1. Gesetzgebung
1.1 Invalidenversicherung
Das Parlament ist wie seit jeher mit Revisionen von sozialversicherungsrechtlichen Gesetzen befasst. Besonders wichtig sind die Entwicklungen in der Invalidenversicherung (IV). Mit dem Geschäft 17.022 wurde die «Weiterentwicklung der IV» in Angriff genommen. Die bundesrätliche Gesetzesbotschaft liegt schon einige Zeit zurück,1 was zeigt, dass die parlamentarischen Beratungen schwierig und intensiv waren.
Die Revision betrifft viele Bestimmungen des Invalidenversicherungsgesetzes (IVG). Der Fokus ist auf Jugendliche und psychisch Kranke gerichtet. Bei diesen beiden Kategorien ist – anders als generell – die Zahl der Neurenten in der IV nach den letzten Reformen nicht gesunken. Das Parlament will vermeiden, dass Jugendliche zu IV-Rentnern werden. Das Ziel ist, früher einzugreifen und die Betroffenen besser zu begleiten. Jugendliche sollen der IV bereits gemeldet werden können, wenn der Eintritt ins Berufsleben gefährdet ist. Psychisch beeinträchtigte Personen können bereits erfasst werden, wenn sie zwar noch nicht arbeitsunfähig, aber von länger dauernder Arbeitsunfähigkeit bedroht sind.
1.1.1 Stufenlose Renten
Daneben wird für Rentner mit Invaliditätsgrad zwischen 40 und 69 Prozent ein stufenloses Rentensystem eingeführt. Dabei wird – wie im geltenden Recht – die Vollrente ab einem Invaliditätsgrad von 70 Prozent zugesprochen. Eine Kürzung der Kinderrenten lehnte das Parlament ab, und es bleibt auch bei der Bezeichnung als «Kinderrente»; die Verwendung der Begriffe «Zulage für Eltern» oder «Zusatzrente für Eltern» lehnte das Parlament nach intensiven Beratungen ab.
1.1.2 Revision ATSG
Wichtige Entwicklungen hat auch das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) erfahren. Hier sind mit der Revision vom 21. Juni 2019 viele Bestimmungen verändert worden; es geht insbesondere um die Verlängerung der Fristen für eine Rückforderung von zu Unrecht bezogenen Leistungen (Art. 25 ATSG), um die Möglichkeit der vorsorglichen Einstellung von Leistungen (Art. 52a ATSG), um die Kostenpflicht im kantonalen Gerichtsverfahren (Art. 61 ATSG) sowie um Anpassungen im Regressbereich (Art. 72–75 ATSG).2
1.1.3 Gutachten
Daneben ist im Zusammenhang mit der Vorlage 17.022 Art. 44 ATSG (Gutachten) neu gestaltet worden.3 Die neue Fassung von Art. 44 ATSG lässt unterschiedliche Entwicklungslinien erkennen. Der Ablauf der Gutachtensschritte bis zur Auftragserteilung wird gestrafft. Für die Äusserung zu den vorgesehenen Sachverständigen und zur Nennung von Zusatzfragen gelten kurze gesetzliche Fristen von zehn Tagen. Die Ablehnung der sachverständigen Person ist nur bei Ausstandsgründen nach Art. 36 Abs. 1 ATSG möglich. Die einzelnen Schritte der Begutachtung werden stärker in ein bestimmtes Konzept eingeordnet. So werden Kriterien für die Zulassung von Sachverständigen festgelegt. Die Zulassung als Gutachterstelle, das Verfahren zur Gutachtenerstellung und die Ergebnisse der medizinischen Gutachten werden von einer Kommission überwacht, welche auch öffentliche Empfehlungen aussprechen kann.
Im Ablauf der Begutachtung wird die Protokollierungspflicht eingeführt. Schliesslich nimmt Art. 44 ATSG bestimmte Entwicklungen in der Rechtsprechung auf. Erfasst ist die Art der Vergabe von Gutachten, wobei der Bundesrat für alle Arten von Gutachten die Art der Vergabe anordnet. Ferner wird ausdrücklich vorgesehen, dass bei der Ablehnung von Ausstandsgründen eine Zwischenverfügung zu erlassen ist. Insgesamt zeigt sich, dass Gutachten als Beweismittel im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren umfassender und zugleich detaillierter geregelt werden. Art. 44 ATSG wird die Begutachtung in wichtigen Teilbereichen neu ordnen.
