1. Strafrecht
1.1 Allgemeine Bestimmungen
Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 8 Absatz 2 StGB (örtliche Zuständigkeit): Nach Artikel 8 Absatz 2 StGB gilt der Versuch einer Straftat als dort begangen, wo der Täter ihn ausführt, und dort, wo nach seiner Vorstellung der Erfolg hätte eintreten sollen. Das gilt auch für die versuchte Anstiftung. Zum Erfolg der Anstiftung gehört unter anderem, dass es dem Anstifter gelingt, beim Täter den Willen zur Tatbegehung hervorzurufen. Insofern ist die Schweiz zur Durchführung des Strafverfahrens zuständig, wenn der Beschuldigte Nachrichten, die in Deutschland verfasst wurden, an den Anzustiftenden in der Schweiz schickte, zumal der Wille zur Tatbegehung dann in der Schweiz hätte hervorgerufen werden sollen.1
Artikel 12 StGB (Vorsatz und Mittäterschaft): Bei Mittäterschaft setzt die Annahme des Vorsatzes keine sichere Voraussicht des genauen Geschehensablaufs voraus. Es genügt, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung ernsthaft für möglich hält. Allerdings kann aus der Tatsache, dass der Beschuldigte wusste, dass sein Mittäter beim vereinbarten Raub eine Waffe mitführt, nicht geschlossen werden, dass er auch wusste, dass die Waffe geladen ist und abgefeuert wird, wenn darüber vorher nicht gesprochen wurde, es mithin also nicht dem gemeinsamen Tatplan entsprach. Dem Beschuldigten kann in dieser Situation nicht vorgeworfen werden, er habe unterlassen abzuklären, ob die Waffe geladen gewesen sei, oder unterlassen, den Täter darauf hinzuweisen, dass diese nicht gebraucht werden soll.2
Artikel 47 und Artikel 49 StGB (Strafzumessung): Das Bundesgericht betont einmal mehr, dass bei der Gesamtstrafenbildung zuerst für jedes Delikt eine sogenannte Einsatzstrafe zu bilden ist. Erst dann kann beurteilt werden, ob und welche Einzelstrafen gleichartig sind. Indem die Vorinstanz zuerst die Strafart für alle Delikte bestimmt, beginnt sie mit einem Teil des Ergebnisses der Strafzumessung, was bundesrechtswidrig ist.3
Artikel 77a StGB (Dauer des Arbeitsexternats): Das Arbeitsexternat ist eine Phase der schrittweisen Öffnung des Strafvollzugs, die in der Regel nach Verbüssung der Hälfte der Strafe möglich ist, wenn keine Flucht- oder Rückfallgefahr besteht. Artikel 77a StGB sieht keine Maximaldauer vor. Das Bundesgericht erlaubt kantonale Richtlinien, die das Wohn- und Arbeitsexternat auf zwölf Monate begrenzen. Allerdings darf es sich dabei nicht um eine starre Grenze handeln, sondern die konkreten Umstände des Einzelfalls sind zu berücksichtigen.4
1.2 Besondere Bestimmungen
Artikel 117 StGB; Artikel 26 Absatz 2 HMG (fahrlässige Tötung und ärztliche Abklärungspflichten): Ein Arzneimittel darf nur verschrieben werden, wenn die Vitaldaten des Patienten, sein Gesundheitszustand, Allergien, Arzneimittelunverträglichkeiten und das Interaktionspotenzial mit anderen Wirkstoffen bzw. Arznei- sowie Nahrungsmitteln bekannt sind. Der Arzt muss sich sorgfältig ein Bild machen, was dem Patienten fehlt und welche Therapie geeignet ist. Zur Durchführung der Heilbehandlung ist in der Regel die Mitwirkung des Patienten erforderlich. Im vorliegenden Fall hat der Arzt die Patientin mehrfach aufgefordert, ihm die erforderlichen medizinischen Unterlagen zu bringen. Damit ist der Arzt seinen Abklärungspflichten und seiner Sorgfaltspflicht hinreichend nachgekommen. Für ihn ergab sich keine Pflicht, selber aktiv zu werden.5
