Was schon in den vergangenen Jahren zu beobachten war, ist auch dieses Jahr nicht anders: Es werden vermehrt haftpflichtrechtlich relevante Urteile aus dem Strafrecht besprochen. Gründe sind unter anderem die immer schärfere Substanziierungspraxis im Zivilrecht, die prohibitiven Kostenfolgen für geschädigte Selbstzahler, das Risiko der negativen Feststellungswiderklage als Reaktion auf eine Teilklage und die Verschärfung der Gerichtspraxis zu Artikel 158 ZPO (BGer 4A_532/2023). All dies reduziert die Zahl der Zivilprozesse und erschwert für Unfallopfer und Patienten den Zugang zum Recht. Sie versuchen deshalb eher via Strafprozess zu ihrem Recht zu kommen.
1. Strassenverkehr
1.1 Erhöhte Vorsichtspflicht nahe Schulhäusern
In den Bundesgerichtsurteilen 6B_286/2022 und 6B_327/2022 ging es um einen Autofahrer, der in der Nähe eines Schulhauses mit 47 km/h auf einen Fussgängerstreifen zufuhr und ein Kind verletzte, das plötzlich auf dem Trottinett mit Tempo 9 bis 11 km/h den Fussgängerstreifen überquerte. Laut Bundesgericht musste der Autofahrer mit einer solchen Gefahr rechnen und den Vortritt gewähren, sodass seine Geschwindigkeit unangepasst war. Der Unfall ereignete sich im Juni abends um 20.45 Uhr. Der ortskundige Autofahrer hatte vor dem Unfall bemerkt, dass sich Kinder in der Nähe des Sportplatzes eines Schulhauses aufhalten.
Das Unfallopfer war fünf Jahre alt. Der Wartebereich des Zebrastreifens war bis auf 1,3 Meter Höhe verdeckt und das Kind erst etwa 1,5 Meter vor dem Unfallort ersichtlich. Zwar gab es Barrieren vor der Überquerung, zwischen denen das Kind aber mit Anlauf durchfahren konnte. Weil der ortskundige Autofahrer wusste, dass die Mauer einen Fussgänger verbergen kann, und seine Geschwindigkeit nicht anpasste, um den Vortritt zu gewähren, handelte er fahrlässig. Es habe nicht genügt, beim Fussgängerstreifen gegen die Mitte auszuweichen, um allenfalls verdeckten Fussgängern auszuweichen. Der Autofahrer hätte die Geschwindigkeit reduzieren müssen, um bei unerwarteten Fussgängern rechtzeitig zu bremsen.
Es sei nicht aussergewöhnlich, dass ein Kind in der Nähe eines Schulhauses einer Kleinstadt an einem Juniabend mit einer höheren als Schrittgeschwindigkeit einen Fussgängerstreifen quere, auch wenn es Barrieren gebe, um Fussgänger zurückzuhalten. Anders als das kantonale Gericht sprach das Bundesgericht den Autofahrer daher der fahrlässigen Körperverletzung schuldig.
1.2 Vorsicht bei Velos auf dem Fussgängerstreifen
In 6B_654/2023 ging es um ein Strafverfahren gegen einen Autofahrer: Ein Velofahrer war von einem kleinen Weg gekommen, der in einen Velo- und Fussweg entlang einer Strasse mündete. Dort fuhr er in die falsche Richtung und bog plötzlich auf einen Zebrastreifen ab, um die Strasse zu queren. Dabei kollidierte er mit dem vortrittsberechtigt entgegenfahrenden Autofahrer. Der Autofahrer fuhr auf seinem Arbeitsweg innerhalb der erlaubten Maximalgeschwindigkeit. Die Strasse war durch eine Hecke von der Velo-/ Fussgängerspur getrennt, sodass die Sicht des Autofahrers eingeschränkt war.
Der Autofahrer hatte seine Geschwindigkeit nicht verringert, als er sich dem Zebrastreifen näherte. Die Staatsanwaltschaft verurteilte den Velofahrer (rechtskräftig) wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln (Artikel 90 Absatz 1 SVG) und wegen Fahrens in die falsche Richtung und Vortrittsmissachtung. Der Autofahrer wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung bestraft und adhäsionsweise zu Schadenersatz und Genugtuung verurteilt.
Vor Zebrastreifen ist besondere Vorsicht nötig. Das Tempo ist zu reduzieren, und es ist nötigenfalls anzuhalten, um Fussgängern den Vortritt zu gewähren. Fussgänger dürfen den Streifen aber nicht unerwartet betreten (Artikel 33 Absatz 2 und Artikel 49 Absatz 2 SVG). Nur wenn sich niemand in der Nähe des Zebrastreifens befindet, wenn der Autofahrer also davon ausgehen kann, dass kein Fussgänger unerwartet auftauchen wird, oder wenn ihm deutlich gemacht wird, dass er Vorrang hat, muss er seine Geschwindigkeit nicht verringern.
Wenn der Autofahrer keine gute Sicht auf die Umgebung des Zebrastreifens hat, muss er seine Geschwindigkeit so weit reduzieren, dass er den hinter einem Hindernis versteckten Fussgängern den Vortritt gewähren kann. Der Autofahrer muss rechtzeitig anhalten können, wenn ein Fussgänger den Zebrastreifen zu überqueren beabsichtigt. Die vom Autofahrer verlangte Aufmerksamkeit beurteilt sich nach allen Umständen (unter anderem Verkehrsdichte, Beschaffenheit des Ortes, Tageszeit, Sichtverhältnisse, vorhersehbare Gefahrenquellen).
Nicht selten überqueren Fussgänger ohne anzuhalten die Strasse unter Verletzung ihrer Beobachtungs- und Wartepflicht. Auch dann erlischt die Sorgfaltspflicht eines Autofahrers nicht (E. 1.1). Die hier teilweise verdeckte Sicht auf den Zebrastreifen hätte den Autofahrer zu erhöhter Vorsicht veranlassen sollen, da er damit rechnen musste, dass jemand diesen überqueren würde. Zudem war der Velofahrer teilweise sichtbar. Der Autofahrer aber hatte den Velofahrer erst gesehen, als er ihn angefahren hatte. Das beweise die ungenügende Aufmerksamkeit. Zudem sei es nicht völlig unvorhersehbar, dass ein schneller als Schrittgeschwindigkeit fahrender Radfahrer plötzlich abzweigt, um den Zebrastreifen ohne anzuhalten zu überqueren.
