1. Arzthaftungsrecht
1.1 Merkblatt genügt bei seltenen Komplikationen
In BGE 4A_315/2022 war streitig, ob ein Arzt seinen Patienten über eine seltene Komplikation, die sich als Folge eines mit einer Operation verbundenen Risikos verwirklichte, präoperativ genügend aufgeklärt habe. Zur Aufklärung hatte der Arzt dem Patienten vor der Operation ein Merkblatt ausgehändigt, das auf das später eingetretene Risiko hinwies, und ihn aufgefordert, dieses zu lesen.
Der Eintritt dieses Risikos ist selten (0,2 bis 0,5 Prozent), und noch seltener ist die nachfolgende, sich daraus entwickelnde Komplikation. Die kantonalen Instanzen bejahten eine Verletzung der Aufklärungspflicht, das Bundesgericht sah dies anders: Die ärztliche Aufklärung bedürfe keiner besonderen Form, sondern die Einzelfallumstände würden entscheiden, ob der Patient klar und verständlich über die Diagnose, die Behandlungsmethode und die Risiken aufgeklärt wurde (unter anderem BGE 133 III 121).
Entgegen der Vorinstanz könne daher eine schriftliche Aufklärung der Pflicht zur ärztlichen Aufklärung genügen. Das Merkblatt erwähne die spezifischen Risiken, die sich hier verwirklichten, verständlich. Die aus den Risiken erfolgte Komplikation sei sehr selten, nicht besonders gravierend und korrigierbar.
Zudem habe der Patient das Merkblatt zu Hause studieren und Fragen nach einer Bedenkfrist anlässlich einer Konsultation stellen können, worauf er verzichtet habe. Ein Patient könne auf weiterführende ärztliche Informationen auch konkludent verzichten.
Einem Patienten mit zu vielen Informationen sei ebenso wenig gedient, weil dies eine sachgerechte Entscheidfindung – je nach Vorwissen und Intellekt des Patienten – verunmöglichen könne. Wenn ein Arzt punkto Detailgrad der Aufklärung triagiere und sehr seltene Risiken nur mit schriftlichem Merkblatt und der Möglichkeit für Nachfragen aufkläre, sei dies nicht per se ungenügend, sondern hier eine ausreichende Aufklärung.
Bemerkungen: In der Literatur wird das Urteil kritisiert. Bei Abgabe eines Merkblatts müsse sich ein Arzt vergewissern, dass der Patient dieses gelesen und verstanden habe. Nur weil der Patient keine Fragen stelle, dürfe der Arzt nicht einen konkludenten Verzicht auf eine weitere Aufklärung annehmen (vgl. Christapor Yacoubian / Ariana de la Cruz, «Reicht ein Merkblatt wirklich aus? Bundesgericht klärt Anforderungen an die ärztliche Aufklärungspflicht», in: AJP 7/2023, S. 888 ff.).
1.2 Keine Beweiserleichterung zugunsten des Patienten
Die Reduktion des Beweismasses für den natürlichen Kausalzusammenhang bezweckt eine Beweiserleichterung zugunsten des Geschädigten. Grund dafür ist, dass er geschädigt ist und damit oft gerade nicht «streng beweisen kann», wie seine Situation ohne Schädigung wäre.
In 4A_295/2022 war streitig, wie der gesundheitliche Verlauf gewesen wäre, wenn man auf eine Bandscheibensymptomatik rascher reagiert und interveniert hätte, somit der natürliche (hypothetische) Kausalverlauf ohne Behandlungsfehler.
Das Bundesgericht erwog, eine «deutlich höhere Wahrscheinlichkeit» eines besseren Resultats lasse den Nachweis, dass die Situation ohne Behandlungsfehler gleich wäre, nicht vernünftigerweise ausser Betracht fallen und genüge daher nicht, um eine überwiegende Wahrscheinlichkeit zu beweisen (Erwägung 8.7). Es genüge nicht, wenn eine medizinische Leitlinie für ein besseres Resultat ohne Behandlungsfehler spreche – nötig sei, dass die Leitlinie eine evidenzbasierte Empfehlung sei.
