Das Bundesgericht hatte in jüngerer Zeit Gelegenheit, sich in je einem Urteil zur sogenannten arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit in der Krankentaggeldversicherung nach Krankenversicherungsgesetz (KVG) und nach Versicherungsvertragsgesetz (VVG) zu äussern.2 Dies soll zum Anlass genommen werden, ausgewählte Aspekte der beiden Krankentaggeldversicherungen aus zwei gänzlich unterschiedlichen Rechtsgebieten – dem Sozialversicherungs- und dem Zivilrecht3 – näher zu untersuchen, Parallelen und Unterschiede aufzuzeigen und auf die anstehende gesetzliche Revision einzugehen.
Bei der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit ist die versicherte Person lediglich in Bezug auf eine konkrete Arbeitsstelle arbeitsunfähig, meistens aufgrund einer psychischen Belastungssituation. Eine generelle Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Beruf, zum Beispiel bei einem anderen Arbeitgeber, liegt nicht vor.
In seinen beiden Urteilen gelangte das Bundesgericht zum Schluss, dass eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit Ansprüche auf Krankentaggeldleistungen begründe. Eine generelle Berücksichtigung der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit im Sozialversicherungsrecht ausserhalb des Bereichs der Taggelder nach KVG und UVG, etwa im Rahmen des Wartejahrs in der Invalidenversicherung nach Artikel 28 Absatz 1 litera b IVG, ist jedoch aufgrund der Nichtberücksichtigung psychosozialer Belastungsfaktoren als invaliditätsfremder Faktoren zu verneinen.4
1. Krankentaggeld nach KVG
Im vom Bundesgericht beurteilten KVG-Fall war ein Baupolier krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Der psychiatrische Gutachter diagnostizierte eine leichtgradige depressive Episode und bescheinigte eine Arbeitsunfähigkeit von 20 Prozent in angestammter Tätigkeit. Wegen eines erheblichen Konflikts am Arbeitsplatz wurde jedoch von einer Rückkehr an den Arbeitsplatz abgeraten, da sich die ängstlich-depressive Symptomatik sonst akzentuieren könnte. Die Krankentaggeldversicherung stellte daraufhin die Taggeldleistungen ein.5
Bemerkenswert ist dieses Urteil unter anderem, weil das Bundesgericht hier zwei Arbeitsunfähigkeitsvarianten aufzeigte, die sich aus dem Gesetzeswortlaut nicht ergeben. Ausgehend von der gesetzlichen Definition der Arbeitsunfähigkeit in Artikel 6 ATSG führte es aus, dass im Zusammenhang mit der arbeitsplatzbezogenen Arbeitsunfähigkeit Artikel 6 Satz 2 ATSG über den eigentlichen Wortlaut hinaus anzuwenden sei.
Bei langer Dauer der Arbeitsunfähigkeit sei nicht nur auf die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf, sondern auch auf eine andere Tätigkeit im gleichen Beruf, vorliegend als Baupolier, bei einem anderen Arbeitgeber abzustellen.6 Zudem sei nicht nur arbeitsunfähig, wer die bisherige Tätigkeit gesundheitsbedingt nicht mehr ausüben könne, sondern auch, wer diese Arbeit nur unter der Gefahr, seinen Gesundheitszustand zu verschlimmern, weiter verrichten könne.7
Bei Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Beruf oder an der bisherigen Arbeitsstelle (bei arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit) ist die versicherte Person verpflichtet, im Rahmen der ihr obliegenden Schadenminderungspflicht einen anderen Beruf oder eine andere Arbeitsstelle zu suchen. Unterlässt sie dies, so kann die Krankentaggeldversicherung ihre Taggeldleistungen einstellen. Sie muss dabei aber gewisse, von der Rechtsprechung definierte formelle Voraussetzungen beachten, die das Bundesgericht in diesem Urteil exemplarisch aufzeigte.
Dazu gehören die schriftliche Aufforderung durch den Krankentaggeldversicherer zum schadenmindernden Tätigkeitswechsel, die Einräumung einer Anpassungsfrist von in der Regel drei bis fünf Monaten und die Beurteilung der Realisierbarkeit der schadenmindernden Vorkehr anhand der tatsächlichen arbeitsmarktlichen Verhältnisse und nicht nach dem Massstab eines fiktiven ausgeglichenen Arbeitsmarktes im Sinne von Artikel 7 Absatz 1 ATSG. Diese Beurteilung hat grundsätzlich nach den Verhältnissen bei Ablauf der Anpassungsfrist zu erfolgen.8
Ein interessanter Aspekt, der im Bundesgerichtsurteil nicht, wohl aber im vorinstanzlichen Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau thematisiert wurde, betrifft das Vorliegen eines versicherungsexternen Gutachtens, dem lediglich der Beweiswert einer versicherungsinternen medizinischen Stellungnahme zukam.9 Hierauf wird nachfolgend im Abschnitt zu den Beweiswürdigungsrichtlinien im Sozialversicherungsrecht näher eingegangen.