Das Selbstverschulden des Velofahrers unterbreche die Adäquanz somit nicht. Der Velofahrer musste zudem eine rechtwinklige Kurve vom Radweg machen, um auf den Zebrastreifen zu gelangen, was eine hohe Geschwindigkeit ausschliesst. Hätte der Autofahrer den Velofahrer pflichtgemäss erkannt, so hätte er seine Geschwindigkeit anpassen müssen, um rechtzeitig anhalten zu können, wenn Velos den Zebrastreifen ohne anzuhalten überqueren. Die Aufmerksamkeit des Autofahrers war ungenügend, was seine Sorgfaltspflicht und damit die Verkehrsregeln von Artikel 31 Absatz 1 und 33 Absatz 2 SVG verletzte. Weil er sich selbst vorschriftswidrig verhielt, kann er sich nicht mit dem Vertrauensgrundsatz entlasten.
1.3 Velofahrer müssen auf Sichtweite anhalten können
In 6B_658/2022 ging es um einen Velofahrer, der an einem Sommerabend um 19.50 Uhr mit knapp 50 km/h auf einer abschüssigen, bei Touristen beliebten Strasse am Genfersee in eine Rechtskurve hineingefahren war. Es galt ein Tempolimit von 80 km/h. 20 Meter vor der Kollisionsstelle erblickte er einen von rechts nach links querenden Fussgänger. Der Velofahrer rief dem Fussgänger etwas zu, bremste leicht und wollte um ihn herumfahren. Der Fussgänger erschrak und kehrte an seinen Ausgangspunkt zurück. Die zwei kollidierten, der Fussgänger starb.
Das Bundesgericht spricht den Velofahrer einer fahrlässigen Tötung schuldig, weil er nicht innerhalb Sichtweite habe anhalten können: Radfahrer müssen ihre Geschwindigkeit an die Umstände anpassen und auf Sichtweite anhalten können. Bei der hier gefahrenen Geschwindigkeit konnte der Velofahrer den Aufprall nicht vermeiden, selbst wenn er wirksam gebremst oder versucht hätte, den Fussgänger zu umfahren, wenn dieser nicht stillgestanden wäre. Zudem musste der erfahrene und ortskundige Velofahrer mit der Möglichkeit einer Gefahr am Ausgang der Kurve rechnen.
Daher wählte er keine den Umständen angemessene Geschwindigkeit. Zur Unterbrechung des adäquaten Kausalzusammenhangs wäre ein aussergewöhnliches oder unvorhersehbares Verhalten des Fussgängers nötig. Weder die Anwesenheit eines Fussgängers an einem Sommerabend auf einer Touristenstrasse im Lavaux noch dessen Kehrtwende bei der plötzlichen Gefahr seien aussergewöhnlich oder unvorhersehbar.
2. Verantwortlichkeit bei Arbeitsunfall
2.1 Mit Fehlern von Arbeitern ist zu rechnen
In 6B_197/2021 war die Strafbarkeit eines Abteilungsleiters und Sicherheitsverantwortlichen für den Tod eines Mitarbeiters streitig. Dieser kam ums Leben, weil sich Gas bei der Befüllung eines Containers entzündete, der kein Erdungskabel zur Ableitung elektrostatischer Ladungen hatte. Der Container explodierte. Gemäss Bundesgericht hätte der Unfall durch einfache Massnahmen verhindert werden können. Die entsprechenden Unterlassungen seien eine strafbare Pflichtverletzung.
Zwar habe die Arbeitgeberin über zwei Jahre vor dem Unfall beschlossen, alle gefährlichen Container zu entsorgen. Bis zum Unfall habe der Beschuldigte diesen Beschluss aber nicht konsequent umgesetzt. Er habe gewusst, dass noch gefährliche Container existierten. Es reiche nicht, die Mitarbeiter anzuhalten, das Vorhandensein eines kleinen und leicht übersehbaren Erdungskabels bloss zu überprüfen und dies nicht einmal zu visieren. Diese einzige vom Beschuldigten eingeleitete Massnahme genüge nicht, weil mit Fehlern gerechnet werden müsse. Der Beschuldigte hätte die Angestellten besser in Gefahrenabwehr schulen müssen.
2.2 Umfang der Sicherung einer Baustelle
In 6B_64/2023 ging es um die strafrechtliche Verantwortlichkeit im Rahmen der Absperrung einer Baustelle. Eine Strasse musste gesperrt werden, um ein Kabel zu ziehen. Dazu stellte die Gemeinde Absperrgitter des Typs «Vauban» zur Verfügung. Zudem wurde von den am Bauprojekt Beteiligten (inklusive Vertreter der Gemeinde) vereinbart, Warnplakate im Format A3 mit Hinweis über die Strassensperrung an den Absperrgittern anzubringen. Zusätzlich wurden die Bauarbeiten im Amtsblatt publiziert. Die Bauarbeiter stellten daraufhin bei jedem Ziehen eines Kabels vor und hinter diesem ein Absperrgitter quer über die Strasse.
Sie taten dies auch im August 2023, ohne dass aber auf dem Absperrgitter die Warnplakate im Format A3 angebracht worden wären. Auch stellte der Chefmonteur und Baustellenverantwortliche kein Schild zur Ankündigung der Baustelle oder Strassensperrung vor dem Absperrgitter auf. An diesem Tag gegen 18.50 Uhr fuhr ein Velofahrer durch. Er kollidierte mit dem Absperrgitter, stürzte und starb. Er hinterliess eine Witwe und zwei Kinder. Diese konstituierten sich im Strafverfahren als Nebenkläger.
Das Bundesgericht schützt die kantonale Verurteilung des Chefmonteurs und Baustellenverantwortlichen wegen fahrlässiger Tötung: Die Schaffung einer Gefahrensituation durch die Absperrung einer Verkehrsstrasse ohne nötige Schutzmassnahmen sei keine Unterlassung, sondern ein aktives Handeln in Form der Errichtung von ungenügenden Schutzvorrichtungen.
Wenn auf einer Durchfahrtsstrasse Bauarbeiten nötig sind, genügt es nicht, die Baustelle mit grauen Absperrgittern mit Warnplakaten im Format A3 zu sichern. Notwendig wären gemäss einschlägigen Normen und Richtlinien rot-weiss gestreifte Vorrichtungen und zusätzlich Warnschilder 50 Meter vor der Baustelle, um eine Sichtbarkeit aus Distanz sicherzustellen. Diese fehlenden Sicherheitsvorkehrungen führen zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Chefmonteurs der Baustelle.
