1. Haftung
1.1 SVG
1.1.1 Ausschluss der Halterhaftung
Hohe Wellen geworfen hat das Urteil 4A_234/2021: Es ging um einen Unfall zwischen Fussgängerinnen und einem Motorrad: Eine ortsunkundige Mutter überquerte mit ihrer fünfjährigen Tochter und zwei Taschen in der Hand zu Fuss ausserorts (80 km/h) eine Hauptstrasse, um zur Postautohaltestelle zu gelangen. Dabei wurden sie von einem vortrittsberechtigten, starken (1000 ccm, 195 PS) Motorrad erfasst. Die Tochter erlitt schwere Kopf- und Hirnverletzungen. Die Gemeinde finanzierte die Heilungskosten vor.
Die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung erklärte der Gemeinde, sie beteilige sich zu 50 Prozent an den Heilungskosten. Von diesem Schreiben erhielten die Eltern der verletzten Tochter eine Kopie. Die Geschädigte klagte mit einer Teilklage auf 7000 Franken gegen die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung. Das erstinstanzliche Gericht hiess die Klage gut. Das Kantonsgericht wies sie mit der Begründung ab, die Mutter habe den Unfall durch grobes Verschulden verursacht, indem sie die Strasse mit ihrer Tochter ohne genügende Vorsicht überquert habe. Dies befreie den Halter und dessen Haftpflichtversicherung.
Dagegen gelangte die Geschädigte ans Bundesgericht. Es verneinte eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, womit mangels Erreichens der Streitwertgrenze von 30 000 Franken (Artikel 74 Absatz 1 litera b BGG) die Beschwerde in Zivilsachen unzulässig war (Erwägung 1.4). Im Rahmen der subsidiären Verfassungsbeschwerde verneinte es eine willkürliche Anwendung von Artikel 59 Absatz 1 f. SVG durch die Vorinstanz: Die Mutter habe Garantenstellung gegenüber ihrer Tochter gehabt. Der Mutter sei ein grobes, die Kausalität unterbrechendes Drittverschulden anzulasten. Sie habe ausserorts mit sich schnell nähernden Fahrzeugen rechnen müssen. Die Sichtverhältnisse seien infolge einer leichten Rechtskurve mit Gefälle von 6 Prozent und infolge der tief stehenden, blendenden Sonne eingeschränkt gewesen. Im Unfallzeitpunkt am Feierabend habe reges Verkehrsaufkommen geherrscht. Die Mutter hätte daher besondere Vorsicht walten lassen müssen. Stattdessen habe sie nicht nach links geschaut. Mit zwei Taschen beladen habe sie nur eingeschränkt auf plötzlich auftretende Gefahren reagieren können.
Bei Wahrnehmung des Motorrads sei sie nach kurzem Zögern weiter über die Strasse geeilt, statt sich zurück an den viel näher gelegenen Strassenrand zu begeben. Ihr Verhalten sei unverständlich und hochriskant und damit ein grobes Drittverschulden im Sinne von Artikel 59 Absatz 1 SVG. Den Motorradfahrer treffe kein Verschulden, womit er nicht nach Artikel 58 SVG hafte (Erwägung 2.4.3). Der vorinstanzliche Entscheid sei nicht willkürlich, wonach die vortrittsbelastete Mutter unter ungünstigen Umständen an ungeeigneter Stelle unter Missachtung der Schutzpflicht für ihre Tochter die Strasse überqueren wollte. Die Mutter habe elementarste Vorsichtsgebote missachtet. Dieses Drittverschulden überwiege so sehr, dass die Betriebsgefahr des Halterfahrzeugs nicht ins Gewicht falle und als adäquate Ursache ausgeschaltet werde.
Für den Entlastungsbeweis des Halters wegen eines groben Drittverschuldens sei nicht zwangsläufig ein waghalsiges oder mutwilliges Verhalten oder gar die Inkaufnahme von Unfällen nötig (Erwägung 2.4.4). Die vorinstanzliche Verneinung einer Bindungswirkung der Haftpflichtversicherung gegenüber der Geschädigten aus deren Korrespondenz mit der Gemeinde sei ebenso wenig willkürlich (Erwägung 2.5.2).
Bemerkungen: Das Urteil kontrastiert mit 4A_602/2018, wonach die SBB für einen Personenunfall haften, wenn der Geschädigte durch einen psychisch kranken, schuldunfähigen Dritten auf das Gleis gestossen und schwer verletzt wird. Dass es genauso gut hätte anders kommen können, zeigen die erstinstanzliche Klagegutheissung und die Zusage der Haftpflichtversicherung, sich zu 50 Prozent an den Heilungskosten zu beteiligen. Soweit ersichtlich, ist dieses Urteil singulär, indem es als Novum die SVG-Haftung infolge eines groben Drittverschuldens einer Person, die selbst nicht ebenfalls nach SVG haftet, durchbricht.
Systemwidrig erscheint, dass die strenge SVG-Kausalhaftung in Kombination mit dem Versicherungsobligatorium, dem direkten Forderungsrecht und der Einredebeschränkung ausschliesslich Verkehrsunfallopfer schützen soll, während ein Verhalten einer Drittperson die Gefährdungshaftung durchbricht, obschon diese dafür keinen Versicherungsschutz geniesst: Eine Privathaftpflichtversicherung schliesst üblicherweise eine Deckung für Schäden Angehöriger im gleichen Haushalt aus. Es überzeugt zudem nicht restlos, dass bei dieser Konstellation (schuldlose, vulnerable fünfjährige Fussgängerin gegen schweres Motorrad mit 195 PS, maximale Beschleunigung von 0 auf 100 km/h in 2,1 Sekunden) die Betriebsgefahr effektiv überhaupt nicht mehr ins Gewicht fallen und als adäquate Ursache ausgeschaltet werden soll. Dies gilt umso mehr, als es ein zu erwartendes verkehrstypisches Fehlverhalten ist, dass Fussgänger befürchten, den Bus zu verpassen, und deswegen unaufmerksam sind ( 4A_479/2009).