Bemerkungen: Weiterführende lesenswerte Urteilsbesprechung von Marisa Bützberger / Jelena Trümpler, «Arzthaftung: Von Kraft- und Beweisgraden», in: Have 2/2023, S. 135. Mediziner verlangen sehr viel für Evidenz. Nötig sind «wissenschaftlich untermauerte Erkenntnisse». Das scheint doch deutlich mehr zu sein, als Juristen gemeinhin unter «Beweiserleichterung» und «überwiegender Wahrscheinlichkeit» verstehen.
Dieses Bundesgerichtsurteil hebt die Hürden für Patienten, erfolgreich eine Arzthaftung durchzusetzen, weiter an. Wenn nicht erstens das «weite Behandlungsermessen» und die räumliche helvetische Enge den Gutachter davon abhält, einen Behandlungsfehler des Facharztkollegen zu bejahen, und wenn man zweitens bei ungenügender Aufklärung die Hürde der hypothetischen Einwilligung meistert, dann kommt drittens noch die Klippe der Kausalität, die nach diesem Urteil fast genauso hoch scheint wie der Regelbeweis.
2. Brennendes Auto: keine Kausalhaftung
In 4A_314/2022 verneint das Bundesgericht eine Haftung nach Artikel 58 SVG aus Betriebsgefahr eines Motorfahrzeugs für einen Brand: Nach Transportarbeiten wurde der Lastwagen abgestellt. Dessen erhitzter Katalysator entzündete brennbares Material in dessen Nähe und verursachte einen Brand.
Das Bundesgericht betonte, dass die Betriebsgefahr nicht verkehrstechnisch, sondern maschinentechnisch zu verstehen ist. Die Kausalhaftung des SVG greift nur, wenn die durch die maschinellen Einrichtungen verursachte besondere Gefahr den Unfall in seiner Gesamtheit verursacht.
Massstab der Betriebsgefahr ist, ob sich ein Motorfahrzeug mit seiner selbständig entwickelten und umgesetzten Kraft fortbewege. Das Betriebsrisiko resultiert in erster Linie aus dem Zerstörungspotenzial eines in Bewegung befindlichen Motorfahrzeugs.
Gefährlich wurde das Motorfahrzeug hier nicht wegen des Motors, sondern weil mit dem Motorfahrzeug ein heisser Gegenstand unsachgemäss in der Nähe von brennbarem Material gelagert worden war. Der Brand sei zwar indirekt Folge des Betriebs, aber die Fortbewegung hier zu wenig bedeutend, um die bezweckte Kausalhaftung zu rechtfertigen:
Jeder erhitzte Gegenstand kann Wärme abstrahlen, auch ohne motorischen Betrieb. Würde man anders entscheiden, führte alleine der Zufall, dass der erhitzte Gegenstand ein Motorfahrzeug war und nicht ein unmotorisierter Gegenstand, zu einer Kausalhaftung, was dem Zweck von Artikel 58 SVG widersprechen würde.
3. Staatshaftung
3.1 Auslagerung von Aufgaben an Securitas
In 2C_69/2021 war zu entscheiden, ob die Securitas AG für ihre Tätigkeit in einem Asylzentrum nach Verantwortlichkeitsgesetz (VG) hafte. Der Bund hatte dazu mit der Securitas einen Vertrag über Sicherheitsdienstleistungen.
Im Asylzentrum kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen einem Asylbewerber und zwei Mitarbeitern der Securitas, bei welcher der Asylbewerber verletzt wurde. Dieser beantragte gegenüber Securitas Schadenersatz und Genugtuung sowie die unentgeltliche Rechtspflege.
Securitas gelangte an das Eidgenössische Finanzdepartement EFD und erklärte, sie erachte sich als eine mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben des Bundes betraute Organisation im Sinne von Artikel 19 des Verantwortlichkeitsgesetzes, weshalb sie über das Haftungsbegehren und die unentgeltliche Rechtspflege zu befinden habe.