2.3 Zwingende Schulung an gefährlichen Maschinen
6B_1058 und 6B_1072/2022 drehten sich um einen tödlich verunfallten Hilfsarbeiter. Der Mann hatte an einer Hubarbeitsbühne alleine Reinigungsarbeiten durchgeführt. Er klemmte seinen Hals zwischen einem Kabelkanal und dem Geländer der Hubarbeitsbühne ein und erstickte. Gegen den vorgesetzten Teamleiter sowie den geschäftsführenden Inhaber des Unternehmens ergingen Strafbefehle wegen fahrlässiger Tötung: Diese hatten zuvor keine Ausbildungsbestätigung für die Arbeit mit Hubarbeitsbühnen eingefordert, die diesbezügliche Berufserfahrung nicht abgeklärt, aber den Hilfsarbeiter trotzdem eingestellt und ihm den Reinigungsauftrag an der Hubarbeitsbühne erteilt.
Alle Gerichte inklusive Bundesgericht schützen die Verurteilung: Die Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit (Ekas) stelle Richtlinien zur Arbeitssicherheit auf. Befolgt der Arbeitgeber diese, indiziere dies die Einhaltung der Arbeitssicherheit. Hubarbeitsbühnen erfordern gemäss Ekas eine theoretische und eine praktische Grundausbildung durch einen fachkundigen Ausbildner mit Abschlussprüfung. Die Nichteinhaltung einer Richtlinie führt nicht automatisch zu einer Sorgfaltspflichtverletzung, ist aber ein Indiz dafür. Eine einstündige Instruktion ist ungenügend, ebenso eine einwöchige praktische Erfahrung unter Supervision.
Das Einklemmen sei eine der Hauptunfallursachen von Hubarbeitsbühnen und für den Arbeitgeber ein vorhersehbares Risiko. Unterlassene Abklärungen des Arbeitgebers zur konkreten Ausbildung und Berufserfahrung des Verunfallten seien geeignet gewesen, dessen Unfalltod herbeizuführen oder zu begünstigen. Die vorliegend erfolgte kurze Einführung an der Hubarbeitsbühne ersetze eine risikogerechte Ausbildung (mit Hinweis auf die Einklemmgefahr) ebenso wenig wie eine allenfalls langjährige Bedienung und damit Erfahrung von Hubarbeitsbühnen ohne Zwischenfälle durch das Opfer.
Auch der hypothetische Kausalzusammenhang sei erstellt: Hätte der Arbeitgeber bei der Anstellung des Opfers dessen Ausbildungsnachweis überprüft und dabei festgestellt, dass dieses nicht für Arbeiten mit Hubarbeitsbühnen ausgebildet war, so hätte er ihn für solche Arbeiten auch nicht eingestellt, und es wäre nicht zum Unfall gekommen. Wenn sich eine mit einer Arbeit verbundene Hauptgefahr verwirkliche, könne das Selbstverschulden des ungeschulten Hilfsarbeiters den adäquaten Kausalzusammenhang nicht unterbrechen.
2.4 Garantenstellung gegenüber Dritten
Gemäss Urteil 7B_744/2023 ist die Garantenstellung unabhängig vom Bestehen eines rechtlichen Unterordnungsverhältnisses zu Personen, die gefährdet werden können. Sie besteht somit auch gegenüber Dritten. Das Bundesgericht bejaht eine Garantenstellung eines Bauingenieurs, der eine Baustelle leitete und beaufsichtigte, auch gegenüber einem verunfallten Dritten, der nicht mit ihm oder mit seiner Arbeitgeberin in einem Vertragsverhältnis stand.
2.5 Ohne Grobfahrlässigkeit kein Rückgriff auf Betrieb
In einem Getränkelager gab es direkt vor einem Warenlift eine Bodenöffnung mit einer potenziellen Sturzhöhe von 4 Metern, abgedeckt durch ein Metallgitter. Darunter befand sich eine Styroporplatte. Der Leiter des Getränkelagers und eine studentische Aushilfskraft hatten das Metallgitter zur Reinigung abgenommen und nicht wieder montiert. Ein Mitarbeiter stürzte durch die Styroporabdeckung und wurde invalid. IV und AHV klagten im Regress gegen den Arbeitgeber auf Schadenersatz. Alle Instanzen bis und mit Bundesgericht wiesen die Klage ab: Gemäss 4A_383/2022 muss ein Organ einer juristischen Person grobfahrlässig handeln, damit das Regressprivileg des Arbeitgebers durchbrochen wird.
Es genügt nicht, wenn eine Hilfsperson grobfahrlässig handelt. Der Leiter des Getränkelagers sei mangels Geschäftsführungskompetenz kein faktisches Organ, und er werde auch keines durch eine an ihn delegierte Putzaktion. Der Geschäftsführer habe zwar vom Plan gewusst, das Gitter zu putzen, aber er habe dessen Entfernung nicht angeordnet. Somit sei ihm die Notwendigkeit der Entfernung nicht bewusst gewesen. Er habe somit die Gefahrenlage nicht selbst geschaffen und daher auch nicht Verhinderungsmassnahmen treffen müssen. Weil weder der Arbeitgeber noch dessen Organe den Berufsunfall herbeigeführt hätten, bestehe nach Artikel 75 Absatz 2 ATSG kein Rückgriffsrecht der Sozialversicherungen auf den Arbeitgeber.
Mit dieser eher engen Auslegung des Organbegriffs drohen künftig Prozesse der Sozialversicherungen direkt gegen grobfahrlässig handelnde Arbeitnehmer. Deren Privathaftpflichtversicherung deckt berufliche Schädigungen nicht. Fraglich ist sodann, ob der schädigende (Nichtorgan-) Arbeitnehmer dafür gegenüber seinem Arbeitgeber aus Artikel 321e OR einen Freistellungsanspruch hat; pikanterweise hätte der Arbeitgeber dafür nach altem VVG üblicherweise keine Deckung in der Betriebshaftpflichtversicherung. Damit fiele der Schaden am Ende trotzdem auf den eigentlich privilegierten Arbeitgeber zurück. Ob beides sinnvoller ist als eine etwas weitere Auslegung des Organbegriffs, erscheint fraglich.