Das Urteil illustriert sodann, dass eine Teilklage mindestens auf 30 000 Franken empfehlenswert ist, damit eine Beschwerde in Zivilsachen ans Bundesgericht mit voller Kognition möglich wird. Die Geschädigte wird zwar eine deliktische Haftung der Mutter verfolgen (Artikel 41 OR, Erwägung 5.1 von 4A_179/2016), Letztere ist aber womöglich nicht liquid. Somit greift die subsidiäre Haftung nach OHG. Damit zahlen letztlich die Gemeinde und der Kanton und damit die Allgemeinheit statt die Haltergemeinschaft solcher «PS-Monster». Laut Professor Frédéric Krauskopf spricht das Urteil dem Wertesystem des Haftpflichtrechts Hohn (HAVE 2/2022, S. 112).
1.1.2 Fehlverhalten am Kreisel
Im Urteil 6B_735/2020 des Bundesgerichts ging es um einen Autofahrer, der bei der Einfahrt in einen Kreisel zunächst anhielt, dann aber ohne Vortrittsrecht einen Meter hineinfuhr und bremste, sodass ein vortrittsberechtigter Motorradfahrer bei einem Bremsversuch – ohne Kollision – stürzte. Erstinstanzlich wurde der Autofahrer vom Vorwurf einer fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen, das kantonale Obergericht und das Bundesgericht sprachen ihn indessen schuldig. Der Vortrittsbelastete dürfe den Berechtigten nicht in seiner Fahrt behindern, sondern müsse sein Tempo frühzeitig reduzieren und – wenn er warten muss – dann vor der Verzweigung halten (Artikel 14 Absatz 1 VRV). Bei einer Beschränkung der Sicht sei zwar ein sehr vorsichtiges Hineintasten zulässig, wenn der Vortrittsberechtigte das ohne Sicht langsam einmündende Fahrzeug rechtzeitig sehen kann, um entweder selbst auszuweichen oder den Wartepflichtigen durch ein Signal zu warnen. Müsse der Vortrittsberechtigte aber seine Fahrweise brüsk ändern, sei das bereits eine Behinderung. Das Vortrittsrecht als Grundregel dürfe nicht entwertet werden. Das Anrollen sei gemäss kantonalem Gericht kausal für die Vortrittsrechtsbehinderung und den Sturz gewesen.
Dass der Motorradfahrer nicht wie von ihm gewünscht ohne Sturz habe anhalten können und eine Bremsung zur Gefahrenabwehr wohl nicht nötig gewesen wäre, sei nicht relevant. Die Vortrittsmissachtung genüge als Teilursache. Der Vertrauensgrundsatz entlaste den Autofahrer nicht, weil er selber eine Gefahr geschaffen habe, woraus der Sturz voraussehbar und vermeidbar gewesen wäre.
1.2 Arbeitgeber haftet bei fehlender Pensionskasse
In den Urteilen 8C_110/2021 und 8C_175/2021 entschied das Bundesgericht, dass die ETH Lausanne (EPFL) für einen unterlassenen Anschluss an die zweite Säule haftet: Ein Lehrbeauftragter hatte 15 Jahre unterrichtet. Nach dem Ende des Lehrauftrags wurde diese Tätigkeit als Arbeitsvertrag qualifiziert, weshalb ein BVG-Anschluss nötig gewesen wäre. Die EPFL muss den Mann schadlos halten, wobei die unterbliebenen Beiträge in die zweite Säule abzuziehen sind. Ein Selbstverschulden hat das Bundesgericht verneint.
1.3 Staatshaftung: IV haftet für unterlassene Beratung
Im April 2018 erlitt eine Velofahrerin ein Schädel-Hirn-Trauma (9C_324/2021). Sie meldete sich im März 2019 bei der IV zur Früherfassung, welche diese im April 2019 mit einem Telefongespräch beendete. Im Mai 2020 beantragte die Versicherte Leistungen. Nach Abklärungen ermittelte die IV einen Invaliditätsgrad von 50 Prozent, allerdings erst seit Ablauf des Wartejahres (ein Jahr ab Anmeldung zum Leistungsbezug). Einen Rentenanspruch verneinte die IV mit der Begründung, ein solcher hätte frühestens sechs Monate nach der Anmeldung zum Leistungsbezug, also am 1. November 2020, entstehen können; weil die Versicherte aber bereits im September 2020 das AHV-Alter erreicht habe, sei eine Invalidenrente ausgeschlossen. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde der Versicherten gut. Denn Sozialversicherungen müssten Versicherte über ihre Rechte und Pflichten aufklären (Artikel 27 Absatz 1 ATSG). Jede Person hat Anspruch auf grundsätzlich unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten. Dafür zuständig sind die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind (Artikel 27 Absatz 2 ATSG). Stellt ein Versicherungsträger fest, dass eine versicherte Person Leistungen anderer Sozialversicherungen beanspruchen kann, so gibt er ihr unverzüglich davon Kenntnis (Artikel 27 Absatz 3 ATSG).