Nach negativen Entscheiden des EFD und des Bundesverwaltungsgerichts zur UR prüfte das Bundesgericht vorfrageweise, ob die Securitas tatsächlich Haftungssubjekt sei. Der Bund haftet für Schäden, die seine Organe in Ausübung amtlicher Tätigkeiten widerrechtlich verursachen (Artikel 146 BV).
Das Verantwortlichkeitsgesetz ist auf alle Personen anwendbar, die unmittelbar mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben des Bundes betraut sind (Artikel 1 Absatz 1 litera f VG). Eine ausserhalb der ordentlichen Bundesverwaltung stehende Organisation, die mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben des Bundes betraut wurde, haftet für den Schaden, den ihre Organe oder Angestellten in Ausübung der mit diesen Aufgaben verbundenen Tätigkeit Dritten widerrechtlich zufügen.
Artikel 19 VG ist aber nicht anwendbar, wenn der Bund im Rahmen seiner Aufgabenerfüllung Private lediglich für administrative Hilfstätigkeiten beizieht. Sicherheitsdienst in einem Asylzentrum ist eine öffentlich-rechtliche Aufgabe des Bundes, die mitunter die Grundrechtspositionen der Asylsuchenden – vor allem ihr Recht auf persönliche Freiheit und Achtung der Privatsphäre – tangiere. Das Gewaltenmonopol liegt beim Staat, und für die Auslagerung sicherheitspolizeilicher Aufgaben gelten besonders hohe Anforderungen in Bezug auf die formellgesetzliche Grundlage.
Hier fehle es für die durch die Rahmenvereinbarung vorgesehene umfassende Übertragung der Gewährleistung der Sicherheit an die Securitas AG im Zeitpunkt des Vertragsschlusses an einer hinreichend bestimmten formellgesetzlichen Grundlage.
Damit gilt Securitas nicht als mit einer öffentlich-rechtlichen Aufgabe des Bundes betraute Organisation im Sinne von Artikel 19 VG. Sie ist somit weder Haftungssubjekt noch zuständig, das gegen sie angestrengte Verantwortlichkeitsverfahren zu führen, sondern der Bund bleibt direkt haftbar für schädigendes Verhalten der Securitas.
3.2 Arzt im Dienst des Staatsanwalts ist Beamter
Zieht die Staatsanwaltschaft bei einem Prozess einen Arzt bei, um zu beurteilen, ob eine Person hafterstehungsfähig ist, dann handelt der Mediziner als Beamter. Erweist sich seine Einschätzung als fehlerhaft, so haftet er nicht nach Zivilrecht, sondern nach öffentlichem Recht (6B_823/2021 und 6B_1055/2020).
3.3 Covid: Staat haftet nicht bei Zwangsschliessung
In 2E_6/2021 war streitig, ob der Bundesrat durch den Erlass einer Covid-19-Verordnung widerrechtlich im Sinne einer Staatshaftung handelte, indem er die Fitnesszentren landesweit zwangsschloss. Die verfassungsrechtliche Wirtschaftsfreiheit und Eigentumsgarantie sind gemäss dem Bundesgericht aber keine Schutznormen, deren Haftung eine Widerrechtlichkeit begründen.
Eine haftungsbegründende Widerrechtlichkeit läge vor bei einem Verstoss gegen übergeordnetes Recht und zusätzlich einer wesentlichen Amtspflichtverletzung. Eine solche ist eine unentschuldbare Fehlleistung, die eine besonders krasse Verletzung der Amtspflicht darstellt.
Eine besonders krasse Amtspflichtverletzung habe der Bundesrat jedoch nicht begangen: Wirksame Abwehrmassnahmen könnten nicht erst getroffen werden, wenn wissenschaftliche Klarheit vorliege.