3. Vorsicht bei Kindern auf Skipiste
In 7B_51/2022 schützte das Bundesgericht den Schuldspruch eines Skifahrers wegen fahrlässiger Körperverletzung eines Kinds in einer Skischule. Die Schneeverhältnisse waren sehr schlecht, und es gab viele Benutzer der blauen – einfachen –, eher schmalen Piste. Der Beschuldigte hatte selbst acht Jahre Erfahrung als Skilehrer. Er hatte einen Skilehrer mit einer Gruppe von Kindern gesehen, die in der Pistenmitte standen. Aus dem linken Augenwinkel hatte er zudem talwärts eine Gruppe Skifahrer abseits der Piste erkannt. Gleichwohl fuhr er zwischen dem Pistenrand und der (mittigen) Gruppe hindurch.
Dabei kollidierte er mit einer siebenjährigen Skischülerin, die – talwärts vor ihm – eine Übung machte, bei der sie von neben der Piste senkrecht auf die Piste zu ihren Kameraden und ihrem Skilehrer fuhr. Das Verhalten des Skifahrers sei fahrlässig gewesen: Bei seiner Durchfahrt habe er eine erhöhte Sorgfaltspflicht und in Betracht ziehen müssen, dass weitere Kinder zur Gruppe stossen könnten, gegebenenfalls, indem er seinen eigenen Kurs verändert. Sein Verhalten (Geschwindigkeit, Richtung und Spur) sei nicht den Umständen angepasst gewesen. Die Sorgfaltspflicht wurde durch die erblickten zwei Gruppen von Kindern, eine davon mit Skilehrer, und deren zu erwartendem Verhalten erhöht.
Damit habe er die FIS-Regeln 2 (Fahren auf Sicht; Beherrschung von Geschwindigkeit und Fahrweise) und 3 (Wahl der Fahrspur so, dass vorfahrende Skifahrer nicht verletzt werden) missachtet. Im Rahmen des Kausalzusammenhangs könne sich der Beschuldigte nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, wenn er behauptet, der Unfall habe sich ereignet, weil das Kind gegen die FIS-Regel 5 verstossen habe, indem es von ausserhalb der Piste aus senkrecht zur Piste losfuhr, ohne vor dem Losfahren nach oben zu schauen: Selbst wenn das Verhalten des erst sieben Jahre jungen Opfers schuldhaft gewesen wäre, war es nicht genügend unvorhersehbar, um den adäquaten Kausalzusammenhang zu unterbrechen.
Es sei insbesondere bei Anfängern auf der blauen Piste häufig, dass ein Kind sich nicht an die FIS-Regeln halte. Ein allfälliger Fehler des Skilehrers, der seinen Schülern diese Übung vorgeschlagen hatte, welche die Vorfahrtsregeln nicht beachten konnten, ändert nichts am Fahrfehler des Beschuldigten und unterbricht den adäquaten Kausalzusammenhang nicht.
4. Fehlverhalten von Kindern
In 6B_817/2023 ging es um die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Ehrenpräsidenten eines Reitklubs. Wegen starken und anhaltenden Regens stand der Reitplatz unter Wasser. Der Beschuldigte stellte fest, dass das Gitter eines Überlaufschachts verstopft war, weshalb er es entfernte. Anschliessend steckte er einen 10 Zentimeter dünnen, 3,5 Meter langen Holzpfosten in den 0,8 Meter tiefen Schacht, um auf diesen hinzuweisen, und legte einen weissen Klotz auf das nebenan liegende Schachtgitter. Danach entfernte er sich.
Er wusste, dass sich neben dem Reitplatz – auf einem Damm – ein von Fussgängern stark frequentiertes Trottoir und in unmittelbarer Nähe eine städtische Parkanlage samt Spielplatz befinden. Gut zwei Stunden später spazierten zwei Mütter mit ihren Kindern und Kleinkindern neben dem Reitplatz vorbei. Zwei der Kinder liefen dabei fuss- bis knietief der Wasserlinie entlang. Plötzlich fiel eines der zwei Kinder in den Überlaufschacht und wurde vom Wassersog in das Abflussrohr gesogen. Nach 20 Minuten konnte es gerettet werden. Der Bub erlitt eine schwere Hirnschädigung. Die kantonalen Gerichte sprachen den Ehrenpräsidenten der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig: Gemäss Obergericht wusste er von der beträchtlichen Sogwirkung des Überlaufschachts.
Auch habe er die Gefährlichkeit erkannt und daher die manipulierte Stelle zur Warnung gekennzeichnet. Wegen des nahe gelegenen frequentierten Spazierwegs mit Parkanlage und Spielplatz hätte er vorhersehen müssen, dass er damit eine Gefahr schafft und dass Kinder in den Schacht gelangen könnten. Er habe insbesondere als dreifacher Vater wissen müssen, dass Wasser Kinder fasziniert und sie regelmässig damit spielen.
5. Medizinalhaftung
5.1 Umfang der Aufklärung
In 4A_415/2023 klagte eine Patientin gegen ihre Ärztin auf Schadenersatz und Genugtuung: Die Patientin litt unter Hämorrhoiden. Bei der Erstkonsultation einer Arztpraxis vereinbarte sie mit der Ärztin, am nächsten Tag eine Darmspiegelung durchzuführen. Zur Aufklärung gab die Ärztin der Patientin ein Informationsblatt (Fragenkatalog und vorgedruckte Einwilligungserklärung) mit. Tags darauf brachte die fremdsprachige Patientin die Erklärung ausgefüllt und unterzeichnet in die Praxis. Ohne weitere mündliche Aufklärung führte die Ärztin die Darmspiegelung durch.
Dabei fand sie zufällig einen Polypen, entfernte diesen und behandelte anschliessend die Hämorrhoiden. In der Folge litt die Patientin unter Schmerzen, weiteren Beschwerden und musste schliesslich in einem Spital wegen eines Abszesses notoperiert werden. Sie machte eine Verletzung der Aufklärungspflicht geltend: Bei der anlässlich der Darmspiegelung erfolgten Entfernung des Polypen sei die Darmwand durchbohrt worden, was zu Langzeitbeschwerden führte. Sie habe zwar der Darmspiegelung, nicht aber der Entfernung des Polypen zugestimmt, weshalb Letztere rechtswidrig gewesen sei.