Im Kontext der Früherfassung (vgl. Artikel 3a ff. IVG) fordert die IV-Stelle bei Bedarf die versicherte Person zu einer Anmeldung bei der Invalidenversicherung (im Sinne von Artikel 29 ATSG) auf. Sie macht die versicherte Person darauf aufmerksam, dass die Leistungen gekürzt oder verweigert werden können, wenn die Anmeldung nicht unverzüglich erfolgt (Artikel 3c Absatz 6 IVG). Die Meldung zur Früherfassung stellt keine offizielle Anmeldung zum Leistungsbezug im Sinne von Artikel 29 ATSG dar (Erwägung 5.2). Artikel 27 Absatz 2 f. ATSG gewährt ein individuelles Recht auf Beratung durch den zuständigen Versicherungsträger. Jede versicherte Person kann vom Versicherungsträger im konkreten Einzelfall eine unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten verlangen. Je nach Sachverhalt gehört es zum Kern der Beratungspflicht, die versicherte Person darauf aufmerksam zu machen, dass ihr Verhalten eine der Voraussetzungen des Leistungsanspruches gefährden kann (Erwägung 5.3.1).
Abgeleitet aus dem Grundsatz von Treu und Glauben, der die Bürger in ihrem berechtigten Vertrauen auf behördliches Verhalten schützt, können falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden unter fünf Voraussetzungen eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtsuchenden gebieten. Dies ist der Fall,
- wenn die Behörde in einer konkreten Situation mit Bezug auf bestimmte Personen gehandelt hat;
- wenn die Behörde für die Erteilung der Auskunft zuständig war oder wenn die rechtsuchende Person die Behörde aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten durfte;
- wenn die Person die Unrichtigkeit der Auskunft nicht ohne weiteres erkennen konnte;
- wenn sie im Vertrauen auf die Richtigkeit der Auskunft Dispositionen getroffen hat, die nicht ohne Nachteil rückgängig gemacht werden können, und
- wenn die gesetzliche Ordnung seit der Auskunftserteilung keine Änderung erfahren hat. Eine ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht gemäss Artikel 27 Absatz 2 ATSG kommt einer falsch erteilten Auskunft des Versicherungsträgers gleich, weshalb dieser in Nachachtung des Vertrauensprinzips dafür einzustehen hat. Die dritte Voraussetzung lautet diesfalls: wenn die Person den Inhalt der unterbliebenen Auskunft nicht kannte oder deren Inhalt so selbstverständlich war, dass sie mit einer anderen Auskunft nicht hätte rechnen müssen (Erwägung 5.3.2). Beim Abschluss der Früherfassung konnte ein Rentenanspruch nicht ausgeschlossen werden. Angesichts der konkreten Gegebenheiten – klar erkennbarer Wunsch der Beschwerdeführerin nach Rentenprüfung; deren Beschwerdeschilderungen und Ankündigung der Anmeldung nach weiteren Untersuchungen; Möglichkeit des bestandenen Wartejahres; für eine abschliessende Beurteilung offensichtlich ungenügende Aktenlage – hätte die IV-Stelle nicht der Beschwerdeführerin ausdrücklich von einer Anmeldung zum Leistungsbezug abraten dürfen, ohne sie gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass eine spätere Anmeldung auch die Entstehung eines allfälligen Rentenanspruchs verzögern würde. Demnach verletzte die IV-Stelle im Rahmen der Früherfassung ihre Aufklärungs- und Beratungspflicht (Erwägung 5.5). Die Versicherte ist somit so zu stellen, wie wenn sie die Anmeldung zum Rentenbezug rechtzeitig gemacht hätte (Erwägung 5.6).
1.4 Arzthaftung
1.4.1 Angaben der Patientin über Allergien
In 6B_727/2020 ging es um einen Hausarzt, dessen Patientin wegen eines von ihm verschriebenen Antibiose-Medikaments an einem allergischen Schock gestorben war. Die Erben warfen ihm vor, er hätte von der Allergie wissen müssen und das Medikament nicht verschreiben dürfen. Das Bundesgericht hält fest, dass die ärztliche Sorgfalt bedingt, eine Unverträglichkeit auf eine Therapie zu beachten. Entscheidend ist, ob die Kontraindikation bei der Abgabe erkennbar war (Erwägung 2.4.2). Ein Arzneimittel darf nur verschrieben werden, wenn der Gesundheitszustand des Patienten bekannt ist (Artikel 26 Absatz 2 HMG). Der Arzt muss bei der Verschreibung Allergien, Arzneimittelunverträglichkeiten und das Potenzial des Mittels zur Interaktion mit anderen Medikamenten kennen (Erwägung 2.4.1).
Die Informationen im Zeitpunkt der Verschreibung gaben dem Arzt aber keine Hinweise auf die Unverträglichkeit. Zudem hatte die Patientin auf explizite Nachfrage eine Allergie verneint, woran zu zweifeln der Arzt keinen Anlass hatte (Erwägung 2.7.3). Nach der Erstanamnese hatte der Arzt überdies von der Patientin verlangt, ihm die früheren medizinischen Akten beim nächsten Termin mitzubringen, und – nach Ausbleiben derselben – nochmals nachgehakt und diese dringend verlangt.
Mehr – insbesondere die Krankengeschichte, welche die Allergie dokumentiert hätte, von sich aus bei der ihm namentlich bekannten Vorbehandlerin einfordern – habe er nicht unternehmen müssen. Damit handelte er sorgfältig, sodass er vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen wurde (Erwägung 2.4.3, Erwägung 2.8 f.).
1.4.2 Anatomiebedingte Probleme bei Intubation
In 4A_467/2020 war eine Haftung für eine Intubation streitig, die zu einer Gehirnschädigung und schliesslich zum Tod geführt hatte. Die Patientin war gestürzt, kam in die Intensivstation und musste beatmet werden. Mehrere Versuche der Intubation schlugen fehl; diese gelang erst mit Videounterstützung. Im Prozess machten die Angehörigen geltend, das Spital habe zu spät oder falsch auf die Schwierigkeiten reagiert, insbesondere die Intubation zu spät begonnen.