1.2 AHV
Die Vorlage «AHV 21» will einerseits Massnahmen auf der Ausgabenseite umsetzen; hier geht es insbesondere um die Erhöhung des Rentenalters auf 65 Jahre für Frauen. Andererseits sollen Mehreinnahmen festgelegt werden; geplant ist eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ab dem Jahr 2022.4 Die parlamentarische Beratung der Vorlage setzt im Jahr 2020 ein.
1.3 Verordnungen Covid-19
Im März 2020 erliess der Bundesrat etliche Verordnungen, um den Auswirkungen der Covid-19-Erkrankungen entgegenzuwirken. Die wichtigsten sozialversicherungsrechtlichen Auswirkungen der betreffenden Erlasse finden sich nachfolgend mit Stand per 1. April 2020.
Ausgangspunkt bildet die bundesrätliche Verordnung 2 5 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19-Verordnung 2).6 Für das Verständnis dieser Verordnung wichtig sind die «Erläuterungen [des Bundesamts für Gesundheit] zur Verordnung 2 vom 13. März 2020 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19-Verordnung 2), Fassung vom 25. März 2020».7
Diese allgemeine Verordnung wird im Sozialversicherungsrecht durch verschiedene Verordnungen ergänzt. Es geht um folgende bundesrätliche Verordnungen:
Verordnung über Massnahmen bei Erwerbsausfall im Zusammenhang mit dem Coronavirus (Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall).8
Verordnung über Massnahmen im Bereich der Arbeitslosenversicherung im Zusammenhang mit dem Coronavirus (Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung) 9 inkl. Änderung vom 25. März 2020.10
Verordnung über Massnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus (Covid-19) zur Kurzarbeitsentschädigung und zur Abrechnung der Sozialversicherungsbeiträge.11
Verordnung über die Verwendung von Arbeitgeberbeitragsreserven für die Vergütung der Arbeitnehmerbeiträge an die berufliche Vorsorge im Zusammenhang mit dem Coronavirus (Covid-19-Verordnung berufliche Vorsorge).12
Hinzuweisen ist ferner auf folgende Erlasse:
Verordnung über die Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkungen des Coronavirus (Covid-19) im Kultursektor (Covid-Verordnung Kultur)13
Verordnung über den befristeten Verzicht auf Verzugszinsen bei verspäteter Zahlung von Steuern, Lenkungsabgaben und Zollabgaben sowie Verzicht aufdie Darlehensrückerstattung durch die Schweizerische Gesellschaft für Hotelkredit.14
Zentral für das Verständnis der allgemeinen sozialversicherungsrechtlichen Leistungsgrundsätze der Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall ist das Kreisschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die Entschädigung bei Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus – Corona-Erwerbsersatz (KS CE) (gültig ab 17. März 2020).15 In diesem 20-seitigen Kreisschreiben finden sich bezogen auf die Leistungsansprüche wichtige konkretisierende Regelungen.
In sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht ergeben sich Änderungen in zwei Richtungen: Zum einen wird eine besondere Erwerbsausfallentschädigung geschaffen; zum anderen wird der Zugang zu den arbeitslosenversicherungsrechtlichen Kurzarbeitsentschädigungen erheblich vereinfacht.
2. Invaliditätsgrad
Bei den beiden sozialrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts ist die Feststellung des (allfälligen) Invaliditätsgrads das am häufigsten strittige Thema. Die Rechtsprechung ist mittlerweile recht unübersichtlich und zeigt, dass die korrekte Bestimmung des Invaliditätsgrads anspruchsvoll ist.