Alle Gerichte wiesen die Klage ab. Zwar sei die Patientin nicht ausreichend in einer ihr verständlichen Sprache über die Behandlung und deren Risiken aufgeklärt worden. Doch vermöge die Ärztin mit dem Einwand der hypothetischen Einwilligung darzulegen, dass sich die Patientin auch bei gehöriger Aufklärung für die Operation entschieden hätte. Es genüge nicht, wenn ein Patient im Sinne eines Rückschaufehlers nach Komplikationen behaupte, er hätte bei gehöriger Aufklärung nicht in die Behandlung eingewilligt. Bei besonders riskanten oder mit Nebenwirkungen behafteten Behandlungen seien Vor- und Nachteile individuell abzuwägen, dies im Gegensatz zu wenig riskanten Routineeingriffen.
Umso plausibler müsse ein Patient bei einem Routineeingriff darlegen, dass und wieso er die Behandlung bei umfassender Aufklärung verweigert oder mindestens aufgeschoben hätte. Hier habe die Patientin in den Eingriff selbst (Darmspiegelung) eingewilligt, nicht aber in das Ausmass der Behandlung (Ausweitung auf Entfernung von allfälligen Polypen). Ein Polyp führe potenziell zu Darmkrebs. Die Wahrscheinlichkeit einer Perforation der Darmwand sei bei dessen Entfernung ähnlich klein wie bei einer Darmspiegelung.
Es fehlten persönliche Gründe, Haltungen oder Überzeugungen zur Plausibilisierung, dass die Klägerin bei gehöriger Aufklärung damals in einen echten Entscheidungskonflikt geraten wäre und die (medizinisch indizierte, aber nicht dringende) Polypen-Entfernung abgelehnt oder aufgeschoben hätte.
Gemäss Urteil 4A_614/2021 muss der Arzt nachweisen, dass er den Patienten vor dem Eingriff ausreichend informiert und dessen Einwilligung eingeholt hat. Macht der Arzt bei unterlassener Einwilligung eine hypothetische Einwilligung geltend, welche den Eingriff rechtmässig macht, so trägt er die Beweislast dafür. Allerdings muss der Patient an diesem Beweis mitwirken, indem er jene persönlichen Gründe glaubhaft macht oder zumindest behauptet, welche ihn – bei gehöriger Risikoaufklärung – zur Ablehnung der Operation bewogen hätten.
Massgeblich ist dabei nicht das abstrakte Modell eines «vernünftigen Patienten», sondern dessen persönliche konkrete Situation. Nur wenn dieser keine persönlichen Gründe anführt, die ihn zur Ablehnung der vorgeschlagenen Operation veranlasst hätten, ist objektiv zu prüfen, wie sich ein vernünftiger Patient nachvollziehbarerweise verhalten hätte.
Eine hypothetische Einwilligung darf aber grundsätzlich nicht angenommen werden, wenn die Art und Schwere des eingegangenen Risikos einen erhöhten Informationsbedarf erfordert hätte, welchen der Arzt nicht eingehalten hat: Diesfalls ist es plausibel, dass der Patient bei vollständiger Aufklärung einen echten Entscheidungskonflikt gehabt und um Bedenkzeit gebeten hätte. Die Beurteilung, ob eine hypothetische Einwilligung bejaht wird, ist eine Rechtsfrage. Diese kann auch bejaht werden, wenn die vom Patienten angegebenen Gründe gegen eine solche unbestritten bleiben (Urteil 4A_415/2023).
5.2 Schwieriger Rechtsweg für Patienten
Im Urteil 4A_366/2022 ging es um eine Staatshaftung eines öffentlichen Spitals im Kanton Freiburg. Gemäss dem kantonalen Staatshaftungsrecht gilt für Schadenersatzforderungen von Patienten ausschliesslich kantonales öffentliches Staatshaftungsrecht. Dieses setze für eine Haftung kein Verschulden voraus. Darüber hinaus werfen die Grundvoraussetzungen für die Arzthaftung aber, unabhängig davon, ob sie auf Privatrecht oder öffentlichem Recht beruhen, dieselben Fragen auf.
Zudem sei die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Recht für Patienten nicht immer klar erkennbar, zumal private Ärzte bei fortlaufender Behandlung ihre Patienten mitunter auch in ein öffentliches Krankenhaus schicken, während umgekehrt Ärzte in öffentlichen Spitälern auch Privatpatienten behandeln. Zudem führe eine Arzthaftung nach kantonalem öffentlichem Recht zu mit dem Zivilrecht zusammenhängenden Entscheidungen im Sinne von Artikel 72 Absatz 2 litera b BGG (BGE 133 III 462).
Deshalb, sowie um eine einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen, sei vor Bundesgericht für all diese Fälle derselbe Rechtsmittelweg anzuwenden. Daher gelte vor Bundesgericht auch für einen solchen kantonalen Entscheid über eine Staatshaftung das Rechtsmittel der Beschwerde in Zivilsachen mit Streitwertgrenze.
Das Urteil 4A_614/2021 zeigt exemplarisch auf, in welcher anspruchsvollen Situation Patienten stecken, wenn sie entscheiden müssen, wen sie nach einem Behandlungsfehler nach welcher Norm ins Recht fassen. Sind dies ein Arzt oder mehrere Ärzte, das Pflegepersonal, die Klinik oder alle zusammen? Privatrecht, öffentliches Recht – oder beides? Eine Patientin mit Kinderwunsch konsultierte im Kanton Waadt einen Gynäkologen in dessen Privatpraxis. Bei der Untersuchung entdeckte dieser gutartige Geschwulste in der Gebärmutter und schlug eine operative Entfernung in einem Spital vor, in dem er als Chefarzt arbeitete.
Die Operation erfolgte dort unter der Aufsicht des Gynäkologen, wobei ein anderer Arzt operierte. Am Tag danach kam es zu Blutungen mit Reoperation und Komplikationen. Im Haftpflichtprozess der klagenden Patientin war die Passivlegitimation des Gynäkologen streitig, welche das Bundesgericht verneinte: Der Kanton Waadt statuiere im Rahmen von Artikel 61 Absatz 1 OR eine ausschliessliche Kausalhaftung des Staats für Ärzte, die in öffentlichen Spitälern operieren. Bei der Behandlung in einem Privatspital ist zu prüfen, ob einzig ein Vertrag mit dem Spital (totaler Spitalaufnahmevertrag) besteht oder ob je ein Vertrag mit dem Spital und einer mit dem Belegarzt abgeschlossen wurde (gespaltener Spitalaufnahmevertrag).