Das Gutachten ergab, dass eine HNO-Spezialistin für einen Luftröhreneingriff (zur Sicherung der Atmung) nicht nötig gewesen sei, weil die Anatomie einen solchen ausgeschlossen habe (voluminöser und kurzer Hals). Dass der erste Intubationsversuch des Assistenzarztes misslungen sei, sei nicht zwingend eine Sorgfaltspflichtverletzung, zumal auch der Gutachter diesbezüglich keinen Fehler festgestellt habe. Der Gutachter habe eine Fehllage des Tubus (in Speiseröhre statt Luftröhre verlegt) infolge unübersichtlicher Verhältnisse als nicht aussergewöhnlich beurteilt (Erwägung 3). Es liege daher keine fahrlässige Tötung vor.
1.5 Tierhalterhaftung bei durchgebranntem Pferd
In 4A_25/2021 war streitig, ob ein Tierhalter den Entlastungsbeweis erbringen konnte: Eine Bierbrauerei lieferte Bier mit Pferdegespann und Anhänger aus. Der Fuhrmann war mit dem Einspänner unterwegs. Eine Mutter hatte mit ihrer Tochter im Veloanhänger eine Tour gemacht. Das Pferdegespann hatte die Mutter mit Tochter im Anhänger überholt. Daraufhin scheute das Pferd, vermutlich wegen eines Mistkrans an der Strassenseite. Der Fuhrmann vollzog deshalb eine Wende, worauf das Pferd durchbrannte und er von der Kutsche fiel. Die Mutter konnte dem Pferd ausweichen, aber die Kutsche traf den Veloanhänger und verletzte das Kind schwer.
Punkto Entlastungsbeweis des Tierhalters entschied das Bundesgericht, es gelte ein strenger Massstab. Dieser obliege dem Tierhalter. Gemäss Experte sei nicht für den ganzen Unfallhergang erstellt, dass der Fuhrmann stets seine Sorgfaltspflicht erfüllt habe. Laut Erstinstanz herrschte bezüglich der entscheidenden Phase vor dem Durchbrennen des Pferds Beweislosigkeit, denn laut Gutachten sei nicht erstellt, wie der Fuhrmann das Pferd in diesem Moment geführt habe (ungeklärte Leinenhaltung und -einwirkung unmittelbar vor dem Durchbrennen). Die Möglichkeit eines unsorgfältigen Verhaltens des Fuhrmanns in dieser kurzen Phase des Unfallhergangs ist laut Gutachter gegeben. Damit gelte diesbezüglich Beweislosigkeit, zumal die Bierbrauerin als Halterin nicht behauptet habe, der Fuhrmann habe sich auch insoweit korrekt verhalten. Die Folgen der Beweislosigkeit habe die Tierhalterin zu tragen, womit sie hafte (Erwägung 2.).
1.6 Werkeigentümerhaftung
1.6.1 Haftung für Badeunfall
In 4A_450/2021 war die Haftung einer Gemeinde streitig, die ein kostenpflichtiges Strandbad betreibt. Ein 22-jähriger Besucher machte von einem Badesteg, der 60 cm über der Wasseroberfläche liegt, einen Kopfsprung ins Wasser. Weil dieses bloss 1,1 Meter tief war, verletzte er sich an Halswirbeln und erlitt eine Tetraplegie. Zu beurteilen hatte die Justiz insbesondere, ob der Badesteg mit einem Geländer oder einer Verbotstafel hätte gesichert werden müssen. Das Bundesgericht bejahte diese Frage und damit eine Haftung: Es war üblich, dass Badegäste von diesem Badesteg an unterschiedlichen Orten in den See sprangen, auch kopfvoran, ohne dass der Bademeister intervenierte (obschon er die Gefahr erkannte). Es spiele keine Rolle, dass der Badesteg ursprünglich nicht diesen Zweck hatte. Zudem verbot das Reglement Sprünge vom Badesteg nicht. Vor allem aber gab es weder Verbotsschilder noch Markierungen auf der rechten Seite, wo der Unfall geschah. Nur auf der linken Seite war ein Geländer montiert.
Das Bundesgericht erinnert daran, dass ein Werkmangel nicht nur vorliegt, wenn das Werk bei bestimmungsgemässem Gebrauch unsicher ist, sondern auch, wenn eine falsche Benutzung vorhersehbar und üblich ist (Erwägung 4.2). Unter anderem weil Kopfsprünge vom Badesteg aus während längerer Zeit geduldet wurden, liege kein haftungsausschliessendes Selbstverschulden vor. Anders wäre es allenfalls, wenn sich in der Nähe des Sprungorts aufrecht stehende Badegäste im Wasser befunden hätten, sodass der Geschädigte die Untiefe hätte erkennen müssen – was hier aber nicht erstellt war (Erwägung 5.2). Der Badesteg war mangelhaft, weil die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen gegen vorhersehbare Kopfsprünge fehlten (ein Geländer wie auf der anderen Seite oder eine Bodenmarkierung).
Wegen Bejahung der Werkeigentümerhaftung von Artikel 58 OR prüften die Gerichte eine Vertragshaftung nicht. Eine Reduktion der Haftungsquote um 40 Prozent wegen Selbstverschuldens musste das Bundesgericht aus prozessualen Gründen nicht prüfen (Erwägung 6). In den Urteilen 6B_388 und 6B_392/2020 hält das Bundesgericht fest, dass ein Bademeister, der neben der Überwachung Eintritte kontrolliert und verkauft, durch eine Hilfsperson vertreten werden muss, andernfalls eine vorwerfbare Unterlassung vorliegen kann (Erwägung 4.5).