Gestützt auf die damalige Informationslage, neue Covid-Virus-Varianten und die Unsicherheit über die Wirksamkeit von Schutzkonzepten sowie die zeitliche Dringlichkeit, erscheine die zweimalige temporäre Zwangsschliessung von Fitnesszentren nicht als unentschuldbarer Fehler. Ein Rückschaufehler sei bei der Beurteilung der Unrechtmässigkeit zu vermeiden.
4. Haftung aus Arbeitsrecht
4.1 Bodenöffnung ist gegen Abstürze zu sichern
In 6B_1201/2022 ging es um die Verantwortlichkeit eines Poliers, nachdem ein Arbeiter durch eine temporäre Bodenöffnung gefallen war und sich verletzt hatte: Dieser hatte auf einer Baustelle eine temporäre Bodenöffnung erkannt und gemeldet, diese aber nicht gesichert oder sichern lassen.
Vor Bundesgericht wurde der Polier wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Begründung: Die Gefahr, in temporäre, während Bauarbeiten entstehende, wechselnde Öffnungen zu stürzen, sei viel höher als bei permanenten Bodenöffnungen. Umso mehr hätte eine solche mindestens durch ein Absperrband gekennzeichnet werden müssen.
Entweder hätte dies der Polier selber erledigen oder aber die zuständigen Schaler damit beauftragen müssen – auch zu deren eigener Sicherheit. Und er hätte die entsprechende Einhaltung der Sicherheitsvorschriften als zuständiger Polier kontrollieren müssen.
4.2 Baufirma muss riskantes Verhalten verhindern
In 6B_375/2022 war eine Haftung eines Bauunternehmens für eine nicht gegen Abstürze gesicherte Fensteröffnung zu beurteilen. Ein Arbeiter war absichtlich durch die Fensteröffnung auf ein mobiles Gerüst gesprungen, was gefährlich war. Prompt stürzte das Gerüst um und er verletzte sich.
Das Bundesgericht beurteilte die Adäquanz zwischen der unterlassenen Sicherung und dem Unfall nicht als unterbrochen, trotz des gefährlichen Verhaltens des Arbeiters: Die Sicherungspflicht bezwecke nicht nur die Vermeidung unfreiwilliger Stürze, sondern auch von Unfällen wegen gefährlichem Verhalten.
5. Verjährung bei Strafverfahren
5.1 Arztfehler: Keine Verjährungsunterbrechung
In 4A_417/2021 (BGE 148 III 401) war streitig, ob ein Strafantrag zum Unterbruch der Verjährungsfrist für auftragsrechtliche Ansprüche aus Behandlungsfehlern geführt hat. Gemäss Bundesgericht kann der geschädigte Patient im Strafverfahren vertragliche Ansprüche nicht als zivilrechtliche Ansprüche im Sinne von Artikel 122 Absatz 1 StPO adhäsionsweise geltend machen.
Der Begriff «zivilrechtliche Ansprüche aus einer Straftat» umfasse nur diejenigen zivilrechtlichen Ansprüche, die sich aus einer Straftat ergeben (6B_1310/2021, BGE 148 IV 432) – also solche, die ihren Ursprung in der Deliktshaftung im Sinne von Artikel 41 OR oder in einer anderen ausservertraglichen Haftung haben.
Die Verjährung für vertragliche Ansprüche könne weder durch Strafantrag noch Strafanzeige unterbrochen werden (Artikel 135 Ziff. 2 OR ist abschliessend). Die vertraglichen Ansprüche des Geschädigten waren somit verjährt, obschon er vor Ablauf der zivilrechtlichen Verjährungsfrist Strafantrag gestellt hatte.
Bemerkungen: Zivilrechtlich greift die dualistische Haftung, im Strafverfahren laut diesem Urteil nicht. Entsprechend könnte es wohl möglich sein, parallel zu einem Strafantrag eine Zivilklage auf Vertragshaftung einzureichen – trotz Litispendenz und vermeintlicher Sperrwirkung. Dies birgt das Risiko widersprechender Urteile.