2.1 Medizin und Recht
Ausgangspunkt der Festlegung des Invaliditätsgrads bildet die medizinische Erfassung allfälliger gesundheitlicher Einbussen. Massgebend ist, dass lege artis vorgegangen und die gesetzlichen Vorgaben und die Anforderungen der Rechtsprechung beachtet werden. Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung zur Massgeblichkeit ärztlicher Einschätzungen (wohl) abgeschlossen und hält in einem Grundsatzurteil fest, dass nur aus triftigen Gründen von normorientiert erfolgten medizinischen Schätzungen abzuweichen ist.16
2.2 Bemessungsmethode
Ist die medizinische Einschränkung bzw. medizinisch bestätigte Restarbeitsfähigkeit festgestellt, ist bei der Klärung des Rentenanspruchs die zutreffende Bemessungsmethode zu wählen. Dabei wird bei hypothetisch (d. h. ohne gesundheitliche Beeinträchtigung) teilerwerbstätigen Personen die Invalidität nach der gemischten Methode bestimmt.17 Bei der Anwendung der gemischten Methode müssen bezogen auf die hypothetische Erwerbstätigkeit die Vergleichseinkommen eruiert werden; dabei ist in Bezug auf das Validen- wie auf das Invalideneinkommen die Annahme einer Vollzeittätigkeit geboten.18 Wenn ein Einkommensvergleich nicht möglich ist, erfolgt ausnahmsweise ein erwerblich gewichteter Betätigungsvergleich; dies hat bei Selbständigerwerbenden eine bestimmte Bedeutung.19
2.3 Vergleichseinkommen
Ist der Invaliditätsgrad nach dem Einkommensvergleich im Sinne von Art. 16 ATSG zu ermitteln, sind die beiden Vergleichseinkommen, d.h. das Validen- und das Invalideneinkommen, zu bestimmen. Beim Valideneinkommen wird prinzipiell auf das vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung noch erzielte Einkommen abgestellt, wenn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass das betreffende Einkommen weiterhin erzielt worden wäre. Es kann sich auch um die Weiterführung eines nur während einer kürzeren Spanne erzielten Einkommens handeln.20
Bei der Bestimmung des Valideneinkommens ist also grundsätzlich davon auszugehen, dass die betreffende Person die zuvor ausgeübte Erwerbstätigkeit weiterhin ausgeübt hätte.21 Beim Invalideneinkommen wird überwiegend auf statistische Angaben abgestellt, weil die gesundheitlich beeinträchtigten Personen eher ausnahmsweise eine Erwerbstätigkeit finden, die es erlaubt, die Restarbeitsfähigkeit zumutbarerweise voll auszuschöpfen. Bei der Bestimmung des Invalideneinkommens wird nicht auf regionale bzw. kantonale Unterschiede in der Statistik abgestellt.22
Eine medizinisch bestätigte Restarbeitsfähigkeit ist prinzipiell auch wirtschaftlich umsetzbar, wobei allerdings die konkreten Umstände zu berücksichtigen sind; gegebenenfalls ist dann eine Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit nicht anzunehmen.23 Das effektive Lebensalter fällt bei der Bestimmung des Invalideneinkommens an sich ins Gewicht, wobei das Bundesgericht streng urteilt und davon ausgeht, dass sich ein fortgeschrittenes Alter im Bereich von Hilfsarbeiten nicht zwingend lohnsenkend auswirkt.24
2.4 Weitere Fragen
Wenn nach einem vorangegangenen langjährigen Bezug einer Invalidenrente eine Eingliederung möglich wird, geht es um die anspruchsvolle Frage, ob eine Selbsteingliederung im Vordergrund steht oder ob die IV-Stelle zur Gewährung von Eingliederungsmassnahmen verpflichtet ist.25 Während des Rentenbezugs erfolgt regelmässig eine Überprüfung der leistungsbestimmenden Faktoren, wobei nach Art. 17 ATSG gegebenenfalls eine Anpassung der Invalidenrente erfolgt. Dabei fallen Veränderungen des Gesundheitszustands, die bei der einstigen Rentenzusprache nicht berücksichtigt wurden, nicht ins Gewicht.26
3. Unfall, Kausalität
Was ein Unfall ist, wird in Art. 4 ATSG umschrieben. Die Abgrenzung zur unfallähnlichen Körperschädigung, Krankheit oder Berufskrankheit ist anspruchsvoll und oft Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen.