In der ersten Variante muss die Patientin gegen das Spital klagen, das für den Chirurgen nach Artikel 101 OR haftet. Bei einem gespaltenen Spitalaufnahmevertrag kann die Patientin direkt gegen den Chirurgen klagen. Nur weil hier der Gynäkologe die Patientin zuerst in seiner eigenen Arztpraxis behandelte, bestehe bezüglich Operationen kein direkter Vertrag zwischen Patientin und Gynäkologe. Zusätzlich hätte die Patientin aufzeigen müssen, dass die Operationen in einem Privatspital durch den Gynäkologen als unabhängigen Belegarzt gestützt auf zwei Verträge durchgeführt wurden und dass zusätzlich der Gynäkologe nicht Hilfsperson des Spitals war, was sie unterlassen habe.
6. Anwaltshaftung
6.1 Hypothetischer Prozessausgang
In 4A_141/2022 wies das Bundesgericht eine Schadenersatzklage mangels natürlichen Kausalzusammenhangs ab. Die Klägerin erlitt 1992 als Beifahrerin bei einer Seitwärtskollision zwischen zwei Autos ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule. Bis zur rechtskräftigen Feststellung im Strafverfahren, welcher der beiden Autofahrer die Schuld trage, dauerte es über 15 Jahre. Unterdessen liess ihr Anwalt Ansprüche auf Schadenersatz gegen den schuldhaften Autofahrer verjähren. Daher klagte sie gegen ihren ehemaligen Anwalt auf Schadenersatz.
Die kantonalen Gerichte bejahten eine Sorgfaltspflichtverletzung, verneinten aber einen Schaden: Die anwaltliche Prozessführung gehöre in der Regel nicht zur Kategorie der Aufträge, bei denen sich der Erfolg allein mit genügendem Fachwissen und hinreichendem Einsatz des Anwalts nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ohne weiteres erreichen lasse. Das Ergebnis eines Prozesses hänge oft von Umständen ab (etwa Inhalt und Überzeugungskraft einer Zeugenaussage, Schlussfolgerungen des Gerichtsexperten, Bestreitungen durch Gegenpartei).
Diese Umstände seien bei Mandatsübernahme noch nicht bekannt und bisweilen kaum abschätzbar. Aus der vorbehaltlosen Mandatsannahme durch den beklagten Anwalt könne die Klägerin daher noch nichts über die Erfolgsaussichten ableiten. Das Bundesgericht äussert sich lesenswert zur Beweislast des hypothetischen Prozessausgangs bei Nichtverjährung sowie einer möglichen tatsächlichen Vermutung eines Erfolgs (ohne eigentliche Umkehr der Beweislast). Das gewöhnliche Prozessrisiko des Erstprozesses könne die Klägerin nicht auf den Anwalt verlagern (BGE 127 III 357).
Der Schaden aus dem Unfall sei nicht nachgewiesen. Daran änderten eine tatsächliche Vermutung eines hypothetischen Prozesserfolgs bei Nichtverjährung oder eine Beweislastumkehr nichts. Es gebe bei den klägerischen Angaben zu den Unfallfolgen Inkonsistenzen (beispielsweise bezüglich Zustands unmittelbar nach dem Unfall und Anzahl Arztbesuche) sowie im Gutachten nur ungenügend plausibilisierte Patientenangaben. Daher durften die kantonalen Gerichte von Gutachten aus dem Sozialversicherungsverfahren und eines Zivilgerichts abweichen, ohne willkürlich den natürlichen Kausalzusammenhang zu verneinen. Auch wenn der beklagte Anwalt sein Mandat sorgfältig ausgeübt hätte, hätte die Klägerin daher keinen Schadenersatz von der Motorfahrzeughaftpflichtversicherung des Verursachers erhalten.
7. Tierhalter
7.1 Strenger Massstab bei Kampfhund
In den Fällen 6B_1333/2022 und 6B_1353/2022 hatte ein Arbeiter Elektroarbeiten im Aussenbereich des Anwesens einer Familie getätigt. Diese hielt zwei argentinische Doggen. Diese Hunderasse ist potenziell gefährlich (in den Kantonen Wallis und Genf verboten; auf 10 von 13 kantonalen Rasselisten). Zudem hatten diese beiden Kampfhunde ein Jahr vorher einen Nachbarn gebissen, sodass der Kantonstierarzt intervenieren und Sicherheitsmassnahmen verstärkt werden mussten (zusätzliche Gartentore und Warnschilder am Eingang). Haupthalter der Hunde war der Sohn der Familie. Dieser verliess das Grundstück und gab sie seinem damals 71 Jahre alten Vater mit der einzigen Sicherheitsanweisung, die Hunde im Haus eingeschlossen zu halten, bis der Arbeiter seine Tätigkeit beendet hatte.
Der Arbeiter ging in die Mittagspause. Der Vater liess die Haustür offen und schloss das Zwischentor nicht, obschon er die potenziell gefährliche Natur der Hunde kannte und wusste, dass der Arbeiter zurückkehren und möglicherweise (wie zuvor auch schon mehrmals) direkt in den Garten gehen würde. Die Hunde gelangten zum Haupttor. Als der Arbeiter zurückkam, klingelte er am Haupttor, wartete aber nicht darauf, abgeholt zu werden. In diesem Moment entglitten die Hunde der Kontrolle des Vaters des Haupthalters und verliessen das Haus durch das halb geöffnete Tor, attackierten den Arbeiter und verletzten ihn schwer.
Das Bundesgericht schützt den kantonalen Schuldspruch gegen den Haupthalter und seinen Vater wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und Verstosses gegen das Tierschutzgesetz: Der Vater des Haupthalters erlangte Garantenstellung durch seine Bereitschaft, die Hunde zu beaufsichtigen und die faktische Kontrolle über sie zu übernehmen. Daher seien der Haupthalter und sein Vater verpflichtet gewesen, die notwendigen und nützlichen Massnahmen zur Unfallverhütung zu ergreifen. Gemäss Artikel 56 Absatz 1 OR hafte der Tierhalter, wenn er nicht beweise, dass er das Tier mit der nötigen Sorgfalt verwahrt und beaufsichtigt habe.