5.2 Vertragsverletzung: Haftung dauert zehn Jahre
Im Urteil BGer 4A_22/2022 befasst sich das Bundesgericht mit der Frage, welcher Verjährungsfrist die Schadenersatzansprüche eines Versicherungsnehmers unterliegen, wenn der Rechtsschutzversicherer bei der Erbringung von Rechtsberatung seine Sorgfaltspflicht verletzt hat.
Streitig und bislang ungeklärt war, ob die kürzere Verjährungsfrist gemäss Artikel 46 Absatz 1 VVG oder die zehnjährige Verjährungsfrist gemäss Artikel 127 OR anwendbar ist.
Das Bundesgericht kommt durch eine grammatikalische und teleologische Auslegung zu dem Schluss, dass die Schadenersatzforderung, die auf der behaupteten Schädigung durch die Rechtsberatung des Versicherers und der angeblichen Verletzung seiner Sorgfaltspflicht beruht, nicht «als Forderung aus dem Versicherungsvertrag» im Sinne von Artikel 46 Absatz 1 VVG gilt, weil sie nicht zum versicherten Risiko zählt, sondern dass sie auf einer Verletzung der vertraglichen Pflichten der Rechtsschutzversicherung beruht.
Daher gilt für Schadenersatzansprüche einer versicherten Person gegen ihre Rechtsschutzversicherung für Unsorgfalt bei der Erbringung von Rechtsdienstleistung eine zehnjährige Verjährungsfrist gemäss Artikel 127 OR.
6. Schadenzahlung: 3,5 Prozent Zins
Ein Evergreen ist die Höhe des Kapitalisierungszinsfusses. Gemäss bisheriger Rechtsprechung sind bei einer einmaligen Schadenzahlung jährliche Abzüge von 3,5 Prozent vorzunehmen. Der Abzug ist laut Bundesgericht zulässig, da der Geschädigte das Kapital bereits zu Beginn anlegen kann, obwohl er es ohne Schaden erst nach und nach erwirtschaftet hätte.
In den letzten Jahren wurden allerdings die Stimmen lauter, die angesichts der Tiefzinsproblematik (Negativzinsen, kontinuierliche Senkung Umwandlungssatz und Mindestzinssatz BVG von bloss einem Prozent, Anlagenotstand der Pensionskassen) eine Senkung des Kapitalisierungszinsfusses verlangten.
Begründung: Geschädigte Privatpersonen könnten als finanztechnische Laien keine regelmässige Rendite von 3,5 Prozent erwirtschaften, wenn dies nicht einmal institutionellen Anlegern gelingt.
In 4A_116/2022 hat das Bundesgericht ein zweitinstanzliches Waadtländer Urteil aufgehoben, das den Kapitalisierungszinsfuss auf zwei Prozent reduziert hatte: Der Geschädigte habe ungenügend behauptet, dass wirtschaftlich eine dauerhafte, tendenziell langfristige Änderung (dazu 4A_260/2014) eingetreten sei, die zur Reduktion des Kapitalisierungszinsfusses führen müsse.
Zudem habe er entsprechende Behauptungen erst zweitinstanzlich und damit verspätet vorgetragen. Darüber hinaus seien die zweitinstanzlichen Erwägungen zu den Gründen der Reduktion des Kapitalisierungszinsfusses sehr kurz und bezüglich der entscheidenden wirtschaftlichen Umstände zu wenig begründet. Der Geschädigte habe nicht ausreichend nachgewiesen, dass es wichtige Gründe für eine Änderung der Rechtsprechung gebe.
7. Prozessuales
7.1 Privatkläger: Keine Rechtsmittellegitimation
In 6B_339/2022 vom 29. März 2023 verneinte das Bundesgericht die Legitimation der Privatkläger für eine Beschwerde ans Bundesgericht gegen ein kantonales obergerichtliches Strafurteil. Privatkläger waren die Hinterbliebenen einer bei einem Verkehrsunfall von einem Lastwagen getöteten Fussgängerin. Der Lastwagenfahrer wurde im Strafverfahren wegen einer nach dem Unfall diagnostizierten Schlafapnoe freigesprochen.