Ausgangspunkt bildet die Frage, ob eine gesundheitliche Beeinträchtigung aufgezeigt wird. Dies gilt beispielsweise für das CRPS,27 für eine vestibuläre Beeinträchtigung 28 oder für eine posttraumatische Belastungsstörung.29
3.1 Unfallereignis
Regelmässig hat das Bundesgericht zu klären, ob ein Unfallereignis anzunehmen ist. Schwierig zu beurteilen sind gesundheitliche Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit medizinischen Eingriffen (accident médical).30
Heikel einzuordnen sind auch Schreckereignisse; hier verlangt die Rechtsprechung, dass ein gewaltsamer, in der unmittelbaren Gegenwart der versicherten Person sich abspielender Vorfall die seelische Auswirkung ausgelöst hat.31
Das Bundesgericht muss sich mit unterschiedlichsten Abläufen befassen; so hatte es zu entscheiden, welcher Schallexpositionspegel bei einem Fussballspiel mit grosser Mengenansammlung noch gewöhnlich ist.32 Unter engen Voraussetzungen können schlechte Witterungsverhältnisse zur Annahme eines Unfallereignisses führen.33 Angenommen hat das Bundesgericht ein Unfallereignis, als sich die betreffende Person nach einem Sturz länger im heissen Wasser aufhielt.34
3.2 Abgrenzung Krankheit
Was die Abgrenzung des Unfalls zur Krankheit betrifft, hat das Bundesgericht die Schenkelhalsfraktur eingeordnet.35 Anspruchsvoll ist ferner die Einordnung der unfallähnlichen Körperschädigung. Massgebend bei der Abgrenzung ist das Begriffspaar Abnützung und Erkrankung.36
3.3 Kausalität
Oft hat das Bundesgericht auch Kausalitätsfragen zu klären, wobei es sowohl um den natürlichen wie auch um den adäquaten Kausalzusammenhang geht. Bei der Klärung des natürlichen Kausalzusammenhangs ist massgebend, ob eine bestimmte sich in den Akten befindliche ärztliche Stellungnahme überzeugender ist als eine andere.37
Bei der Prüfung des adäquaten Kausalzusammenhangs ist die Schwere des erlittenen Unfalles massgebend.38 Mit der Adäquanzprüfung verfolgt das Bundesgericht das Ziel einer Haftungsbegrenzung.39 Anwendungsbeispiel für eine Prüfung sowohl des natürlichen wie auch des adäquaten Kausalzusammenhangs bildet die gesundheitliche Beeinträchtigung, welche zeitlich nach einem Zeckenbiss auftrat.40
4. Gutachten
Gutachten haben bei der Beurteilung von Rentenansprüchen grosse Bedeutung. Das Bundesgericht hat in jüngster Vergangenheit wichtige Teilfragen konkretisiert.
4.1 Einordnung
Das Gutachten ist vom Arztbericht abzugrenzen; dabei muss der Behandlungsauftrag der therapeutisch tätigen (Fach-)Person vom Begutachtungsauftrag der fachmedizinischen Person abgegrenzt werden.41 Eine Abgrenzung ist sodann notwendig zwischen Administrativgutachten und Gerichtsgutachten. Administrativgutachten sind prinzipiell verbindlich, sofern nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen.42 Wird trotzdem ein Gerichtsgutachten eingeholt, kann der Vorwurf einer unzulässigen Second Opinion massgebend werden. Notwendig ist ferner – insbesondere im zivilprozessualen Verfahren – die Abgrenzung zum Privatgutachten.43
4.2 Erstellung
Recht viele Gutachten werden als polydisziplinäre Gutachten erstellt. Hier stellt es eine spezifisch medizinische Problematik und Einschätzung dar, ob sich die einzelnen, aus mehreren Behinderungen resultierenden Einschränkungsgrade summieren und gegebenenfalls in welchem Mass; davon rückt das Gericht grundsätzlich nicht ab.44 Zentral ist bei der Erstellung und Würdigung des Gutachtens die Abgrenzung der Tätigkeit einer allfälligen Hilfsperson von jener der sachverständigen Person. Keine Hilfstätigkeit liegt vor, wenn die betreffende Person die Anamnese erhebt sowie das medizinische Dossier analysiert und zusammenfasst oder den Text auf Schlüssigkeit der Folgerungen überprüft; damit muss die als sachverständige Person bezeichnete Gutachterin diese Tätigkeit selber ausüben.45
4.3 Unabhängigkeit
Zentral ist auch die Frage nach der Unabhängigkeit der sachverständigen Person. Für sie gelten grundsätzlich die gleichen Ausstands- und Ablehnungsgründe wie für Richter. Auch wenn einseitige Kontaktnahmen nur organisatorische Fragen der Begutachtung betreffen, finden sie in Abwesenheit der Partei statt und entziehen sich deren Kontrolle, was begründetes Misstrauen in die Unparteilichkeit der sachverständigen Person weckt.46 Dass die sachverständige Person vom Versicherungsträger regelmässig beigezogen wird, stellt kein die Unabhängigkeit betreffendes Kriterium dar.47
