vorgesehen (und auch nicht typisch). Das steht zunehmend in Konflikt mit dem Umstand, dass das Sozialversicherungsrecht heute weite Teile der Bevölkerung beziehungsweise zunehmend die gesamte Bevölkerung abdeckt. Durch diese Entwicklung erhält das Sozialversicherungsrecht den Charakter einer allumfassenden und alle Situationen und alle Personen einbeziehenden Ordnung. Bei dieser Ausgangslage besteht die Erwartung, dass auch unterschiedliche und selten gewählte Lebensformen zutreffend einbezogen werden. Kennzeichnendes Beispiel für diese Entwicklung ist das Konkubinat. Dieses stellt eine oft anzutreffende Lebensform dar, ohne dass aber das Sozialversicherungsrecht bislang in besonderer Weise darauf eingegangen wäre. Das Konkubinat wird im heutigen Sozialversicherungsrecht einzig durch Art. 20a BVG erfasst.1
Das Sozialversicherungsrecht ist insoweit eine sich nur langsam verändernde und besondere Lebensformen prinzipiell nicht aufgreifende Regelung. Es bleibt für das Sozialversicherungsrecht kennzeichnend, dass die entsprechende generell-abstrakte Ordnung nur sehr oft anzutreffende Sachverhalte erfassen kann und dass die Regelung auf spezifische Besonderheiten nicht eingehen kann. Die heute vorliegende komplexe Ordnung des Sozialversicherungsrechts spiegelt bereits eine recht grosse Vielfalt der Lebensverhältnisse. Eine weitergehende Differenzierung wird mit sich bringen, dass die Umsetzung dieses Auffangsystems zunehmend schwieriger wird. Zugleich könnte das allfällige Ziel, alle Sachverhalte den je zutreffenden Lösungen zuzuführen, durch eine generell- abstrakte Regelung ohnehin nicht erreicht werden.
Bei dieser Ausgangslage muss sich also die Gesetzgebung darauf ausrichten, Lösungen im Sozialversicherungsrecht vorzusehen, welche insgesamt überzeugen. Dabei ist in Kauf zu nehmen, dass im Einzelfall Lösungen resultieren, die nicht durchwegs befriedigen (und bezogen auf den einzelnen Sachverhalt beispielsweise zu Über- oder Unterentschädigungen führen). Für die Gesetzgebung soll dabei immer im Zentrum stehen, die grundlegenden Entwicklungen prospektiv zu erkennen und darauf ausgerichtete, längerfristig überzeugende Lösungen festzulegen.
3. Abgrenzung der Erwerbstätigkeiten
3.1 Blick auf die neuste Rechtsprechung
Die Rechtsprechung setzt sich oft mit Abgrenzungsfragen der Erwerbstätigkeit auseinander. Dabei geht es zunächst um die Frage, wann überhaupt eine Erwerbstätigkeit vorliegt; es muss also geklärt werden, ob im konkreten Fall eine Nichterwerbstätigkeit oder eine Erwerbstätigkeit gegeben ist.2
Was die Abgrenzung der Erwerbstätigkeit von der Nichterwerbstätigkeit betrifft, hat das Bundesgericht darauf verzichtet, die Annahme einer Erwerbstätigkeit daran zu knüpfen, dass nach einem bestimmten maximalen Zeitraum zwingend Gewinne erwirtschaftet werden müssen.3 Zentral ist in der Folge (d.h. bei Annahme einer Erwerbstätigkeit) die Abgrenzung der selbständigen von der unselbständigen Erwerbstätigkeit. Hier hat sich das Bundesgericht mit den Marketern, mit den Taxifahrern sowie mit der Massagetätigkeit in einem Hotel befasst.4
3.2 Selbständigkeit, neue Erwerbsformen
Im heutigen Wirtschaftsleben treten – wie schon immer – neue Beschäftigungsformen auf. Zu denken ist gegenwärtig insbesondere an Plattformarbeiten. Hier stellen sich bezogen auf die Einordnung in das sozialversicherungsrechtliche Schutzsystem eine Reihe von Fragen, die durchaus unterschiedlich beantwortet werden können.
Dabei geht es primär um die Frage, ob an der bisherigen Dualität von unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit festzuhalten ist. Hier liessen sich unterschiedliche Vorgehensweisen vorstellen. Es könnte – Lösungsvorschlag 1 – an den bisherigen Abgrenzungskriterien festgehalten werden. Diesem Vorgehen müsste entgegengehalten werden, dass damit eine im Gang befindliche wirtschaftliche Entwicklung eher gehindert als gefördert wird.