2. Krankentaggeld nach VVG
Im Bereich der Krankentaggeldversicherung nach VVG gibt es keine gesetzliche Definition des Begriffs der Arbeitsunfähigkeit. Eine solche findet sich meist in den allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) der Krankentaggeldversicherer. In der Praxis werden dabei oft ähnliche Definitionen wie in Artikel 6 ATSG verwendet.10
Im vom Bundesgericht beurteilten Fall wurde einem Versicherten vom 14. Juni bis zum 30. November 2019 in einem Arztzeugnis eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Der Krankentaggeldversicherer stellte seine Zahlungen jedoch per 1. September 2019 ein, da er die Arbeitsunfähigkeit als rein arbeitsplatzbezogen und nicht medizinisch begründet ansah.11
Die kantonale Vorinstanz entschied, dass gemäss Versicherungsvertrag auch eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit als krankheitsbedingt gelte, sofern sie auf einer gesundheitlichen Einschränkung beruhe.12 Das Bundesgericht schützte diese Auffassung als nicht geradezu willkürlich.13 Dies könnte dazu führen, dass die Krankentaggeldversicherer in ihren AVB künftig die arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit explizit ausschliessen werden.14
Die Arbeitsunfähigkeit wurde in diesem Fall in einem unbegründeten Arztzeugnis bescheinigt, ohne dass die konkrete Diagnose oder die vorliegende Erkrankung bekannt waren. Dies wirft die Frage auf, wie unter solchen Bedingungen eine Leistungszusprache möglich war.15 Nachfolgend ist daher auch zu untersuchen, wie Arbeitsunfähigkeit bei der Taggeldversicherung nach VVG in der Praxis nachgewiesen wird.
3. Nachweis der Arbeitsunfähigkeit
Bei der Krankentaggeldversicherung nach KVG und derjenigen nach VVG lassen sich beim Nachweis der Arbeitsunfähigkeit sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede feststellen. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede ergeben sich nicht direkt aus den Unterschieden zwischen KVG und VVG, sondern beruhen allgemein auf den Unterschieden zwischen dem Sozialversicherungs- und dem Zivilprozessrecht. Sie werden allerdings bei den Krankentaggeldversicherungen besonders augenfällig.
Zur Abklärung der Arbeitsunfähigkeit sind ärztliche Berichte erforderlich. Sowohl im Sozialversicherungsrecht (Krankentaggeldversicherung nach KVG) als auch im Zivilprozessrecht (Krankentaggeldversicherung nach VVG) gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung.16 Für die Beurteilung der inhaltlichen Beweiskraft von ärztlichen Berichten im Rahmen der pflichtgemässen Beweiswürdigung hat sowohl die zivilrechtliche als auch die sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung massgebende Kriterien definiert.
Zivilrechtlich sind die massgebenden Kriterien für die Beweiswürdigung die Vollständigkeit, die Nachvollziehbarkeit und die Schlüssigkeit des Gutachtens.17 Die sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung ist hier detaillierter. Hinsichtlich des Beweiswerts eines Arztberichts ist entscheidend, ob dieser «für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind».18
Die zivilrechtliche Rechtsprechung wiederum verweist auf diese sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung.19 Diese ist als Konkretisierung der Kriterien der Vollständigkeit, Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit auch im Zivilprozess als Leitlinie für die Würdigung medizinischer Gutachten zu beachten.20 Je mehr dieser Kriterien und je besser diese erfüllt sind, desto höher ist der Beweiswert eines ärztlichen Berichts aus inhaltlicher Sicht.
Neben diesen inhaltlichen Kriterien haben sich im Sozialversicherungsrecht formelle Richtlinien für die Beweiswürdigung der verschiedenen Arten von ärztlichen Stellungnahmen entwickelt, aus denen sich eine Hierarchie der Beweismittel ergibt.