4.4 Würdigung
Bei der Würdigung von Gutachten ist eine freie Beweiswürdigung massgebend, wenn zu überprüfen ist, ob sich die Sachverständigen an die massgebenden normativen Rahmenbedingungen gehalten haben und ob und in welchem Umfang die ärztliche Feststellung anhand der rechtserheblichen Indikatoren auf Arbeitsunfähigkeit schliessen lassen.48 Eine Parallelbeurteilung bei medizinischen Festlegungen durch das Gericht bzw. den Versicherungsträger ist nur zulässig, wenn bei einer normorientiert erfolgten medizinischen Schätzung triftige Gründe vorliegen, um von ihr abzuweichen.49
5. AHV
5.1 Erwerb, Nichterwerb
In der AHV richtet sich die Beitragspflicht insbesondere danach, ob die betreffende (unterstellte) Person erwerbstätig oder nichterwerbstätig ist. Bei Annahme einer Erwerbstätigkeit ist in der Folge abzugrenzen zwischen selbständiger und unselbständiger Erwerbstätigkeit. Dabei bildet bei nichterwerbstätigen Personen das Kriterium des Wohnsitzes in der Schweiz das massgebende Unterstellungskriterium.50 Anspruchsvoll und oft umstritten ist die Abgrenzung zwischen Erwerbstätigkeit und Verwaltung des eigenen Privatvermögens.51 Hier ist besonders oft die Abgrenzung zwischen Lohn und Dividende zu beurteilen.52 Bei den nichterwerbstätigen Personen richtet sich die Höhe des AHV-Beitrags nach Vermögen und Renteneinkommen.53
5.2 (Un-)Selbständigkeit
Bei der Abgrenzung der selbständigen von der unselbständigen Erwerbstätigkeit befasste sich das Bundesgericht mit der Einordnung der konsultativen Tätigkeit für eine Bundesbehörde.54 Was die Höhe des Einkommens aus selbständiger Erwerbstätigkeit betrifft, besteht eine Bindung an die Steuermeldung.55 Eine singuläre Auseinandersetzung des Bundesgerichts betraf die Einordnung des Lernvikariates im (reformierten) Pfarrdienst.56 Gelegentlich hat das Bundesgericht die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers nach Art. 52 AHVG zu beurteilen; es ging um den Einbezug von materiellen Organen der Arbeitgeberin,57 um die verantwortungsrechtliche Entlastung durch das Einschiessen von weiteren Mitteln58 und um die allfällige Mitverantwortung der AHV-Ausgleichskasse durch Gewährung von Zahlungsaufschüben.59 Soweit im Leistungsbereich der AHV der Ausbildungsbegriff massgebend ist, ist zu beachten, dass das Erzielen eines bestimmten Einkommens aus einer neben der Ausbildung ausgeübten Tätigkeit die Annahme einer Ausbildung ausschliesst.60
6. Invalidenversicherung
Neben den erläuterten, weit im Vordergrund stehenden Urteilen zur Invalidität ist auf die jeweils zentrale Problematik bei der IV hinzuweisen, ob Betroffene ohne die gesundheitliche Einbusse voll, teilweise oder nicht erwerbstätig wären.61 Wenn nach langjährigem Rentenbezug eine Selbsteingliederung zu prüfen ist, kann sich die Unzumutbarkeit einer solchen Eingliederung ergeben.62 Allemal ist im Bereich der IV die Schadenminderungspflicht zu beachten, wobei das Bundesgericht strenge Anforderungen stellt, wenn eine erhöhte Inanspruchnahme der IV in Frage steht.63 Sorgfältig zu klären ist, ob eine rückwirkend gewährte IV-Rente an eine Taggeldversicherung drittausbezahlt werden kann.64
7. Ergänzungsleistungen
Ergänzungsrechtliche Auseinandersetzungen drehen sich oft um eine Verzichtshandlung. In einem konkreten Fall hielt das Bundesgericht fest, dass der Ehepartner zu 50 Prozent berufstätig sein kann, auch wenn der andere Ehepartner gesundheitlich beeinträchtigt ist und Kinder vorhanden sind.65 Die Gewährung eines Darlehens innerhalb der Familie bedarf einer sorgfältigen Prüfung der Bonität des Empfängers.66 Regelmässig geht es zudem um die Frage, ob Ehepartner gehalten sind, ein Einkommen zu erzielen.67
8. Berufliche Vorsorge
Bei der Finanzierung der beruflichen Vorsorge bilden Arbeitgeberbeitragsreserven einen zuweilen wichtigen Bestandteil. Beim Vorsorgeausgleich im Rahmen einer Scheidung sind solche Reserven gleich zu behandeln wie freie Mittel der Vorsorgeeinrichtung, das heisst, sie sind nicht in die zu teilende Austrittsleistung einzubeziehen.68 Der Verzugszins kann in der beruflichen Vorsorge durch das Reglement festgelegt werden; besteht eine anderslautende Regelung, ist nicht ein Verzugszins von fünf Prozent geschuldet.69 Bei einer strittigen Teilliquidation befasste sich das Bundesgericht damit, wie Wertschwankungsreserven zu behandeln sind.70