Insoweit wäre – Lösungsvorschlag 2 – vorzuziehen, bezogen auf die prinzipielle Dualität (selbständige beziehungsweise unselbständige Erwerbstätigkeit) die massgebenden Abgrenzungskriterien der heutigen Erwerbswelt anzupassen und dabei in erheblichem Mass auf die Einschätzung beziehungsweise auf die Willensäusserung der Beteiligten abzustellen. Es wäre bei diesem Lösungsvorschlag insoweit eine Aufgabe der Aufsichtsbehörde (d.h. des BSV), auf Weisungsebene gut begründet und klar gefasst festzulegen, dass die Abgrenzung der selbständigen von der unselbständigen Tätigkeit als massgebendes Kriterium einzubeziehen hat, ob die betreffenden Beteiligten übereinstimmend festhalten, dass eine selbständige Tätigkeit vorliegt.
Wenn die bisherige Dualität der Einordnung der Erwerbstätigkeit aufgegeben würde, ginge es – Lösungsvorschlag 3 – um die Schaffung einer neuen Kategorie von Erwerbstätigen. Dabei würde sich mit Blick auf die durchführungsmässige Einfachheit aufdrängen, eine «Zwischenkategorie» zu schaffen, welche in bestimmter Anlehnung an die beiden heutigen Formen der Erwerbstätigkeit auszugestalten wäre. Dass dabei in internationaler Hinsicht – kein Sitz der Plattform in der Schweiz – durchführungstechnische Fragen entstehen, muss besonders berücksichtigt werden.
4. Invalidität und Invaliditätsgrad
Das Bundesgericht hat sich in einigen grundlegenden Entscheiden sowie in einer Vielzahl von Einzelfallbeurteilungen mit der Invalidität auseinandergesetzt.
Besonders zentral ist die vom Bundesgericht nunmehr klar vorgenommene Abgrenzung zwischen medizinisch attestierter Arbeitsunfähigkeit und IV-relevanter Einschränkung.5 Grundsätzlichen Charakter haben ferner zwei Urteile des Bundesgerichts zur Einordnung der psychischen Beeinträchtigung. Hier hat das Bundesgericht festgelegt, dass auch affektive Störungen einschliesslich der leichten bis mittelschweren depressiven Erkrankungen dem strukturierten Beweisverfahren (gemäss BGE 141 V 281) zu unterstellen sind und dass damit auch bei solchen Beeinträchtigungen danach zu fragen ist, ob und wie sich die Krankheit leistungslimitierend auswirkt.6
In einer Reihe von Urteilen befasste sich das Bundesgericht mit den für die Bestimmung des Invaliditätsgrades massgebenden Vergleichseinkommen. Dabei klärte das Bundesgericht, ob und unter welchen Voraussetzungen ein bisher geführter Betrieb aufzugeben ist.7 Sodann beschäftigte sich das Bundesgericht mit dem bei Tabellenlöhnen gegebenenfalls vorzunehmenden sogenannten leidensbedingten Abzug.8 Was diesen Abzug betrifft, hat das Bundesgericht festgehalten, dass nicht für jedes zur Anwendung gelangende Merkmal ein separater Abzug vorzunehmen ist, sondern dass vielmehr der Einfluss aller Merkmale auf das Invalideneinkommen gesamthaft zu schätzen ist.9
In zwei illustrativen Urteilen setzte sich das Bundesgericht mit dem Invaliditätsgrad von gesundheitlich beeinträchtigten Anwältinnen und Anwälten auseinander.10
Ferner hat das Bundesgericht erneut einen wichtigen Grundsatz betont: Bei der Bestimmung der Invalidität durch Vergleichseinkommen muss allemal das Prinzip der Parallelität der Vergleichseinkommen berücksichtigt werden.11
5. Teilerwerbstätige und Invalidität
Die Rechtsprechung befasste sich mit verschiedenen Fragen der Invalidität von Teilerwerbstätigen. Diese Rechtsprechung erfolgte teilweise auch im Nachgang zur neuen Regelung von Art. 27bis IVV (in Kraft seit 1. Januar 2018). Mit der neuen Verordnungsbestimmung nahm der Bundesrat die Entscheidung im Fall Di Trizio des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auf, wonach die bisherige schweizerische Vorgehensweise zur Bestimmung der Invalidität bei teilerwerbstätigen Personen nicht mit der EMRK in Übereinstimmung steht. Die neue Regelung von Art. 27bis Abs. 2 bis 4 IVV hält im Wesentlichen fest, dass das Valideneinkommen durch die Tätigkeit bei einem Erwerbspensum von 100 Prozent bestimmt wird.12 Durch diese neue Regelung ergibt sich im Ergebnis allgemein ein höherer Invaliditätsgrad bei Teilerwerbstätigen.