Artikel 129 StGB (Gefährdung des Lebens): Gemäss Artikel 129 StGB macht sich der Gefährdung des Lebens schuldig, wer einen Menschen in skrupelloser Weise in unmittelbare Lebensgefahr bringt. In objektiver Hinsicht erfordert der Tatbestand den Eintritt einer konkreten, unmittelbaren Lebensgefahr. Die Gefahr muss unmittelbar erscheinen, nicht aber unausweichlich. Bei Würgevorfällen wird eine unmittelbare Lebensgefahr angenommen, wenn der Täter mit derartiger Intensität auf das Opfer einwirkt, dass Stauungsblutungen an den Augenbindehäuten oder Symptome eines Atemstillstandes mit Bewusstseinsstörung als handfeste Befunde für eine Hirndurchblutungsstörung auftreten. Dabei ist es nicht entscheidend, ob dem Opfer ernsthafte (äusserliche) Verletzungen zugefügt werden oder ob es ohnmächtig wird. In subjektiver Hinsicht erfordert der Tatbestand direkten Vorsatz in Bezug auf die unmittelbare Lebensgefahr, Eventualvorsatz genügt nicht. Eine Verurteilung wegen Gefährdung des Lebens fällt nur in Betracht, wenn der Täter trotz der erkannten Lebensgefahr handelt, aber darauf vertraut, die Gefahr werde sich nicht realisieren. Weiter erfordert der Tatbestand skrupelloses Handeln. Skrupellos ist ein in schwerem Grad vorwerfbares, rücksichtsloses oder hemmungsloses Verhalten. Je grösser die vom Täter geschaffene Gefahr ist und je weniger seine Beweggründe zu billigen sind, desto eher ist die Skrupellosigkeit zu bejahen.6
Artikel 191 StGB (Stealthing erfüllt Tatbestand der Schändung nicht): Das Entfernen des Kondoms während des Geschlechtsverkehrs gegen den Willen und ohne das Wissen der Partnerin bildet zwar eine Zäsur zum bisher einvernehmlichen Geschlechtsverkehr und verletzt das Rechtsgut der sexuellen Integrität und Selbstbestimmung. Allerdings erfüllt die Täuschung der Privatklägerin das Tatbestandsmerkmal der Widerstandsunfähigkeit nicht. Es liegt kein Schwächezustand kognitiver, psychischer oder physischer Art vor. Der Sachverhalt könnte jedoch den Tatbestand der sexuellen Belästigung nach Artikel 198 StGB erfüllen.7
Artikel 192 Absatz 1 StGB (Ausnützung der Abhängigkeit eines Anstaltpfleglings durch einen Betreuer): Die Ausnützung findet auf der subjektiven Ebene bei der abhängigen Person statt, indem sie annimmt, sich dem Täter fügen zu müssen. Nur das frei verantwortliche, vom Abhängigkeitsverhältnis unbeeinflusste Einverständnis schliesst den Tatbestand aus. Die Schwelle zur Bejahung der Ausnützung ist auch bei einem in seiner Intelligenz eingeschränkten Opfer gleich anzusetzen.8
Artikel 261bis Absatz 1 und Absatz 4 erster Teilsatz StGB (Rassendiskriminierung): Der Begriff «Zigeuner» wird als abwertend wahrgenommen, weshalb der Ausdruck «Fahrende» als neutraler Begriff eingeführt wurde. Im vorliegenden Kontext ist der Ausdruck «ausländische Zigeuner» als Bezeichnung für eine Ethnie im Sinne von Artikel 261bis StGB zu qualifizieren.9
Artikel 271 Ziffer 1 Absatz 1 StGB (verbotene Handlungen für einen fremden Staat): Der Straftatbestand soll die Ausübung fremder Staatsgewalt in der Schweiz verhindern und das staatliche Machtmonopol sowie die schweizerische Souveränität schützen. Eine Handlung, die mit einer Verletzung oder Umgehung des schweizerischen oder internationalen Amts- oder Rechtshilferechts einhergeht, wird von Artikel 271 Ziffer 1 StGB erfasst. Die Herausgabe von Informationen und Unterlagen, die in der Schweiz einzig auf hoheitliche Anordnung hin rechtmässig herausgegeben werden dürfen, tangiert das von Artikel 271 StGB geschützte Rechtsgut. Betroffene dürfen nur Akten herausgeben, über die sie frei verfügen dürfen. Nicht öffentlich zugängliche, identifizierende Informationen über Dritte fallen nicht darunter. Dass die herauszugebenden Informationen bestimmungsgemäss auch in einem Drittstaat gespeichert sind, führt zu keiner anderen Beurteilung.10
2. Nebenstrafrecht
2.1 Strassenverkehrsgesetz