8.1 Invalidenrenten
In den allermeisten Fällen hat das Bundesgericht zu klären, ob eine Vorsorgeeinrichtung für eine Invalidenrente aufkommen muss.71 Dabei kann die Vorsorgeeinrichtung auch auf das Vorliegen einer Berufsinvalidität abstellen.72
Bei der Bestimmung der zuständigen Vorsorgeeinrichtung ist massgebend, wann die in der Folge zu einer Invalidität führende Arbeitsunfähigkeit erstmals aufgetreten ist. Dabei reicht eine Pensumsreduktion in der Regel für den Nachweis einer funktionellen Leistungseinbusse aus.73
8.2 Tod
Beim Risiko Tod fällt die Begünstigungsregelung nach Art. 20a BVG ins Gewicht; hier ist regelmässig von zentraler Bedeutung, dass viele Reglemente verlangen, dass die Begünstigtenerklärung der Vorsorgeeinrichtung schon zu Lebzeiten eingereicht wurde.74
9. Obligatorische Krankenversicherung
Obschon die Krankenversicherer unter den Sozialversicherungsträgern mit Abstand am meisten Entscheide treffen, befasst sich das Bundesgericht eher selten mit krankenversicherungsrechtlichen Auseinandersetzungen. In einem Grundsatzurteil ging es um die Frage der Auslandbehandlung zulasten der Krankenversicherung.75 Die Rückforderung bei unwirtschaftlicher Behandlung nach Art. 56 KVG hat recht grosse Bedeutung. Das Bundesgericht befasste sich mit der Frage, gestützt auf welche statistische Methode eine Unwirtschaftlichkeit aufgezeigt werden kann.76
Ansprüche auf ein Krankentaggeld werden häufiger gestützt auf das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) geltend gemacht; die Krankentaggeldversicherung der sozialen Krankenversicherung hat keine praktische Bedeutung.77
10. Obligatorische Unfallversicherung
Bei der Unfallversicherung stehen Urteile zum erläuterten Unfallereignis und zur Kausalität im Vordergrund. Hinzu kommt die zuweilen strittige Frage, ob ein Betrieb der Suva unterstellt ist.78 Recht oft sind Auseinandersetzungen über das Vorliegen einer Körperschädigung nach Art. 6 Abs. 2 UVG (unfallähnliche Körperschädigung) zu beurteilen.79
11. Arbeitslosenversicherung
Bei der Einordnung von arbeitgeberähnlichen Personen in der Arbeitslosenversicherung geht es um die durchaus praxisrelevante Frage, ob bestimmte Arbeitnehmende wegen ihrer arbeitgeberähnlichen Stellung keinen Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung erhalten.80 Zuweilen hat die Arbeitslosenversicherung gegenüber der IV eine Vorleistungspflicht. Das Bundesgericht klärte, in welchem Zeitpunkt diese Vorleistungspflicht endet.81
12. Verfahren
Einzelne Fragen: Nach wie vor starkes Gewicht hat nach bundesgerichtlicher Auffassung die Aussage der ersten Stunde; werden später davon abweichende Angaben gemacht, bleiben diese unbeachtlich.82 Die Versicherungsträgerin hat die versicherten Personen nach Art. 27 Abs. 2 ATSG zu beraten; dazu gehört, die versicherte Person darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Verhalten den Leistungsanspruch gefährden kann.83 In einzelnen kantonalen Versicherungsgerichten wirken Fachrichter mit, was das Bundesgericht als nicht unproblematisch bezeichnet.84
12.1 Fristen
Rasches Handeln ist nach bundesgerichtlicher Auffassung bei einer Ausstandsproblematik geboten. Der Grund ist unverzüglich, d.h. binnen maximal sechs bis sieben Tagen, geltend zu machen.85 Heikle Fragen wirft die Fristwahrung auf, wenn die Zustellung des anzufechtenden Entscheids mit A-Post Plus erfolgte.86 Gegebenenfalls kann es zulässig sein, bei bestehender Aktenunkenntnis am letzten Tag der Rechtsmittelfrist vorsorglich eine unbegründete Beschwerde einzureichen.87
12.2 Kosten, Entschädigung
Im Verwaltungsverfahren besteht nur unter recht strengen Voraussetzungen Anspruch auf eine unentgeltliche Vertretung.88 Wird im kantonalen Gerichtsverfahren eine Kostennote eingereicht, muss das Gericht eine Abweichung davon begründen, weil andernfalls der Gehörsanspruch verletzt ist.89 Anspruch auf die Parteientschädigung kann ausnahmsweise auch beim Unterliegen der Partei bestehen, wenn der Versicherungsträger im Laufe des Gerichtsverfahrens eine Gehörsverletzung zu verantworten hat.90
BBl 2017 2535 ff.