Das kantonale Obergericht entschied im Strafverfahren allerdings adhäsionsweise auf eine grundsätzliche Haftbarkeit für den aus dem Betrieb des Motorfahrzeugs entstandenen Schaden und verwies die Zivilklage im Übrigen auf den Zivilweg. Die Hinterbliebenen beantragten vor Bundesgericht einen Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung. Sie begründeten das Interesse an einem Schuldspruch damit, dass bei einem Verschulden der Genugtuungsanspruch höher ausfalle.
Das Bundesgericht ruft in Erinnerung, dass die Privatklägerschaft in Strafsachen zur Beschwerde nur berechtigt ist, wenn sich der angefochtene Entscheid auf die Beurteilung der Zivilansprüche auswirken kann (Artikel 81 Absatz 1 litera b Ziffer 5 BGG).
Der angefochtene Entscheid kann sich auf die Beurteilung der im Strafverfahren adhäsionsweise geltend gemachten bzw. noch geltend zu machenden Zivilforderungen dann nicht mehr auswirken, wenn das Strafverfahren im Zivilpunkt bereits erledigt ist, weil die Zivilforderungen zum Beispiel rechtskräftig auf den Zivilweg verwiesen wurden (Bundesgerichtsurteil 6B_1192/2021 vom 26. November 2021).
Die Beschwerdeführer hätten die vorinstanzliche Dispositivziffer 2 betreffend Zivilpunkt (grundsätzliche Haftbarkeit für den aus dem Betrieb des Motorfahrzeugs entstandenen Schaden) vor Bundesgericht nicht angefochten. Damit sei das Strafverfahren im Zivilpunkt bereits erledigt und könne sich somit der Entscheid auf die Beurteilung der im Strafverfahren dem Grundsatz nach geltend gemachten Zivilforderungen nicht mehr auswirken.
Ob und inwieweit sich ein rechtskräftiges Strafurteil auf die Zivilforderungen auswirken könne, beurteile sich indessen namentlich nach Artikel 53 OR und sei für die hier zwingend vorausgesetzte Rechtsmittellegitimation nach Artikel 81 Absatz 1 litera b Ziffer 5 BGG nicht relevant. Entsprechend tritt das Bundesgericht auf die Beschwerde nicht ein und weist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wegen Aussichtslosigkeit ab.
7.2 Keine Bindungswirkung bei neuen Beweismitteln
Der Entscheid 4A_196/2021 betraf einen Arzthaftungsprozess. Eine Mutter hatte ein Kind mit zystischer Fibrose auf die Welt gebracht. Sie erhob gegen die Ärztin eine Teilklage wegen unterlassener pränataler Diagnostik und Aufklärung. So erstritt sie für sich eine Genugtuung von 50'000 Franken und für die Tochter 70'000 Franken.
Später erhob sie eine weitere Teilklage auf Schadenersatz für unter anderem Pflege- und Betreuungsschaden. Bezüglich des für die Haftung massgebenden Sachverhalts verwies sie auf die vorherigen Gerichtsentscheide zur ersten Teilklage – so unter anderem auf die rechtskräftig festgestellte Sorgfaltspflichtverletzung bezüglich pränataler Diagnostik und Aufklärung.
Die Beklagte wendete ein, in der Klage fehlten Tatsachenbehauptungen und dem Entscheid aus dem Verfahren 2008 komme keine Rechtskraftwirkung für das vorliegende Verfahren zu. Zudem reichte sie neue Unterlagen aus der Krankengeschichte ein.
Das Bundesgericht entschied, dass sobald eine Partei in einem zweiten Prozess Behauptungen aufstelle oder Beweismittel anrufe, auf die sie sich im ersten Prozess nicht berufen habe, müsse das Gericht diese Vorbringen und Beweismittel umfassend prüfen sowie deren Einfluss auf das Entscheidergebnis bestimmen. Insoweit bestehe keine Bindungswirkung (Erwägungen 3 und 4). Das Bundesgericht schützte daher die vorinstanzliche Abweisung der zweiten Klage.