Artikel 90 Absatz 2 SVG in Verbindung mit Artikel 36 Absatz 5 litera a VRV (grobe Verletzung der Verkehrsregeln durch Rechtsüberholen): Das Bundesgericht bestätigt seine Rechtsprechung, wonach auch nach der neuen Regelung in der per 1. Januar 2021 revidierten Verkehrsregelverordnung das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln darstellen kann.11
2.2 Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG)
Artikel 30 Absatz 1 litera b, Artikel 115 Absatz 1 litera b und c AIG; Artikel 52 StGB (Strafverfahren/Verurteilung nach Erteilung einer Härtefallbewilligung; Strafbefreiung; Geringfügigkeit von Schuld und Tatfolgen: Eine illegal in der Schweiz anwesende Person kann gemäss Artikel 30 Absatz 1 litera b AIG bei Vorliegen eines persönlichen schweren Härtefalls auf Antrag – trotz Nichterfüllen der Voraussetzungen – eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Damit wird der Aufenthalt in der Schweiz verwaltungsrechtlich legalisiert. Diese verwaltungsrechtliche Legalisierung steht gemäss Bundesgericht einer strafrechtlichen Verurteilung wegen unrechtmässigen Aufenthalts und Erwerbstätigkeit nach Artikel 115 Absatz 1 litera b und c AIG nicht entgegen. Bei einem über zehn Jahre dauernden illegalen Aufenthalt mit unbewilligter Erwerbstätigkeit fällt eine Strafbefreiung nach Artikel 52 StGB ausser Betracht. Die lange Dauer des Aufenthalts schliesst im Vergleich zum Regelfall einer Verletzung von Artikel 115 AIG ein geringes Verschulden aus. Die nur minimalen Einkommensverluste für den öffentlichen Sektor sind ebenfalls typisch für unbewilligte Erwerbstätigkeit, womit auch keine geringen Tatfolgen vorliegen. Die begünstigenden Umstände, welche zum Erhalt der Härtefallbewilligung führten, sind im Rahmen der Strafzumessung nach Artikel 47 StGB zu berücksichtigen.12
2.3 Betäubungsmittelgesetz
Artikel 24 Absatz 1 BetmG (Einziehung von unrechtmässigen Vermögensvorteilen aus Betäubungsmitteldelikten): Die Einziehung von unrechtmässigen Vermögensvorteilen aus Betäubungsmitteldelikten ist neben Artikel 70 StGB auch in Artikel 24 Absatz 1 BetmG ausdrücklich vorgesehen. Die in Artikel 24 BetmG spezialgesetzlich geregelte Einziehung ist auch zulässig, wenn die Betäubungsmitteldelikte im Ausland begangen wurden und keine Anknüpfungspunkte im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 8 StGB zur Schweiz bestehen. Artikel 24 Absatz 1 BetmG verankert daher eine Universalkompetenz der Schweiz zur Einziehung von Vermögenswerten aus dem illegalen Betäubungsmittelhandel.13 Die Einziehung ist ausgeschlossen, wenn ein Dritter die Vermögenswerte in Unkenntnis der Einziehungsgründe erworben hat und soweit er für sie eine gleichwertige Gegenleistung erbracht hat oder die Einziehung ihm gegenüber sonst eine unverhältnismässige Härte darstellen würde (Artikel 70 Absatz 2 StGB).14 Der gute Glaube der Drittperson wird vermutet. Das Verhältnismässigkeitsprinzip erfordert eine breite Auslegung des Begriffs des guten Glaubens, der nicht deckungsgleich ist mit dem zivilrechtlichen Begriff des guten Glaubens gemäss Artikel 3 ZGB. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts wird verlangt, dass die Drittperson eine dem Eventualvorsatz entsprechende Kenntnis der Tatsachen hat, die eine Einziehung rechtfertigen, d.h. dass sie das Vorliegen dieser Tatsachen aufgrund von konkreten Hinweisen darauf, dass die Vermögenswerte aus einer Straftat stammen, als wahrscheinlich erachtet. Auch wenn sich der Dritte im Einziehungsverfahren nicht auf die Unschuldsvermutung berufen kann, so hat der Staat dennoch sämtliche Voraussetzungen für eine Einziehung beim Dritten zu beweisen.