Es handelt sich dabei nicht um förmliche Beweisregeln,21 sondern lediglich um Richtlinien.22 Im Zivilprozessrecht besteht sodann ein Numerus clausus an Beweismitteln. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung bezieht sich im Zivilprozess ausschliesslich auf diese zugelassenen Beweismittel.23
3.1 Beweiswürdigung im Sozialversicherungsrecht
Der höchste Beweiswert kommt in formeller Hinsicht im Sozialversicherungsrecht den von kantonalen Sozialversicherungsgerichten eingeholten Gerichtsgutachten zu. Gemäss der Rechtsprechung weicht das Gericht bei Gerichtsgutachten «nicht ohne zwingende Gründe» von der Einschätzung des medizinischen Experten ab.24 In der Praxis sind derartige Gerichtsgutachten jedoch relativ selten. Etwas häufiger gibt es sie, seit das Bundesgericht im Jahr 2011 in einem Grundsatzurteil die Voraussetzungen zur Einholung von Gerichtsgutachten durch kantonale Sozialversicherungsgerichte präzisierte.25
An zweiter Stelle im Hinblick auf den Beweiswert folgen verwaltungsexterne medizinische Gutachten, welche unter Wahrung der Mitwirkungs- und Parteirechte der versicherten Person von den Sozialversicherungsträgern nach den Vorgaben von Artikel 44 ATSG (sowie den Anforderungen in Artikel 72bis IVV für bi- und polydisziplinäre Gutachten im Bereich der Invalidenversicherung) eingeholt wurden. Solchen Gutachten ist «voller Beweiswert» zuzuerkennen, solange «nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit» der Expertise sprechen.26 Diesen Gutachten kommt bei Abklärungen im Leistungsbereich der Sozialversicherung zentrale Bedeutung zu.27
Auch im Anwendungsbereich der Krankentaggeldversicherung nach KVG werden zuweilen verwaltungsexterne Gutachten eingeholt, jedoch zeigt die Erfahrung aus der Praxis, dass hier oft die Vorgaben von Artikel 44 ATSG nicht eingehalten werden.28 Dies hat zur Konsequenz, dass solchen externen Gutachten regelmässig – wie auch im eingangs erwähnten KVG-Fall des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau – formell lediglich der Beweiswert verwaltungsinterner ärztlicher Stellungnahmen zukommt.29
Hierarchisch unterhalb der verwaltungsexternen Gutachten finden sich in formell-beweisrechtlicher Hinsicht sodann Parteigutachten, Beurteilungen durch versicherungsinterne Ärzte sowie Berichte von Hausärzten und behandelnden (Fach-)Ärzten.30
Ein Parteigutachten ist ein medizinisches Gutachten, das von einer versicherten Person bei einem Arzt in Auftrag gegeben wurde. Einem solchen Gutachten kommt nach der Rechtsprechung, wie dargelegt, nicht der gleiche Rang zu wie einem vom Gericht oder von einem Sozialversicherer nach dem vorgegebenen Verfahrensrecht eingeholten Gutachten.
Es verpflichtet indessen – wie jede substanziiert vorgetragene Einwendung gegen ein solches Gutachten – den Richter, den von der Rechtsprechung aufgestellten Richtlinien für die Beweiswürdigung folgend, zu prüfen, ob es in rechtserheblichen Fragen die Auffassungen und Schlussfolgerungen des vom Gericht oder vom Sozialversicherer förmlich bestellten Gutachters derart zu erschüttern vermag, dass davon abzuweichen ist.31
Auch Berichten versicherungsinterner Ärzte kann Beweiswert zukommen. Beratende Ärzte oder Vertrauensärzte eines Versicherungsträgers sind dabei, was den Beweiswert ihrer ärztlichen Beurteilung angeht, versicherungsinternen Ärzten gleichgestellt.32 An die Beweiswürdigung sind hier allerdings strenge Anforderungen zu stellen. Bestehen «auch nur geringe Zweifel» an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der versicherungsinternen ärztlichen Feststellungen, so sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen.33
Berichte von Hausärzten und behandelnden Fachärzten verfolgen nicht den Zweck einer objektiven Beurteilung des Gesundheitszustands, die einen abschliessenden Entscheid über die Versicherungsansprüche erlaubt. Es gilt sodann die Erfahrungstatsache, dass Hausärzte mitunter im Hinblick auf ihre auftragsrechtliche Vertrauensstellung im Zweifelsfall eher zugunsten ihrer Patienten aussagen. Im Streitfall wird daher eine direkte Leistungszusprache einzig gestützt auf die Angaben der behandelnden Ärzte denn auch kaum je in Frage kommen.34
Diese bundesgerichtliche Rechtsprechung betrifft in erster Linie die sozialversicherungsrechtlichen Dauerleistungen wie Invalidenrenten, die mit weitreichenden finanziellen Konsequenzen verbunden sind. Bei Taggeldleistungen hingegen, welche insbesondere im Kontext der Krankentaggeldversicherung häufig Gegenstand von rechtlichen Auseinandersetzungen sind, ist eine direkte Leistungszusprache gestützt auf hausärztliche Berichte in der Praxis durchaus üblich.