7.3 Rechtsmissbrauch bei gehäuften Teilklagen
Es kann rechtsmissbräuchlich sein, wegen des jeweiligen Streitwerts unter 30 000 Franken mehrere Teilklagen einzureichen, damit sie kostenlos sind, wenn dazu legitime andere Gründe fehlen (4A_307/2021).
7.4 Privatgutachten über sanierten Mangel
Im Fall 4A_494/2020 war streitig, inwiefern ein Privatgutachten Basis für ein Gerichtsgutachten bilden kann. Bei einem Neubau kam es zu Problemen mit Feuchtigkeit. Die Bauherrin liess von einem Experten mehrere Privatgutachten erstellen, der die Mängel festhielt und die Verantwortlichkeit beurteilte. Daraufhin sanierte die Bauherrin die Mängel. In der Folge klagte sie auf Ersatzvornahmekosten und Mangelfolgeschaden.
Das Handelsgericht Zürich wies die Klage ab, weil es die Mängel als nicht bewiesen erachtete. Vor Bundesgericht machte die Bauherrin geltend, das Handelsgericht hätte gestützt auf das Privatgutachten ein Gerichtsgutachten erstellen sollen.
Das Bundesgericht verneinte dies: Durch ein Privatgutachten beschriebene Mängel seien zwar meist besonders substanziiert – das erlaube einem Gerichtsgutachter, eine Expertise zu machen. Dieser Fall liege aber anders, weil die Mängel schon behoben seien (Erwägung 5.3).
Ein Gerichtsgutachten müsse ermöglichen, die Ergebnisse des Privatgutachtens unabhängig zu überprüfen, so unter anderem Bestand, Umfang und Kausalität der Mängel. Die Bauherrin zeige nicht rechtsgenüglich auf, wie das nach der Sanierung noch möglich sein sollte. Anders zu entscheiden würde einem Privatgutachten, das eine Parteibehauptung sei, faktisch Beweiskraft einräumen.
Bemerkungen: Eine Bauherrin, die Mängelrechte prozessieren will, sollte diese vor einer Sanierung mittels vorsorglicher Beweisführung im Sinne von Artikel 158 OR sichern. Dasselbe gilt auch ausserhalb des Baurechts für jegliche «reparablen Schadenersatzansprüche» (zum Beispiel Re-Operation nach ärztlichem Behandlungsfehler).
Die «Notwendigkeit einer gerichtlichen Feststellung» befriedigt aus Optik der Rechtsgleichheit nur teilweise: Wer bedürftig im Sinne der unentgeltlichen Rechtspflege ist, kann gar kein Verfahren nach Artikel 158 ZPO führen, weil er dafür nach geltender Bundesgerichtspraxis keine unentgeltliche Rechtspflege erhält (4A_589/2013, Erwägung 3.3).
Immerhin ändert dies per 1. Januar 2025 mit der Revision der ZPO (Artikel 118 Absatz 2 zweiter Satz E-ZPO). Unklar bleibt, inwiefern die ZPO-Revision, mit der Parteigutachten Urkundenqualität erlangen, die Beweislage verändert. Spätestens wenn widersprüchliche Privatgutachten entstehen, führt kein Weg an einem Gerichtsgutachten vorbei.
7.5 Opferhilfe kann später geltend gemacht werden
Hat ein Opfer einer Straftat Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, macht es diesen aber im Strafverfahren nicht geltend, so kann es nachträglich bei der kantonalen Stelle für Opferhilfe die Übernahme der Anwaltskosten verlangen. Insofern ist die Opferhilfe nicht subsidiär zum Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege im Strafverfahren (1C_344/2022).
Gleichwohl ist es empfehlenswert, so früh wie möglich mit der Opferberatungsstelle die Frage zu klären, inwiefern diese die Anwaltskosten übernimmt. Andernfalls riskiert das Opfer, dass nachträglich nicht alle Kosten übernommen werden.