1.6.2 Sicherungspflicht bei Schlittelweg verletzt
In 6B_1209 beurteilte das Bundesgericht die Strafbarkeit eines Bergbahnunternehmens. Am Silvesterabend vermietete dieses nach Betriebsschluss Schlitten und transportierte Schlittler zu einer Hütte, die nur mit Ski oder Schlitten erreichbar ist. Dort fand ein öffentlicher Silvesteranlass statt. Der Schlittelweg war allerdings formell geschlossen. Es kam bei der Schlittenabfahrt zu einem Unfall mit Körperverletzung. Laut Bundesgericht entbindet unter diesen Umständen die formelle Schliessung des Schlittelwegs nicht von der Pflicht zur Sicherung des Schlittelwegs. Vielmehr ist eine weitere strafrechtliche Abklärung nötig, auch bezüglich der Frage, was zwischen dem Betreiber der Hütte und dem Bergbahnunternehmen besprochen worden war (Erwägung 2.5.2).
1.6.3 Arbeitgeber haftet für unsichere Arbeitsgrube
In 4A_536/2021 war die Haftung eines Arbeitgebers für eine Arbeitsgrube für Pistenfahrzeuge streitig. Ein Angestellter hatte das Pistenfahrzeug zurückgefahren, das bei seinem Eintreffen die Arbeitsgrube überdeckt hatte. In der Folge war er selber in die Grube gestürzt und erhob Teilklage auf Genugtuung. Die erste Instanz verneint einen Werkmangel: Unfallursache sei das unachtsame Verhalten des Angestellten gewesen. Er habe die Gefahr selbst geschaffen und damit die Adäquanz wegen groben Selbstverschuldens unterbrochen. Das kantonale Obergericht sah es anders und bejahte eine Haftung bei einer Haftungsquote von 50 Prozent. Das Bundesgericht schützt das vorinstanzliche Vorgehen, den Unfallhergang in einzelne Teilursachen aufzugliedern und diese nach jeweiliger Verantwortung den Parteien zuzuweisen (Teilursache 1: Arbeitsgrube an sich, 2: Freilegen der Arbeitsgrube, 3: Fehlende Sicherung der Grube, 4: Unvorsichtigkeit des Geschädigten bei der Kontrolle).
Damit habe die Vorinstanz nur getan, was das Bundesgericht bei der Beurteilung der Frage verlange, ob der Kausalzusammenhang durch ein Selbstverschulden des Geschädigten unterbrochen worden ist. So würden die vom Schädiger zu verantwortenden (Teil-)Ursachen mit (Teil-)Ursachen verglichen, die zulasten des Geschädigten gehen, und bewertet, ob Erstere als nicht mehr beachtlich erscheinen (Erwägung 2.5.).
Laut Vorinstanz hafte die Arbeitgeberin nach Artikel 58 OR als Werkeigentümerin, weil die Grube mit Brettern hätte abgedeckt werden können. Die Reduktion der Haftung wegen Selbstverschulden um 50 Prozent sei bundesrechtskonform, weil der Geschädigte zwar die Absturzgefahr gekannt und mitverantwortet habe, sich aber sorgsam und in kleinen Schritten seitlich der Grube entlang bewegt habe und bloss deshalb hineingefallen sei, weil er – auf die Kontrolle fixiert – während eines Moments unachtsam war (Erwägung 2.6.).
1.7 Tramunfall: Selbstverschulden des Velofahrers
Im Urteil 4A_91/2022 hatte eine Unfallversicherung den Sozialversicherungsregress gegen eine Stadt als Betreiberin von Verkehrsbetrieben eingeklagt. Das bei der Klägerin UVG-versicherte Unfallopfer war mit dem Velo verbotenerweise auf dem Trottoir einer Einbahnstrasse in Gegenrichtung des fahrenden Verkehrs gefahren. Im Bereich einer Kreuzung nahm der Velofahrer ein sich näherndes, vortrittsberechtigtes Tram wahr, bremste brüsk ab, um einen Zusammenstoss zu verhindern, verlor das Gleichgewicht und stürzte vor das Tram, das ihn mitschleifte und schwer verletzte. Die Erstinstanz bejahte die Haftung aus Eisenbahngesetz bei einer Haftungsquote von 60 Prozent. Das Obergericht hob das Urteil auf und wies die Klage ab. Das Bundesgericht schützt den Standpunkt der Verkehrsbetriebe, wonach der Geschädigte ein derart grosses Verschulden zu vertreten habe, dass es die Adäquanz zur Kausalhaftung aus damaligem Eisenbahngesetz unterbreche (Artikel 1 Absatz 1 EHG). Der Geschädigte sei ortskundig gewesen. Er habe jederzeit mit vortrittsberechtigten Trams rechnen müssen (Erwägung 2.5). Äusserst unvorsichtiges Handeln sei ein grobes Selbstverschulden. Immer noch Gültigkeit habe die bei Oftinger/Stark zitierte Aussage, dass durch «Nachlässigkeit und Unsitten, die im Verkehr eingerissen sind, das Mass der erforderlichen Sorgfalt nicht herabgesetzt» wird, was heutzutage namentlich für den Fahrradverkehr gelte (Erwägung 3.3). Die strenge Kausalhaftung als Folge einer verwirklichten Betriebsgefahr entfalle nur, wenn sie im Verhältnis zum schweren Selbstverschulden derart untergeordnet sei, dass sie nur noch als zufällige, unbedeutende Teilursache des Schadens erscheine (Erwägung 3.5).