Voraussichtlicher Zeitpunkt Inkrafttreten (frühestens) 1.1.2021.
Inkrafttreten noch offen, aber wohl frühestens 1.1.2022.
Zur bundesrätlichen Gesetzesbotschaft vgl. BBl 2019 6305 ff.
Diese Verordnung ersetzte die vorangehende Verordnung vom 28.2.2020 über Massnahmen
zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19).
Covid-19-Verordnung 2 vom 13.3.2020; SR 818.101.24. Die Verordnung ist in der Folge abgeändert worden: Vgl. Änderungen vom 20.3.2020, AS 2020 841, 863, 869.
Greifbar unter www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/novel-cov/massnahmen-des-bundes.html#1310036670 (30.3.2020).
Covid-19-Verordnung Erwerbsausfall vom 20.3.2020, SR 830.31, AS 2020 871.
Covid-19-Verordnung Arbeitslosenversicherung vom 20.3.2020, SR 837.033, AS 2020 877.
Dazu AS 2020 1075.
Verordnung über Massnahmen im Zusammenhang mit dem Coronavirus (Covid-19) zur Kurzarbeitsentschädigung und zur Abrechnung der Sozialversicherungsbeiträge vom 20.3.2020, SR 831.101, AS 2020 875.
Covid-19-Verordnung berufliche Vorsorge vom 20.3.2020, SR 831.471, AS 2020 1073.
Covid-Verordnung Kultur vom 20.3.2020, SR 442.15, AS 2020 855.
Verordnung über den befristeten Verzicht auf Verzugszinsen bei verspäteter Zahlung von Steuern, Lenkungsabgaben und Zollabgaben sowie Verzicht auf die Darlehensrückerstattung durch die Schweizerische Gesellschaft für Hotelkredit vom 20.3.2020, SR 641.207.2, AS 2020 861.
Vgl. sozialversicherungen.admin.ch/de/d/12721/download (31.3.2020).
BGer 9C_808/2018 vom 2.12.2019.
Dazu Art. 27bis Abs. 2 IVV.
BGer 8C_445/2019 vom 12.11.2019.
Anwendungsbeispiel: BGer 8C_208/2019 vom 26.11.2019.
BGer 9C_239/2019 vom 5.9.2019.
Anwendungsfall: BGer 8C_630/2019 vom 14.1.2020; Stellenverlust wegen Alkoholismus.
BGer 9C_535/2019 vom 31.10.2019.
Beispiel: BGer 9C_644/2019 vom 20.1.2020.
BGer 8C_ 378/2019 vom 18.12.2019, E. 7.2.1.
Dazu BGer 8C_235/2019 vom 20.1.2020.
BGer 9C_357/2019 vom 17.12.2019, E. 5.
Dazu BGer 8C_27/2019 vom 20.8.2019; massgebend ist, ob anhand echtzeitlich erhobener Befunde der Schluss gezogen werden kann, die betroffene Person habe innerhalb der Latenzzeit von sechs bis acht Wochen nach dem Unfall zumindest teilweise an den typischen Symptomen gelitten (E. 6.4).
BGer 8C_591/2018 vom 29.1.2020; die vestibuläre Beeinträchtigung kann medizinisch objektiviert werden (E. 6.2).
BGer 8C_830/2018 vom 24.4.2019, wonach die posttraumatische Belastungsstörung eine aussergewöhnliche Bedrohung oder ein katastrophenartiges Ausmass des Ereignisses in sich schliesst. Vgl. dazu auch BGer 9C_548/2019 vom 16.1.2020.
BGer 8C_235/2018 vom 16.4.2019.
BGer 8C_600/2019 vom 8.11.2019.
Streng diesbezüglich BGer 8C_545/2019 vom 14.11.2019,
E. 10.4.
BGer 8C_268/2019 vom 2.7.2019; Unfallereignis bei Tod in Island verneint.
BGer 8C_842/2018 vom 6.5.2019.
BGer 8C_351/2019 vom 17.9.2019.
BGer 8C_22/2019 vom 24.9.2019.
BGer 8C_93/2019 vom 23.8.2019, E. 4.2.
BGer 8C_212/2019 vom 21.8.2019, bezogen auf die Frage, ob bei Familienangehörigen, die im Fahrzeug sitzen, besonders eindrückliche Begleitumstände vorliegen (E. 4.3.3).
BGer 8C_261/2019 vom 8.7.2019, E. 4.3.1.
BGer 8C_835/2018 vom 23.4.2019.
BGer 8C_835/2018 vom 23.4.2019.