Gleiches gilt für unbegründete Arbeitsunfähigkeitszeugnisse, deren Beweiswert im Vergleich zu den übrigen ärztlichen Stellungnahmen am geringsten ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sie die erwähnten Kriterien zur Beurteilung der inhaltlichen Beweiskraft von ärztlichen Berichten nicht erfüllen können. Sie werden im Grundsatzurteil über die Beweiswürdigungsrichtlinien nicht einmal erwähnt.35
Dennoch kommt ihnen in der Praxis, insbesondere bei (Kranken-)Taggeldern, insofern eine gewisse Bedeutung zu, als es durchaus vorkommt, dass Taggelder allein aufgrund unbegründeter Arbeitsunfähigkeitszeugnisse zugesprochen werden, insbesondere wenn keine anderen, diesen widersprechenden ärztlichen Stellungnahmen vorliegen.
Eine wichtige Konstellation im Kontext der Beweiswürdigungsrichtlinien betrifft das Verhältnis zwischen Berichten von Hausärzten oder behandelnden Fachärzten, welche den Berichten versicherungsinterner Ärzte widersprechen. Die Erfahrungstatsache, dass behandelnde Ärzte im Zweifelsfall eher zugunsten ihrer Patienten aussagen, befreit das Gericht nicht von seiner Pflicht zu einer korrekten Beweiswürdigung. Auch die Berichte der behandelnden Ärzte sind daraufhin zu prüfen, ob sie auch nur geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der Feststellungen versicherungsinterner Ärztinnen und Ärzte wecken.
Wird die Schlüssigkeit der Feststellungen der versicherungsinternen Fachpersonen durch einen nachvollziehbaren Bericht eines behandelnden Arztes in Zweifel gezogen, so genügt der pauschale Hinweis auf dessen auftragsrechtliche Stellung nicht, um solche Zweifel auszuräumen. In diesen Fällen sind weitere medizinische Abklärungen angezeigt.36
In der Konstellation, in welcher der behandelnde Arzt einem verwaltungsexternen Gutachten gemäss Artikel 44 ATSG widerspricht, hat die Gerichtspraxis hingegen festgehalten, dass sich hier eine vom Gutachten abweichende Beurteilung nur dann aufdrängt, wenn die behandelnden Ärzte «wichtige Aspekte benennen, die im Rahmen der Begutachtung unerkannt oder ungewürdigt geblieben sind».37
Ausserhalb dieser Beweismittelhierarchie haben sich in der Rechtsprechung sodann für besondere Konstellationen wie medizinische Aktengutachten und -beurteilungen sowie medizinische Beurteilungen im Zusammenhang mit Revisionen von Renten und anderen Dauerleistungen gemäss Artikel 17 ATSG weitere spezifische Beweiswürdigungsrichtlinien etabliert.38
3.2 Beweiswürdigung im Zivilrecht
Anders als im KVG erfolgt der Nachweis der Arbeitsunfähigkeit in der Krankentaggeldversicherung nach VVG. In einer ersten Phase nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit können ärztliche Berichte gegenüber der Krankentaggeldversicherung durchaus eine Arbeitsunfähigkeit belegen.39 Die AVB verlangen meist, dass entsprechende Belege, insbesondere Arztzeugnisse, eingereicht werden.40 Akzeptiert der Krankentaggeldversicherer diese Arztzeugnisse nicht und kommt es zu einem gerichtlichen Verfahren, ändert sich die Ausgangslage.41
Der Nachweis der Arbeitsunfähigkeit im gerichtlichen Verfahren richtet sich dann nach den Vorschriften der ZPO. Zwar gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, Artikel 168 Absatz 1 ZPO führt jedoch die zulässigen Beweismittel abschliessend auf.42 In Artikel 168 Absatz 1 litera d ZPO wird zwar auch das Gutachten als Beweismittel aufgeführt. Darunter sind allerdings nur vom Gericht eingeholte Gutachten zu verstehen.43