Trotz dieser hohen Latte habe das Bundesgericht jüngst eine Unterbrechung des adäquaten Kausalzusammenhangs wegen schweren Selbstverschuldens und demnach eine Entlastung von der Eisenbahnhaftung in zwei Fällen bejaht, unter anderem beim Betreten der Geleise ohne vorheriges Herumschauen durch einen Fussgänger mit Handy. Wer an einer übersichtlichen Kreuzung die Geleise betrete, ohne vorher zu schauen, ob Gefahr drohe, könne sich nachher nicht auf die besondere Gefährlichkeit eines Trams berufen. Nichts daran ändere, dass solche Unachtsamkeiten auch bei an sich sorgfältigen Personen vorkommen können (Erwägung 3.6).
Das Tram sei generell vortrittsberechtigt. Der Verunfallte hätte so fahren müssen, dass er rechtzeitig sicher hätte anhalten können – umso mehr, als er verbotenerweise auf dem Trottoir gegen die Fahrtrichtung der Strasse gefahren sei. Bei der Unfallstelle verliefen vier Tramlinien, und an einem Samstagnachmittag wie am Unfalltag sei mit grösserem Verkehrsaufkommen zu rechnen gewesen.
Die Fahrweise des Velofahrers sei damit offensichtlich unangemessen gewesen, was auch das misslungene Bremsmanöver zeige (Erwägung 4.1). Die erhöhte Betriebsgefahr eines Trams erhalte hier keine zusätzliche Bedeutung. Alleinige adäquate Unfallursache sei das schwerwiegende Selbstverschulden des Velofahrers (Erwägung 4.2). Dieses schwere Selbstverschulden mit höchster Unaufmerksamkeit unterbreche den adäquaten Kausalzusammenhang (Erwägung 5.3.1).
Nichts daran ändere die strafrechtliche Verurteilung des Velofahrers wegen bloss einfacher (und nicht grober) Verletzung der Verkehrsregeln (Artikel 90 Absatz 1 und 2 SVG). Der Begriff der groben Verkehrsregelverletzung nach Artikel 90 Absatz 2 SVG, der ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten voraussetzt, sei im vorliegenden Kontext der Gewichtung des Selbstverschuldens im Rahmen der Adäquanzbeurteilung nicht gleichermassen massgebend. Entscheidend sei hier nur die Schwere des Verstosses gegen die Sorgfaltspflicht (Erwägung 5.3.2).
Die allgemein vermehrt zu beobachtende Verwilderung des Verkehrs setze den Massstab an die gebotene Vorsicht und Verantwortlichkeit der Velofahrer nicht herab (Erwägung 5.3.4).
1.8 Eisenbahn: Stromschlag und Selbstverschulden
In 4A_131/2021 war streitig, ob ein Eisenbahnunternehmen für einen Stromschlag haftet. Zwei Geschädigte hatten einen neuen Katamaran zusammengebaut und zogen ihn mit aufgebautem Mast auf einem Wagen, um an den See zu gelangen. Sie hatten den Rücken dem Wagen zugewandt und gingen beide vorwärts, ohne den Mast im Blick zu behalten. Bei einem Bahnübergang berührte der Mast die Fahrleitung, denn er ragte 1,2 Meter über die Leitung hinaus. Es kam zu einem Stromschlag und schweren Verletzungen.
Die regressierende Unfallversicherung klagte aus Kausalhaftung nach Eisenbahngesetz gegen das Bahnunternehmen. Das Bundesgericht verneint die Haftung, weil das Selbstverschulden nicht adäquat zur Betriebsgefahr sei. Keine Rolle spiele, ob die Geschädigten bewusst oder unbewusst fahrlässig gehandelt hätten. Entscheidend sei einzig, ob sich das (hier unbewusst fahrlässige) Verhalten derart ausserhalb des normalen Geschehens abspielte, dass damit nicht zu rechnen war (Erwägung 2.2). Dies war hier der Fall, da die Geschädigten die Gefahr grundsätzlich kannten und den Mast nicht im Auge behielten. Die charakteristische Betriebsgefahr sei angesichts der Grobfahrlässigkeit der Geschädigten nur noch zufällige, unbedeutende Teilursache (Erwägung 2.3). Bemerkung: Die Geschädigten werden somit gleich streng behandelt wie jemand, der bewusst fahrlässig auf einen Eisenbahnwagen klettert und sich der Gefahr eines Stromschlags aussetzt.
1.9 Anwaltskosten als Schaden
Mehrfach wurde in den letzten Jahren beurteilt, ob und wenn ja wann und in welchem Umfang vorprozessuale Anwaltskosten ein ersatzfähiger Schaden sind. Gemäss 4A_501/2021 spielt eine entscheidende Rolle, wann diese anfallen. Muss bei der Entstehung von Anwaltskosten bereits mit einem Prozess gerechnet werden, können diese helfen, einen Prozess zu ermöglichen, erleichtern oder vermeiden. Insofern gelten sie als mit der Parteientschädigung abgegolten, denn die Parteientschädigung enthält in der Regel vorprozessuale Anwaltskosten. Nur ausnahmsweise können vorprozessuale Anwaltskosten Teil eines ersatzpflichtigen Schadens bilden, wenn sie gerechtfertigt, notwendig und angemessen waren, der Durchsetzung der Schadenersatzforderung dienen und nicht durch die Parteientschädigung gedeckt sind, was von der Anspruchstellerin zu substanziieren ist.