BGer 8C_776/2018 vom 9.5.2019.
Dazu BGer 4A_66/2018 vom 15.5.2019.
BGer 9C_461/2019 vom 22.11.2019.
BGer 9C_413/2019 vom 4.12.2019.
BGer 8C_62/2019 vom 9.8.2019, E. 6.2.1.
BGer 9C_824/2019 vom 14.1.2020, E. 3.1, 3.2.
BGer 8C_703/2018 vom 13.6.2019, E. 3.2.2.2.
BGer 9C_808/2018 vom 2.12.2019, E. 4.3.
BGer 9C_295/2019 vom 18.6.2019.
BGer 9C_240/2019 vom 18.6.2019.
Illustrativ BGer 9C_248/2019 vom 22.8.2019.
BGer 9C_960/2019 vom 20.8.2019.
BGer 9C_64/2019 vom 25.4.2019.
BGer 9C_543/2019 vom 20.1.2020. In einem besonders gelagerten Fall nahm das Bundesgericht eine krass willkürliche und damit nichtige Steuerveranlagung an; BGer 9C_329/2019 vom 17.10.2019.
BGer 9C_494/2019 vom 16.9.2019; danach haben die Arbeitsleistungen eines Lernvikars oder einer Lernvikarin einen wirtschaftlichen Wert (E. 5.5.2), was der in einem Pfarrhaushalt aufgewachsene Schreibende freilich in völlig anderer Erinnerung hat.
BGer 9C_275/2019 vom 6.11.2019.
BGer 9C_98/2019 vom 21.8.2019.
BGer 9C_37/2019 vom 1.7.2019.
Art. 49bis Abs. 3 AHVV sowie BGer 9C_732/2019 vom 9.12.2019.
BGer 9C_161/2019 vom 28.6.2019 mit Hinweisen auf die Kriterien zur Klärung der Frage.
BGer 8C_235/2019 vom 20.1.2020.
BGer 9C_155/2019 vom 24.6.2019 betreffend psychiatrische Behandlung.
Verneinung dieser Frage wegen einer fehlenden Regelung in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen in BGer 8C_215/2019 vom 24.10.2019.
BGer 9C_197/2019 vom 21.11.2019.
Verzichtsverhandlung angenommen in BGer 9C_467/2019 vom 4.11.2019.
BGer 9C_653/2018 vom 26.7.2019.
BGer 5A_130/2019 vom 11.12.2019.
BGer 9C_214/2019 vom 12.12.2019.
BGer 9C_249/2019 vom 20.1.2020.
Illustrativ dazu BGer 9C_515/2019 vom 22.10.2019 betreffend Multiple Sklerose als Schubkrankheit.
BGer 9C_866/2018 vom 11.6.2019.
BGer 9C_83/2019 vom 16.5.2019.
BGer 9C_495/2019 vom 31.10.2019.
BGer 9C_264/2018 vom 8.5.2019 betreffend Phalloplastik.
BGer 9C_259/2019 und 9C_260/2019 vom 29.8.2019 sowie BGer 9C_558/2018 und 9C_559/2018 vom 12.4.2019.
BGer 4A_66/2018 vom 15.5.2019, bezogen auf Würdigung von medizinischen Unterlagen.
BGer 8C_406/2019 vom 17.12.2019 betreffend Abgrenzung des gegliederten vom ungegliederten Betrieb (E. 3.3).
BGer 8C_267/2019 vom 30.10.2019.
BGer 8C_433/2019 vom 20.12.2019 mit differenzierender Betrachtung von Personen mit finanzieller Beteiligung an einer Aktiengesellschaft.
BGer 8C_537/2019 vom 24.10.2019.
BGer 8C_225/2019 vom 20.8.2019, E. 3.3.
BGer 8C_127/2019 vom 5.8.2019, E. 4.2.
BGer 8C_376/2019 vom 6.11.2019.
BGer 8C_41/2019 vom 9.5.2019 – ein weit zu strenges Erfordernis.
Illustrativ dazu BGer 8C_179/2019 vom 11.4.2019.
BGer 9C_152/2019 vom 6.5.2019. Freilich läge es näher, eine mindestens summarisch begründete Beschwerde einzureichen und einen doppelten Schriftenwechsel durchzuführen, um nach Zugang der Akten weitere Begründungselemente vorzubringen.
Bejahung des Anspruchs in BGer 9C_786/2019 vom 20.12.2019.
BGer 9C_363/2019 vom 7.10.2019, E. 4.1.
BGer 9C_162/2019 und 9C_191/2019 vom 29.5.2019, E. 5.4.4.