Ein Privatgutachten ist sodann, nach aktueller Rechtslage, auch keine Urkunde im Sinne von Artikel 168 Absatz 1 litera b ZPO.44 Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung haben von Parteien eingereichte Privatgutachten daher nicht die Qualität von Beweismitteln, sondern sind blosse Parteibehauptungen.45
Zu diesen Privatgutachten zählt die privatrechtliche Rechtsprechung auch (unbegründete) Arztzeugnisse und Berichte von Hausärzten.46 Hinsichtlich Beweismittelqualität solcher Berichte besteht somit ein entscheidender Unterschied zwischen Zivilprozess- und Sozialversicherungsrecht und damit auch zwischen der Krankentaggeldversicherung nach VVG und derjenigen nach KVG.47
Das Bundesgericht relativierte allerdings auch, dass solche Privatgutachten als Parteibehauptungen allenfalls zusammen mit – durch Beweismittel nachgewiesenen – Indizien den Beweis zu erbringen vermögen.48 Zudem erweist sich die nicht in der amtlichen Sammlung publizierte bundesgerichtliche Rechtsprechung zur beweisrechtlichen Bedeutung solcher Privatgutachten als uneinheitlich. Insgesamt kann die bundesgerichtliche Rechtsprechung aber wohl dahingehend verstanden werden, dass solche Privatgutachten zwar nicht den direkten Beweis für den Gesundheitszustand zu erbringen vermögen, ihnen aber immerhin Bedeutung als Indizien zukommen kann.49
Mit der vom Bundesgericht vorgenommenen Zuordnung der Parteigutachten zu den Parteibehauptungen ergeben sich für die Prozessparteien im Vergleich zum sozialversicherungsrechtlichen Gerichtsverfahren in der der Beweisabnahme vorgelagerten Behauptungsphase des gerichtlichen Verfahrens weitere Hürden im Rahmen ihrer Behauptungs-, Bestreitungs- und Substanziierungspflicht.50
Dabei handelt es sich jedoch nicht um beweisrechtliche Fragestellungen. Auch der eingangs erwähnte Krankentaggeldfall nach VVG mit dem unbegründeten einfachen Arztzeugnis ist nicht im Zusammenhang mit dem Beweisrecht zu sehen,51 sondern im Rahmen der fehlenden hinreichenden Bestreitung durch den Krankentaggeldversicherer.52
3.3 Gesetzliche Neuerung ab 1. Januar 2025
Das Bundesgericht wies selbst darauf hin, dass die Rechtsprechung zur fehlenden Beweismittelqualität privater Gutachten gerade bei Streitigkeiten um Krankentaggelder (nach VVG) zu praktischen Schwierigkeiten führen könne. Es verwies allerdings darauf, dass diese Thematik Gegenstand gesetzgeberischer Reformen sei.53
Diese gesetzgeberischen Reformen sind nun abgeschlossen und treten im Rahmen der aktuellen ZPO-Revision auf den 1. Januar 2025 in Kraft. Neu gelten «private Gutachten der Parteien» im Privatrecht als Urkunden im Sinne des künftigen Artikels 177 ZPO. Dies hat zur Folge, dass sie zulässige Beweismittel im Sinne von Artikel 168 Absatz 1 litera b ZPO und nicht mehr blosse Parteibehauptungen sind.54 Übergangsrechtlich gilt diese Neuerung für alle Verfahren, die am 1. Januar 2025 rechtshängig sind, also auch für bereits vor diesem Datum eingeleitete Verfahren.55
Es stellt sich die Frage, ob nach dem Wortlaut des neuen Artikels 177 ZPO unter «private Gutachten der Parteien» auch die in der Krankentaggeldversicherung wichtigen Arztzeugnisse und ärztlichen Berichte von Hausärzten zu verstehen sind. Gerade bei unbegründeten Arztzeugnissen ist es allerdings nicht naheliegend, diese unter den Wortlaut des neuen Artikels 177 ZPO zu subsumieren. Zwischen einem medizinischen Gutachten und einem unbegründeten Arztzeugnis besteht nach allgemeinem Sprachverständnis doch ein erheblicher Unterschied.