2. Prozessuales
2.1 Beschwerde des Privatklägers in Strafsachen
Strafverfahren sind im Haftpflichtrecht häufig. Hier gibt es regelmässig prozessuale Fallstricke für Geschädigte: Einmal mehr erinnert das Bundesgericht in 6B_1189/2020 daran, dass der Privatkläger nur Beschwerde in Strafsachen einreichen kann, wenn er Zivilansprüche geltend macht. Das ist von praktischer Bedeutung im Arzthaftungsrecht – u. a. wenn es um die Haftung von öffentlichen Spitälern und deren Angestellten geht: Unterstehen sie dem öffentlichen Recht (wie im Jahr 2014 das Regionalspital Emmental nach bernischem Personalgesetz), so fehlt es an den nötigen Zivilansprüchen für eine Legitimation zur Beschwerde ans Bundesgericht. Nichts daran ändert, wenn das Spital eine privatrechtliche AG ist, zumal das Rechtsverhältnis zu Patienten dem öffentlichen Recht untersteht und das Spital kraft kantonalem Recht eine öffentliche Aufgabe wahrnimmt.
Mit dem Urteil 6B_1260 verneinte das Bundesgericht die Beschwerdelegitimation von Zivilklägern in einer Strafsache, die einen Entscheid des Obergerichts bezüglich Zivilansprüchen nicht angefochten hatten, der diese auf den Zivilweg verwiesen hatte: Infolge Rechtskraft könne sich das Strafurteil nicht mehr auf die Zivilforderungen auswirken. Dasselbe gilt bei der Erklärung des Privatklägers, sich am Strafprozess nur noch als Strafkläger zu beteiligen (6B_1280/2020).
2.2 Teilklage
2.2.1 Negative Feststellungswiderklage
In 4A_395/2021 ging es um eine Fussgängerin, die im Jahr 2005 von einem Auto angefahren worden war. Im Jahr 2019 erhob sie Teilklage. Streitig war die Unfallkausalität der Beschwerden. Das Bundesgericht bestätigt seine Praxis zur Zulässigkeit der negativen Feststellungswiderklage (BGE 147 III 172): Wenn eine Teilklage bei der Beklagten zu einer Ungewissheit führe, die es rechtfertige, den Nichtbestand einer Forderung oder eines Rechtsverhältnisses festzustellen, so müsse für die Teilklage und die Widerklage nicht die gleiche Verfahrensart anwendbar sein. Auf eine Teilklage mit Streitwert von maximal 30 000 Franken (vereinfachtes Verfahren, Artikel 243 ZPO) kann die Beklagte diesfalls eine negative Feststellungswiderklage mit einem unbegrenzt hohen Streitwert einreichen, obschon für Letztere das ordentliche Verfahren anwendbar wäre. Diesbezüglich gilt Artikel 224 Absatz 1 ZPO (gleiche Verfahrensart) nicht (Erwägung 3.1).
Gemäss verbindlicher vorinstanzlicher Feststellung hätte die Klägerin alle Schadenspositionen aus dem schon 15 Jahre zurückliegenden Unfall einklagen können. Deshalb habe die Beklagte ein rechtlich geschütztes Interesse an der widerklageweisen Feststellung der fehlenden Haftung für den gesamten Fall. Es sei für dieses Feststellungsinteresse nicht nötig, dass die Beklagte durch die Ungewissheit in ihrer wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit beeinträchtigt wäre (Erwägung 3.2).
Bemerkungen: Inwiefern eine Teilklage die Privatrechtsphäre der beklagten Haftpflichtversicherung (Erwägung 3.2) vergleichbar mit jener einer Privatperson (vgl. BGE 42 II 696) tangiert, sodass ein Feststellungsinteresse resultiert, begründet das Bundesgericht nicht. Die Konstellation ist in Personenschadenfällen häufig: Grosse Haftpflichtversicherungen ruinieren damit geschädigte Privatpersonen und Patienten, die mit einer Teilklage und beschränkten Verfahrenskosten die streitige Kausalität oder Haftung klären möchten. Das ruinöse Kostenrisiko ist prohibitiv und Folge der Auslegung des Bundesgerichts contra Botschaft zur Einführung der ZPO. Es erschwert die Rechtsdurchsetzung für Privatpersonen massiv, Selbstzahlern ohne unentgeltliche Rechtsvertretung verunmöglicht es teilweise gar den Zugang zum Recht. Selbst bei Anspruch auf unentgeltliche Rechtsvertretung riskieren Geschädigte horrende Gegenanwaltskosten. Und Rechtsschutzversicherungen zahlen immense Verfahrenskosten, weil Versicherte durch diese Rechtsprechung faktisch zur Vollklage gezwungen werden.
Taktisch sinnvoll wäre wohl eine möglichst rasche Einreichung einer Teilklage, und zwar lange bevor der gesamte Schaden liquide ist: Das Bundesgericht hat die Frage offengelassen, ob ein Feststellungsinteresse auch bestehe, wenn nur ein einzelner Schadensposten oder ein Teil davon eingeklagt wird (beschränkte Teilklage). Zudem ist der Streitwert diesfalls per se massiv tiefer, denn es stehen die Sozialversicherungsleistungen, der künftige Heilungsverlauf und damit auch der Gesamtschaden noch lange nicht fest. Erfahrungsgemäss bejahen medizinische Gutachter einen Unfallzusammenhang bei medizinisch hochstreitigen Konstellationen (psychosomatischen und psychischen Unfallfolgen) je eher, je weniger lang der Unfall her ist. Diese Gerichtspraxis wird allenfalls zum Bumerang bezüglich der Entlastung der Justiz, indem gehäuft frühzeitig Teilklagen eingereicht werden ohne definitive Fallregulierung und später weitere Gesamtklagen folgen.