Nach wie vor bildet einen zentralen Ausgangspunkt der Invaliditätsbemessung die Frage, was die betreffende Person tun würde (gemeint: in erwerblicher Hinsicht), wenn sie nicht invalid geworden wäre.13 Besonders schwierig zu beurteilen sind bei Teilerwerbstätigen zeitlich nachfolgende hypothetische Wechsel (Wechsel im Aufgabenbereich, in der Erhöhung beziehungsweise Verminderung des Erwerbspensums). Das Bundesgericht hat festgelegt, dass das wegleitende EGMR-Urteil vom 2. Februar 2016 (Urteil Di Trizio) ausschliesslich Fälle mit einem Statuswechsel hin zur Teilerwerbstätigkeit betrifft.14
Die Rechtsprechung hat im Bereich der Invalidität von Teilerwerbstätigen wichtige Grundsatzfragen im Bereich der beruflichen Vorsorge geklärt. So hält das Bundesgericht an der bisherigen Rechtsprechung fest, wonach in diesem Sozialversicherungszweig kein Anspruch auf eine Invalidenrente besteht, wenn das vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung ausgefüllte Teilzeitpensum trotz gesundheitlicher Beeinträchtigung weiterhin ausgeführt werden kann. Es wird dann angenommen, dass sich die Invalidität im nichtversicherten Anteil der Vollzeitbeschäftigung verwirklicht hat.15 In der beruflichen Vorsorge ist ferner zur Bestimmung des Invaliditätsgrades das Einkommen aus der Teilerwerbstätigkeit – anders als in der IV und in der Unfallversicherung – nicht auf 100 Prozent hochzurechnen.16
6. Tod als versichertes Risiko
Das Bundesgericht verkennt nicht, dass sozialversicherungsrechtliche Bestimmungen bei den Ansprüchen auf Hinterlassenenleistungen zuweilen dem Prinzip der Gleichbehandlung von Mann und Frau widersprechen; indessen ist die entsprechende gesetzliche Regelung – im konkreten Fall Art. 13a ATSG – für das Bundesgericht massgebend.17 Massgebend für das Bundesgericht ist auch die Regelung von Art. 24 Abs. 2 AHVG. In dieser Bestimmung ist ein geschlechtsbegründeter Beendigungsgrund der Hinterlassenenrenten vorgesehen.18
Zuweilen ergeben sich Schwierigkeiten beim Akteneinsichtsrecht nach dem Tod des Lebenspartners.19 In der beruflichen Vorsorge sieht Art. 20a BVG eine Möglichkeit zur Begünstigung vor; das Bundesgericht muss sich nach wie vor recht oft mit den entsprechenden Voraussetzungen befassen.20
7. Unfallereignis und Kausalität
Was einen Unfall darstellt, wird durch Art. 4 ATSG umschrieben. Wichtig ist die Abgrenzung deshalb, weil beim Vorliegen eines Unfallereignisses (bzw. einer unfallähnlichen Körperschädigung sowie einer Berufskrankheit) die obligatorische Unfallversicherung Leistungen zu gewähren hat. Oft ist strittig, ob ein bestimmter Sachverhalt die Voraussetzungen eines Unfallereignisses erfüllt. Zum Bereich der anerkannten Unfallereignisse gehört der accident médical, d.h. die gesundheitliche Schädigung bei einem medizinischen Eingriff.21
Schwierigkeiten bereitet zuweilen die zutreffende Einordnung der Diskushernie.22
In verschiedenen Urteilen befasste sich das Bundesgericht mit der sogenannten unfallähnlichen Körperschädigung (UKS). Es ging um den Meniskusriss beim Golfspiel,23 um die Fraktur beim Balletttraining24 oder um eine Schädigung beim American-Football-Spiel.25
Ebenfalls als versichertes Ereignis wird in der obligatorischen Unfallversicherung die Berufskrankheit betrachtet; das Bundesgericht musste sich dabei mit der posttraumatischen Belastungsstörung nach Berichterstattung aus politischen Krisengebieten befassen.26
Das Unfallereignis wird nicht angenommen, wenn der Gesundheitsschaden freiwillig herbeigeführt wurde. Hier war vom Bundesgericht zu klären, wann eine «unfreiwillige» Einwirkung besteht; das Bundesgericht schloss sich der Auffassung an, dass das Unfallereignis beim Eventualvorsatz wegen fehlender Unfreiwilligkeit ausgeschlossen ist.27