Auch die aufgezeigte differenzierte Rechtsprechung zu den verschiedenen Arten von ärztlichen Stellungnahmen im Sozialversicherungsrecht zeigt, dass hier nicht das Gleiche verstanden wird. In den Materialien zur ZPO-Revision findet sich dazu keine Aussage. Auch in den ersten ZPO-Kommentaren der neuen Bestimmung wird dieser Aspekt nicht thematisiert.56
In der Botschaft zur ZPO-Revision wird ausgeführt, diese Anpassung sei auch angesichts der sozialversicherungsrechtlichen Rechtsprechung zu Partei- oder Privatgutachten kohärent, wobei auf BGE 125 V 351 verwiesen wird.57 In diesem Entscheid ging es um ein sozialversicherungsrechtliches Parteigutachten, also um ein von einer versicherten Person bei medizinischen Experten formell in Auftrag gegebenes Gutachten, und zwar in Abgrenzung zu anderen Kategorien von ärztlichen Stellungnahmen.
Dies könnte auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass nur Parteigutachten im engeren (sozialversicherungsrechtlichen) Sinne neu Beweismittel darstellen, nicht jedoch andere ärztliche Berichte. Die zivilrechtliche Rechtsprechung hat bisher jedoch keine beweisrechtliche Unterscheidung zwischen Privatgutachten und anderen ärztlichen Stellungnahmen vorgenommen,58 was dafür spricht, dass alle ärztlichen Berichte, mit Ausnahme von Gerichtsgutachten, unter den Begriff «private Gutachten der Parteien» fallen. Zudem wird mit der ZPO-Revision hier eine Angleichung an die sozialversicherungsrechtliche Rechtsprechung angestrebt, was ebenfalls für diese Auffassung spricht.
Eine Unterscheidung zwischen Privatgutachten und anderen ärztlichen Berichten mit der Folge, dass Ersteren Urkundenqualität zukäme und Letzteren nicht, wäre zudem in der Praxis schwierig und kaum praktikabel. Die Neuregelung der ZPO ist daher so zu verstehen, dass sämtliche ärztlichen Berichte, einschliesslich unbegründeter Arztzeugnisse, neu als Beweismittel anerkannt werden.59 Ihr inhaltlicher Beweiswert kann jedoch stark variieren und ist im Rahmen der konkreten Beweiswürdigung zu bestimmen.
Weiter stellt sich die Frage, ob sich mit dieser neuen rechtlichen Ausgangslage neu auch im Zivilrecht Beweiswürdigungsrichtlinien etablieren werden oder ob nach dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung die aufgezeigten Beweiswürdigungsrichtlinien aus dem Sozialversicherungsrecht im Zivilrecht übernommen werden. Nach der hier vertretenen Auffassung ist dies wahrscheinlich, da das bisherige Argument der Rechtsprechung gegen eine Übernahme ins Zivilrecht, nämlich dass Privatgutachten keine Beweismittelqualität zukomme,60 mit der neuen Rechtslage entfällt.
Den Kantonen steht es frei, bei Streitigkeiten betreffend Krankentaggeldversicherungen nach VVG eine einzige kantonale Instanz als zuständig zu bezeichnen.61 Eine Minderheit der Kantone hat von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, weshalb in diesen Kantonen (BE, LU, NE, OW, VD, ZG, SO) zwei kantonale zivilrechtliche Instanzen für diese Streitigkeiten sachlich zuständig sind.62 Drei Kantone (GL, JU, UR) haben sodann die zivilrechtliche Abteilung ihrer oberen kantonalen Instanz als einzige kantonale Instanz bestimmt.63
Demgegenüber haben die übrigen Kantone die entsprechenden Streitigkeiten ihren (Sozial-)Versicherungsgerichten beziehungsweise Verwaltungsgerichten zugewiesen, die als einzige Instanz auch sozialversicherungsrechtliche Streitigkeiten behandeln.64 Von Rechtsanwälten wurden nun offenbar Unterschiede in der Beweiswürdigung zwischen diesen Zivilgerichten und den (Sozial-)Versicherungsgerichten bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit Krankentaggeldversicherungen nach VVG festgestellt.65
Diese Unterschiede sollten sich mit der vorliegenden beweisrechtlichen Neuerung der ZPO minimieren. Darüber hinaus käme diese Rechtsangleichung allgemein Versicherungsgerichten, Rechtsanwälten und anderen Akteuren, die sowohl im Sozialversicherungsrecht als auch im Zivilrecht tätig sind, sicherlich entgegen.
Fussnoten siehe PDF.