Gemäss kantonalem Hundepolizeigesetz müsse jeder Hundehalter in der Lage sein, das Tier jederzeit akustisch oder durch Gesten zu beherrschen, insbesondere in Gegenwart von Menschen. Andernfalls muss der Hund an der Leine geführt und wenn nötig mit Maulkorb ausgestattet werden.
8. Staatshaftung
8.1 Qualifizierter Fehler nötig
Im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts A-2418/2021 war die Staatshaftung der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) für einen Schaden aus einer falschen Verfügung streitig. Die Finma hatte eine Aktiengesellschaft wegen angeblich schwerer Verletzungen aufsichtsrechtlicher Bestimmungen (unbewilligter Effektenhandel) aufgelöst, liquidieren lassen und gegen den Geschäftsführer (und einzelzeichnungsberechtigten Verwaltungsratspräsidenten und -delegierten) eine Unterlassungsanweisung verfügt. Die Aktiengesellschaft und der Geschäftsführer wehrten sich dagegen erfolgreich vor Gericht.
Daraufhin stellte die Finma das Verfahren ein und ordnete die Rückabwicklung des Konkurses an. Der Geschäftsführer beantragte Schadenersatz. Die Finma wies das Schadenersatzgesuch ab. Dagegen wehrte sich der Geschäftsführer vor Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies die Beschwerde ab. Die Finma hafte verschuldensunabhängig (Artikel 3 und 19 VG). Voraussetzung sei allerdings –nebst Schaden, Tun oder Unterlassen eines Bundesbeamten durch amtliche Tätigkeit, adäquatem Kausalzusammenhang – ein widerrechtliches Verhalten in Fom einer wesentlichen Amtspflichtverletzung. Nicht jede geringfügige Amtspflichtverletzung begründe eine Haftung.
Nötig sei vielmehr ein eindeutiger und gravierender Fehler im Kernbereich der Aufgaben. Bei der Beurteilung dieser qualifizierten Widerrechtlichkeit sei ein Rückschaufehler zu vermeiden; es gelte eine Ex-ante-Sichtweise. Die hiesigen Handlungen der Finma hätten zwar auf einem unvollständig erhobenen Sachverhalt beruht. Dieser sei allerdings mit internationalem Bezug und schwierigen personellen und wirtschaftlichen Verflechtungen von Unternehmungen komplex gewesen. Eine wesentliche Amtspflichtverletzung verneinte das Bundesverwaltungsgericht daher.
9. Prozessuales und Beweis
9.1 Gemeinsames Gerichtsgutachten nur bei Schiedsabrede verbindlich
In 4A_200/2023 ging es um eine streitige Arzthaftung. Eine Patientin machte gegenüber einem Spital einen Behandlungsfehler (verspätete Wirbelsäulenoperation nach Bandscheibenvorfall) geltend. Zu dessen Klärung erteilten die Patientin und das Spital einem medizinischen Gutachter gemeinsam einen Auftrag und teilten die Kosten hälftig. Gestützt auf das Gutachten klagte die Patientin und machte unter anderem geltend, es liege ein bezüglich des Behandlungsfehlers verbindliches Schiedsgutachten gemäss Artikel 189 ZPO vor.
Das Bundesgericht verneinte den Beweiswert des Gutachtens als Schiedsgutachten: Nötig dafür sei der von der Klägerin zu beweisende gemeinsame Wille beider Parteien, die Feststellungen des Gutachters als verbindlich anzuerkennen. Dies sei nicht schon dann der Fall, wenn die Parteien ein Gutachten gemeinsam in Auftrag geben und die Kosten halbieren. Weil die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren nicht rechtzeitig ein Gerichtsgutachten beantragt habe, müsse das Gericht auch kein eigenes Gutachten erstellen.
Ab 2025 (ZPO-Revision) sind Privatgutachten nicht mehr blosse Parteibehauptungen, sondern werden wie Urkunden behandelt (Artikel 177 ZPO). Damit sind sie ein zulässiges Beweismittel, das frei zu würdigen ist.
9.2 Personenschaden eines Alleininhabers
In 4A_341/2023 beurteilte das Bundesgericht, ob der einzige Gesellschafter einer GmbH einen Schaden aus einem Autounfall nachgewiesen hatte: Er war ein Jahr arbeitsunfähig und hatte gegen die Motorfahrzeughaftpflichtversicherung der Unfallverursacherin auf Schadenersatz für den Erwerbsausfall geklagt: Er und seine Ein-Personen-GmbH seien eine wirtschaftliche Einheit. Sein Schaden entspreche der Gewinneinbusse der GmbH, den eingebrochenen Dividenden und dem entgangenen Lohn. Die Gerichte wiesen die Klage mangels genügender Substanziierung ab.
Eine juristische Person sei rechtlich selbständig. Dies sei grundsätzlich strikte zu beachten, trotz übereinstimmender wirtschaftlicher Interessenlage zu deren beherrschendem Alleingesellschafter. Nur wenn die rechtliche Selbständigkeit dazu diene, Vorschriften missbräuchlich zu umgehen, sei ausnahmsweise ein Durchgriff zulässig. Nur Dritte profitierten von einem Durchgriff, nicht aber die Gesellschaft und deren Alleininhaber.
Nichts daran ändere die Gerichtspraxis im Sozialversicherungsrecht, wo die Invaliditätsbemessung wegen der wirtschaftlichen Einheit analog zu jener bei Selbständigerwerbstätigen erfolge. Der verunfallte Kläger habe wie ein Angestellter weiterhin praktisch denselben Lohn und die GmbH die Taggelder der Unfallversicherung bezogen. Die Lohneinbusse sei nicht nachgewiesen, ebenso wenig die entgangene Dividende.
Aus anwaltlicher Sorgfaltspflicht führt zwecks entsprechenden Schadensnachweises künftig kaum ein Weg an einer Expertise vorbei (Auswertung der Buchhaltung, Berücksichtigung von Umsatz, Gewinn, Dividende, Privatbezügen, Lohn abzüglich Taggeld, Bewertung Wertverlust der Stammanteile, alles bezogen auf die konkrete Situation mit Unfall und die hypothetische Situation ohne Unfall). Bei temporärer Arbeitsunfähigkeit ist dies angesichts der hohen Kosten solcher Expertisen kaum je verhältnismässig, weshalb Geschädigten droht, auf einem solchen Schaden sitzen zu bleiben.