Oft muss sich das Bundesgericht mit der Kausalität zwischen Unfallereignis und gesundheitlicher Beeinträchtigung befassen. So verhielt es sich bei einer psychischen Beeinträchtigung nach einem Angriff in einer Bar.28 Die Adäquanzprüfung kann bei einer zeitlich nachfolgenden Fallüberprüfung erneut vorgenommen werden, falls eine Anpassung der Leistungen erfolgt. Dabei berücksichtigt das Bundesgericht, dass den Adäquanzkriterien ein gewisses zeitliches, dynamisches Element inhärent ist.29
8. Tariffragen bei Leistungserbringern
Im Bereich der Tariffragen hat die bundesgerichtliche Bestätigung grundlegenden Charakter, dass der bundesrätliche Eingriff in die Tarifstruktur gemäss Anpassungsverordnung 2014 den rechtlich verankerten politischen Zielen der Forderung der Hausarztmedizin und der Wirtschaftlichkeit Rechnung tragen darf.30
In einer Reihe von Urteilen hat sich das Bundesgericht mit Wirtschaftlichkeitsfragen in der Krankenversicherung befasst. Zunächst hat das Bundesgericht bezogen auf Art. 56 Abs. 6 KVG festgelegt, dass das Parlament dem Weg des gemeinsamen Vorgehens von Leistungserbringern und Versicherern Vorrang vor dem zu erreichenden Ziel einer transparenten und qualitativen Wirtschaftlichkeitsprüfung eingeräumt hat.31
9. Medizinische Gutachten
Bei der Erstellung von Gutachten sind prinzipiell die anerkannten Qualitätsleitlinien zu berücksichtigen. Wenn diese nicht beachtet wurden, ist der betreffenden Ausgangslage bei der Beurteilung des Beweiswertes des Gutachtens Rechnung zu tragen. Bei alledem soll aber – wie das Bundesgericht festhält – keine von der versicherungsmedizinischen Festlegung losgelöste juristische Parallelüberprüfung erfolgen.32 Bei der Würdigung des Gutachtens ist allemal von ausschlaggebender Bedeutung, ob das Gutachten in materieller Hinsicht überzeugt.33 Nicht Bedingung für die Eignung einer Ärztin oder eines Arztes als Gutachtensperson sind eine schweizerische Ausbildung beziehungsweise der FMH-Facharzttitel.34 Das Bundesgericht befasste sich in diesem Zusammenhang auch mit der Frage, welche fachlichen Voraussetzungen an die Mitwirkung von Psychologinnen und Psychologen zu stellen sind.35 Was die Übernahme der Gutachtenskosten im kantonalen Gerichtsverfahren betrifft, hat das Bundesgericht festgehalten, dass eine kostenpflichtig werdende IV-Stelle für die gesamten Kosten des Gerichtsgutachtens aufzukommen hat; es gelten hier also gegebenenfalls andere Kostenansätze als bei Gutachten, die im Verwaltungsverfahren eingeholt wurden.36
10. Observation als Abklärungsmittel
Das Bundesgericht geht nunmehr davon aus, dass für die Durchführung einer Observation eine an sich erforderliche gesetzliche Grundlage im Sozialversicherungsrecht gegenwärtig fehlt. Trotzdem vorgenommene Observationen werden im Beweisverfahren dennoch berücksichtigt, wenn die Interessenabwägung zum Ergebnis führt, dass das Interesse an der Berücksichtigung des so gewonnenen Beweismaterials überwiegt (was vom Bundesgericht in den einzelnen Fällen eigentlich durchwegs angenommen wird).37
Weil Observationen sehr oft umstritten sind, sei ein umfassender Blick auf die Fragestellung erlaubt.38 Ein Blick zurück zeigt mit aller Klarheit und Deutlichkeit: Die Observation war im Sozialversicherungsrecht bis in die letzten Jahre völlig ungebräuchlich und kaum anzutreffen. Dieses Bild hat sich freilich in den letzten Jahren stark verändert, und gegenwärtig ist die Observation ein viel besprochenes und kontrovers beurteiltes Thema.