2.2.2 Res iudicata über Gesamtanspruch
In 4A_449/2020 ging es um eine Schadenersatzklage aus Vermögensverwaltung gegen eine Bank. Eine erste Teilklage war nicht auf einzelne Schadensposten begrenzt gewesen, sondern deren Klagebegehren war einzig betragsmässig beschränkt. Diese erste Teilklage hatte das Gericht rechtskräftig abgewiesen. In der zweiten Klage verlangte die Klägerin nun Schadenersatz mit einer neuen rechtlichen Begründung, aber nicht mit anderen Schadensposten. Das Bundesgericht schloss auf eine abgeurteilte Sache, denn im ersten Prozess habe für die Abweisung der Gesamtanspruch beurteilt werden müssen: Beschränke die klagende Partei ihr Klagebegehren wie vorliegend einzig betragsmässig, dürfe das Gericht dieses nur abweisen, wenn es zur Erkenntnis gelangt sei, dass der klagenden Partei aus dem behaupteten Sachverhalt überhaupt keine Forderung zustehe, es mithin die gesamte von der klagenden Partei behauptete Forderung geprüft habe. Die rechtskräftige Abweisung einer Teilklage, mit der die klagende Partei einen einzig betragsmässig beschränkten Teil einer ganzen Forderung geltend mache, schliesse daher grundsätzlich das spätere Einklagen eines weiteren Teilbetrags derselben Forderung aus (Erwägung 6.).
3. Verjährung
3.1 Abschlussuntersuch der Kreisärztin massgebend
Gemäss 4A_615/2021 beginnt die relative Verjährungsfrist mit Kenntnis der wesentlichen Elemente des Schadens zu laufen, die es einem Geschädigten erlaubt, den gesamten Schaden grob zu überblicken und eine Klage in den Grundzügen zu begründen. Es ist für die Kenntnisnahme des Schadens nicht notwendig, den Ausgang eines Sozialversicherungsverfahrens zu kennen. Die Auswirkungen eines Unfalls sind genügend bekannt und lösen den Beginn der Verjährungsfrist aus, wenn ein Abschlussuntersuch der Kreisärztin der Suva stattfindet, bei dem diese einen Endzustand feststellt. Nicht abgewartet werden muss der Entscheid der Suva bezüglich Integritätsentschädigung. Ab dem Abschlussuntersuch der Suva hat der Geschädigte hinreichende Kenntnis seines Schadens, um seine Ansprüche in den groben Zügen zu beziffern, weshalb die relative Verjährungsfrist zu laufen beginnt (Erwägung 5.). Erfährt ein Versicherter drei Monate nach einem Unfall, dass er in seiner bisherigen Tätigkeit nicht mehr arbeitsfähig und eine Umschulung nötig ist, hat er gemäss einem weiteren Bundesgerichtsurteil Kenntnis vom Schaden, und die Verjährungsfrist beginnt (4A_495/2020 Erwägung 3.5.2).
Bemerkungen: Aus anwaltlicher Sorgfaltspflicht empfiehlt es sich, sicherheitshalber den Unfalltag als Verjährungsbeginn zu erfassen. Diese strenge Rechtsprechung überzeugt aus Geschädigtenperspektive mässig: Eine nach UVG versicherte Geschädigte kann eine Haftpflichtversicherung kaum sorgfältig (Risiko Überklagen) einklagen, wenn die Verfügung der Unfallversicherung noch nicht da ist, da die Geschädigte wegen der Subrogation der Sozialversicherung gar nicht aktivlegimiert ist bezüglich der Genugtuung – dies aber nur im Umfang der (noch nicht bekannten) Integritätsentschädigung. Kaum weiter hilft der bundesgerichtliche Verweis (4A_615/2021, Erwägung 5.1) auf die Möglichkeit der richterlichen Schadensschätzung (Artikel 42 Absatz 2 OR) für den Fall, dass der künftige Schaden ziffernmässig unbekannt ist, wenn das Bundesgericht wie etwa in 4A_6/2019, Erwägung 4 eine solche Schadensschätzung einer Paraplegikerin verwehrt, deren Spätfolgen (Pflegeschaden) zwar sicher, Zeitpunkt und Ausmass des Eintritts indessen ungewiss sind.
3.2 Unterlassene BVG-Kaderversicherung
In 4A_402/2021 ging es um die Haftung einer Arbeitgeberin gegenüber einem Angestellten. Die Arbeitgeberin hatte es – in Verletzung des Arbeitsvertrags – verpasst, den Mitarbeiter für den Zeitraum von 2004 bis 2015 überobligatorisch nach BVG zu versichern und die Beiträge dafür zu bezahlen («bel étage»). Nach der Kündigung verlangte der Mitarbeiter Schadenersatz. Die Arbeitgeberin erhob die Verjährungseinrede. Streitig war vor Bundesgericht, ob eine Verjährungsfrist von fünf Jahren nach Artikel 128 Ziffer 3 OR (weil Lohnbestandteil) oder zehn Jahren nach Artikel 127 OR gelte. Gemäss Bundesgericht richtet sich die Verjährungsfrist bei Schadenersatzansprüchen von Angestellten infolge Vertragsverletzung nach der Art des Anspruchs (Erwägung 4.2.3). Für Lohnforderungen sind es fünf Jahre, wobei dafür eine sehr weite Auslegung gelte. Dazu zählen alle Forderungen mit Lohncharakter, sogar auch der Urlaub oder die Entschädigung für nicht bezogene Ferien oder Familienzulagen (Erwägung 4.2.2). Zehn Jahre Verjährungsfrist gilt für alle übrigen Ansprüche, so solche aus Schadenersatz, Genugtuung aus Persönlichkeitsverletzung, Auslagenersatz sowie für Entschädigungsansprüche aus missbräuchlicher oder fristloser Kündigung. Laut Bundesgericht ist die Verpflichtung zum Abschluss einer «Bel étage»-Versicherung Lohnbestandteil im weiteren Sinne, weil sie die Vermögenssituation des Arbeitnehmers als Gegenleistung für seine Dienste verbessert. Daher gilt die fünfjährige Verjährungsfrist.