9.3 Rechtsmittellegitimation der Privatklägerin im Strafprozess
Im Entscheid 6B_339/2022 standen sich die Hinterbliebenen einer bei einem Autounfall verstorbenen Fussgängerin (als Privatkläger) und der beschuldigte Autofahrer gegenüber. Streitig war, ob die Privatkläger legitimiert sind zu einer Beschwerde, wenn der beschuldigte Autofahrer zwar freigesprochen wird, das Strafurteil betreffend Adhäsionsklage aber eine grundsätzliche Haftbarkeit aus Betriebsgefahr feststellt und die Privatkläger masslich auf den Zivilweg verweist.
Das Bundesgericht verneint ein Rechtsschutzinteresse: Denn der angefochtene Entscheid kann sich auf die Beurteilung der im Strafverfahren adhäsionsweise geltend gemachten oder noch geltend zu machenden Zivilforderungen dann nicht mehr auswirken, wenn das Strafverfahren im Zivilpunkt bereits erledigt ist, weil die Zivilforderungen etwa rechtskräftig auf den Zivilweg verwiesen wurden (6B_1192/2021). Hier hätten die Privatkläger den kantonalen Entscheid betreffend Zivilansprüche vor Bundesgericht nicht angefochten, womit dieser rechtskräftig erledigt sei. Deshalb könne sich der Freispruch nicht auf die Zivilansprüche auswirken, und es bestehe keine Rechtsmittellegitimation.
Nichts daran ändere, dass ein Verschulden relevant sein könnte für die Höhe des Genugtuungsanspruchs: Ob und inwieweit sich ein rechtskräftiges Strafurteil auf die Zivilforderungen auswirke, beurteile sich nach Artikel 53 OR und sei für die im Strafverfahren zwingend vorausgesetzte Rechtsmittellegitimation nach Artikel 81 Absatz 1 litera b Ziffer 5 BGG nicht relevant.
9.4 Verjährungsrecht und Prozessdauer verletzen die EMRK
Die juristische Aufarbeitung der Asbestskandale nimmt kein Ende. Bekanntlich unterlag die Schweiz 2014 vor dem EGMR, weil das damalige Verjährungsrecht die EMRK verletzte. Asbestopfer erkranken ab Exposition gerechnet erst nach Ablauf der absoluten Verjährungsfrist an Brustfellkrebs. Dies verunmöglicht es, die Haftung gerichtlich beurteilen zu lassen, weil der Schaden noch gar nicht bekannt ist, bis die Verjährung eintritt. Im Verfahren Jann-Zwicker und Jann gegen die Schweiz (4976/20) klagten die Hinterbliebenen eines Betroffenen, der in den 1960er- und 1970er-Jahren während elf Jahren nahe einer Fabrik der Eternit AG gewohnt und als Bub in seiner Freizeit auf dem Fabrikareal herumgeklettert war und gespielt hatte. Die von ihm bewohnte Wohnung hatte ebenfalls die Eternit AG vermietet.
1989 verbot die Schweiz die Verwendung von Asbest. Der Betroffene starb 2006 an einem Brustfellkrebs. 2006 endete ein Strafverfahren negativ. 2009 erhoben die Hinterbliebenen Zivilklage gegen Eternit, welche das Bundesgericht 2019 wegen Ablauf der zehnjährigen Verjährungsfrist abwies. Per 2020 wurde die Verjährungsfrist auf 20 Jahre angehoben (Artikel 60 Absatz 1bis OR; was aber hier ebenfalls nicht ausreicht zu einer gerichtlichen Beurteilung). 2020 gelangten die Hinterbliebenen an den EGMR. Dessen kleine Kammer hiess die Beschwerde einstimmig rechtskräftig gut und stellte fest, dass es keine wissenschaftlich anerkannte maximale Latenzzeit zwischen Asbestexposition und Brustfellkrebs gibt.
Die Latenzzeiten variierten zwischen 15 und 45 Jahren (oder mehr) nach der Exposition. In einer solchen Konstellation verunmögliche das Schweizer Verjährungsrecht einen Zugang zu einer gerichtlichen Beurteilung der Schadenersatzansprüche. Dies und die lange Verfahrensdauer (insbesondere vorübergehende Verfahrenssistierung in Erwartung der Gesetzesreform zur Verjährung) verletzten das Recht auf ein faires Verfahren (Artikel 6 Absatz 1 EMRK).
Die neue absolute strafrechtliche Verjährungsfrist von 20 Jahren genügt bei einer durchschnittlichen Latenzzeit von 15 bis 45 Jahren oft nicht, damit Betroffene rechtzeitig klagen können. Damit dürften weitere EGMR-Verurteilungen auf die Schweiz zukommen.
10. Opferhilfe
10.1 Wirtschaftlicher Schaden nicht gedeckt
Im Fall 1C_19/2023 ging es um einen Arbeitnehmer, der Ansprüche auf Schadenersatz und Genugtuung bei der kantonalen Opferhilfestelle geltend machte. Er war von einem Arbeitgeber aus dem Ausland in die Schweiz geholt worden. Hier arbeitete er auf Baustellen, erhielt fast keinen Lohn und war unhygienisch untergebracht. Nach Beendigung der Arbeiten tauchte der Arbeitgeber unter und hinterliess seinen Arbeitern eine Entschädigung von total Euro 2,50 pro Stunde. Das Strafgericht verurteilte den Arbeitgeber wegen qualifizierten Menschenhandels. Zudem sprach es dem Arbeitnehmer adhäsionsweise Genugtuung und Schadenersatz (Lohnausfall) zu. Weil die Zivilforderung gegen den untergetauchten Arbeitgeber uneinbringlich war, machte der Arbeiter sie bei der kantonalen Opferhilfestelle geltend.
Das Bundesgericht verneint einen Anspruch darauf: Ein derartiger wirtschaftlicher Schaden falle nicht unter das Opferhilfegesetz. Gemäss Artikel 19 Absatz 3 OHG entschädige die Opferhilfe reine Vermögensschäden nicht. Der Gesetzgeber wolle derartige materielle und wirtschaftliche Schäden ausschliessen. Der Staat müsse nicht den gesamten erlittenen Schaden decken, und die Forderung sei nicht mit der zivilrechtlichen Haftung vergleichbar. Es sei nur der Schaden zu decken, der durch die Beeinträchtigung oder den Tod des Opfers im Sinne eines «Schadens an einer Person» entstanden sei. Dies verletze die EMRK nicht.