An sich ist die prinzipielle Einordnung der Observation in das sozialversicherungsrechtliche Verfahren recht einfach; die Observation kann ein Abklärungsinstrument sein, wie sie im Sozialversicherungsrecht ganz unterschiedlich bestehen. Die Observation tritt damit zu den weiteren (üblichen) Beweismitteln wie Auskünfte, Abklärungsberichte, Arztberichte, Augenscheine oder Gutachten. Mit Selbstverständlichkeit wird in der Rechtsprechung denn auch angenommen, eine durch die Observation zutage geförderte neue Tatsache könne den ersten Schritt zu einer Revision des formell rechtskräftigen Entscheides darstellen.39
Beweismittel im Sozialversicherungsrecht haben unterschiedliche Qualitäten und zudem verschiedene Bedeutungen für die Abklärung des Sachverhalts. Dies zeigen die Beweiswürdigungsgrundsätze, welche von der Rechtsprechung entwickelt wurden. Im Sozialversicherungsrecht gilt – wie im öffentlichen Recht allgemein – der Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Danach ist an sich weder die Herkunft eines Beweismittels noch dessen Kennzeichnung massgebend.40 Trotzdem hat die Rechtsprechung eine Reihe von Richtlinien und Grundsätzen entwickelt, welche eine klare Kategorisierung von Beweismitteln erlauben.41 Insofern ist auch für die Verwendung von Observationsergebnissen im Sozialversicherungsverfahren eine genauere Analyse erforderlich. Nur so können Observationsergebnisse zutreffend in das sozialversicherungsrechtliche Abklärungsverfahren eingeordnet werden.
Wenn Observationsergebnisse bezogen auf die Art und Weise ihrer Erhebung eingeordnet werden, zeigen sich bestimmte Besonderheiten, welche hier – beispielsweise anders als bei Gutachten – ins Gewicht fallen.
Die Observation beruht nicht auf einer systematischen, ergebnisoffenen Abklärung. Bei Observationsberichten wird ausschliesslich dargestellt, welches die aus Sicht der observierenden Person wahrgenommenen Auffälligkeiten sind. Ob daneben kürzere oder längere Phasen ohne die betreffende Auffälligkeit zutage traten, wird im Observationsbericht nicht festgehalten, weil die Observation nur während bestimmten eng umrissenen Zeitperioden stattfindet und nur bestimmte Handlungen (Heben, Tragen, Aufstehen, Absitzen etc.) aufgezeichnet werden. Insoweit vermag die Observation keinen Blick auf die Gesamtsituation zu ermöglichen.
Bei der Observation ist die Objektivität der Abklärung nicht gesichert. Wenn die vom Bundesgericht entwickelten Richtlinien und Grundsätze gewürdigt werden, zeigt sich, dass Abklärungsmittel ein besonders hohes Gewicht haben, die von Personen erstattet beziehungsweise erstellt wurden, welche dem Grundsatz der Objektivität verpflichtet sind. Deshalb werden Berichte von Hausärztinnen und Hausärzten nur zurückhaltend gewürdigt. Bei der Observation ist – wie eine kantonale Rechtsprechung schon vor längerer Zeit zutreffend festhielt – die Gefahr zu berücksichtigen, dass die mit der Beobachtung betrauten Personen unter Erfolgsdruck vor allem jene Beobachtungen festhalten, welche die allenfalls bestehende Arbeitsunfähigkeit in Frage stellen.42 Die Observationsergebnisse dokumentieren also nicht umfassend, in welchen Situationen die beobachtete Person erkennbare gesundheitliche Einbussen zeigte bzw. nicht zeigte.
Bei der Observation erfolgt keine nachprüfbare und wiederholungsfähige Abklärung. Es werden zwar Beobachtungen berichtet, doch sie können nicht durch Drittpersonen erneut überprüft und wiederholt werden. Dies mindert zwar nicht den Beweiswert an sich, zeigt aber doch, dass ein Observationsbericht nur ein einzelnes Element und dabei nur einen einzelnen Moment wiedergeben kann.
Zu beachten ist zudem, dass eine systematische Aus- und Weiterbildung der observierenden Person nicht gesichert ist. Grundsätzlich gilt, dass ein Beweismittel ein umso höheres Gewicht hat, je besser die betreffende Person aus- und weitergebildet ist. Dies trifft beispielsweise bei ärztlichen Gutachterinnen und Gutachtern in klarer, nachprüfbarer Weise zu. Demgegenüber ist jedenfalls im heutigen Zeitpunkt nicht gesichert, dass die observierenden Personen insoweit besondere qualitative Erfordernisse erfüllen können. Dies gilt in besonderem Mass, wenn die Observation nicht von Angestellten der Versicherungsträger selber, sondern von beauftragten Drittpersonen vorgenommen wird.
Es besteht bezogen auf die Vornahme der Observation nicht die Möglichkeit, Ergänzungsfragen zu stellen oder ähnlich wirkende Mitwirkungsrechte der versicherten Person zu beanspruchen. Bei den übrigen Abklärungsmitteln – etwa dem Augenschein – steht grundsätzlich der betreffenden Person das Recht zu, an der Beweiserhebung mitzuwirken und – so beim Gutachten – Ergänzungsfragen zu stellen. Solche Mitwirkungsrechte bestehen bezogen auf die Erhebung des Beweismittels bei der Observation nicht. Es ist ja gerade das Kennzeichen der Observation, dass sie ohne Mitwirkung der versicherten Person erfolgt.
Bei dieser Ausgangslage fragt sich, weshalb die Observation in jüngerer Zeit mit derart grosser Nachdrücklichkeit sowohl in der Rechtsetzung als auch in der Rechtsanwendung Beachtung findet. Bei der Vielfalt der bereits zur Verfügung stehenden Abklärungsmittel müsste die Observation ihren althergebrachten Stellenwert wieder einnehmen, wie es in der Sozialversicherung zuvor während Jahrzehnten der Fall war: Die Observation stellt kein eigentlich taugliches Beweismittel dar und sollte nur in ganz besonders gelagerten Ausnahmefällen einbezogen werden.
Insgesamt ergeben sich also folgende Punkte:
- Die Observation stellt ein in besonderem Masse nachrangiges Beweismittel dar.
- Die Ergebnisse der Observation sind unter Berücksichtigung der besonderen Umstände der Erhebung des Beweismittels besonders kritisch zu prüfen.
- Den Mitwirkungsrechten der betroffenen Partei ist in hohem Mass Rechnung zu tragen.
11. Unentgeltliche Vertretung
Das Bundesgericht ist bezogen auf die unentgeltliche Vertretung im Verwaltungsverfahren streng und verlangt weitere Umstände als die blosse Notwendigkeit des Einholens eines medizinischen Gutachtens, um die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung zu bejahen.43 Ein gestelltes Gesuch um unentgeltliche Vertretung muss von der zuständigen Behörde umgehend beurteilt werden, damit für die betreffende Person Klarheit über das finanzielle Verfahrensrisiko geschaffen wird.44
12. Beweislosigkeit im Verfahren
Das Bundesgericht gelangt in den letzten Jahren in verschiedenen Fällen zur Annahme einer Beweislosigkeit. Ausgangspunkt der entsprechenden Feststellung bildet der Untersuchungsgrundsatz; dieser wird durch die Mitwirkungspflichten der Parteien beschränkt. Zu diesen Mitwirkungspflichten zählt das Bundesgericht die Substanziierungspflicht. Der Grad der Substanziierung einer Behauptung beeinflusst dabei – im berufsvorsorgerechtlichen Klageverfahren – den erforderlichen Grad der Substanziierung einer Bestreitung dieser Behauptung.45
Dabei ist ergänzend zu bemerken, dass die hier vorgesehene Regelung des Konkubinats zudem nur Bedeutung hat, wenn die Vorsorgeeinrichtung im Reglement eine entsprechende Ordnung festlegt.
BGer 9C_255/2017 vom 26.9.2017.
BGer 9C_427/2016 vom 22.5.2017.
BGer 9C_250/2017
vom 30.10.2017 (Marketer), 8C_571/2017 vom 9.11.2017
(Taxifahrer),
9C_401/2017 vom 12.7.2017 (Massagetätigkeit im Hotel).
BGer 8C_409/2017 vom 21.3.2018.
BGer 8C_130/2017 vom 30.11.2017,
8C_841/2016 vom 30.11.2017.
BGer 9C_621/2017 vom 11.1.2018.
BGer 8C_552/2017 vom 18.1.2018.
BGer 8C_320/2017 vom 6.9.2017.
BGer 8C_379/2017 vom 8.9.2017 (Bedeutung Anwaltspatent), 9C_368/2017 vom 3.8.2017 (Karriere in Wirtschaftsrechtskanzlei).
BGer 9C_667/2017 vom 27.11.2017 (Grundsatz Parallelität Vergleichseinkommen als Ausgangsgrösse), 8C_2/2017 vom 16.8.2017 (unterdurchschnittliches bzw. überdurchschnittliches Valideneinkommen).
BGer 8C_462/2017 vom 30.1.2018.
Bildhaft BGer 9C_201/2017
vom 3.11.2017.
BGer 8C_429/2017 vom 20.12.2017.
BGer 9C_25/2018 vom 12.3.2018; vgl. auch 9C_133/2017 vom 7.3.2018.
BGer 9C_426/2017 vom 7.3.2018.
BGer 9C_871/2017 vom 15.1.2018.
BGer 9C_499/2017 vom 30.8.2017.
BGer 9C_612/2017 vom 27.12.2017.
BGer 9C_85/2017 vom 24.5.2017 (formelle Voraussetzungen); 9C_193/2017 vom 27.10.2017 (Umschreibung Leistungsvoraussetzungen im Reglement).
BGer 8C_656/2016 vom 2.8.2017 (Injektion von Kenacort).
BGer 8C_819/2016 vom 4.8.2017.
BGer 8C_325/2017 vom 26.10.2017; laut Bundesgericht handelt es sich beim Golfsport um eine Dauerbe-
lastung ohne risikoreiche Belastungs-
spitzen, weshalb eine UKS an sich nicht angenommen wird.
BGer 8C_155/2017 vom 22.5.2017 betreffend «grand jeté»; UKS bejaht.
BGer 8C_483/2017 vom 3.11.2017; American Football
zählt nach bundesgerichtlicher Auffassung zu den Geschehnissen mit gesteigertem Gefährdungspotenzial.
BGer 8C_73/2017 vom 6.7.2017.
BGer 8C_555/2016 vom 13.6.2017; heftiger Schlag mit der Hand
gegen die Wand als sinnlose Gewalteinwirkung taxiert.
BGer 8C_96/2017 vom 24.1.2018.
BGer 8C_333/2016 vom 14.6.2017.
BGer 9C_476/2017 vom 29.3.2018.
BGer 9C_264/2017 vom 18.12.2017; vgl. auch 9C_267/2017 sowie 9C_268/2017 vom 1.3.2018.
BGer 8C_ 260/2017 vom 1.12.2017.
BGer 8C_449/2017 vom 7.3.2018; das BGer verwarf den Einwand,
dass wegen des formellen Kriteriums des Alters des Gutachtens auf dasselbe nicht abgestellt werden könne.
BGer 8C_460/2017 vom 1.2.2018.
BGer 8C_466/2017 vom 9.11.2017 sowie 9C_531/2017 und 9C_532/2017 vom 15.9.2017.
BGer 8C_113/2017 vom 29.6.2017.
BGer 9C_328/2017 vom 9.11.2017 betreffend Observation im
öffentlichen Raum an insgesamt zehn Tagen. Vgl. auch 8C_570/2016 vom 8.11.2017 betreffend Interessenabwägung und Observation im Ausland.
Vgl. schliesslich 9C_806/2016 vom 14.7.2017 betreffend fehlende gesetzliche Grundlage in der IV.
Die nachstehenden Hinweise stellen eine Zusammenfassung des Beitrags von Ueli Kieser, HAVE 2/2018 (Teil «Forum») dar.
BGer 9C_896/2011 vom 31.1.2012.
Dazu grundlegend BGE 122 V 160 f.
BGE 125 V 352 ff.
SVR 2005 UV Nr. 9 (Obergericht des Kantons Uri).
BGer 9C_436/2017 sowie 9C_746/2017 vom 14.12.2017.
BGer 9C_423/2017 vom 10.7.2017.
BGer 9C_48/2017 vom 4.9.2017.