Dritte, die behaupten, eine gleichwertige Gegenleistung im Sinne von Artikel 70 Absatz 2 StGB erbracht zu haben, müssen bei der Beweiserhebung jedoch in zumutbarer Weise mitwirken. Die blosse Kokain-Kontamination genügt für den Nachweis der deliktischen Herkunft von Bargeld aus dem Drogenhandel in der Regel nicht. Dies gilt insbesondere, wenn als Grund für die Kontamination ein blosser Besitz von Kokain zum Eigenkonsum nicht ausgeschlossen werden kann. Für den Nachweis der deliktischen Herkunft der Gelder aus dem Drogenhandel bedarf es vielmehr weiterer Indizien wie des Fehlens einer plausiblen Erklärung für einen legalen Erwerb der Gelder, die Stückelung eines grossen Geldbetrags in kleine Einheiten und verschiedene Währungen oder die Art des Geldtransports. Nicht verlangt wird hingegen, dass die Behörde auch detaillierte Kenntnis der Tatumstände und des Täters hat, inklusive Ort und Zeit der einzelnen Tathandlungen. Ein strikter Beweis der (Vor-)Tat ist nicht erforderlich. Im vorliegenden Fall hat das Bundesgericht entschieden, dass der Betroffene das Bargeld in Unkenntnis des Einziehungsgrundes erworben hat, und den guten Glauben bejaht.15
2.4 Verwaltungsstrafrecht
Artikel 101 Absatz 1, 4 und 5 MWSTG in Verbindung mit Artikel 9 VStrR und Artikel 49 StGB (Berechnung der Mehrwertsteuerbusse bei Tatmehrheit; Asperations- und Kumulationsprinzip): Der in Artikel 9 VStrR verankerte Ausschluss des Asperationsprinzips für Bussen und Umwandlungsstrafen gilt – besondere Bestimmungen in den entsprechenden Verwaltungsgesetzen vorbehalten – auch bei Konkurrenz zwischen Widerhandlungen gegen verschiedene Verwaltungsgesetze sowie bei mehreren Widerhandlungen nach demselben Verwaltungsgesetz. Im Anwendungsbereich des MWSTG ist das Asperationsprinzip – trotz des generellen Ausschlusses von Artikel 9 VStrR in Artikel 101 Absatz 1 MWSTG – auf die in Artikel 101 Absatz 4 und 5 MWSTG geregelten Fälle beschränkt. Artikel 101 Absatz 4 MWSTG erfasst im Zuständigkeitsbereich der Eidgenössischen Zollverwaltung EZV nur die Idealkonkurrenz («eine Handlung»), während Artikel 101 Absatz 5 MWSTG für den Zuständigkeitsbereich der Eidgenössischen Steuerverwaltung ESTV auch die Realkonkurrenz regelt («eine oder mehrere Handlungen»). Für im Zuständigkeitsbereich der EZV in Realkonkurrenz begangene Straftaten, das heisst bei Nichtanmeldung von Waren bei deren Einfuhr in die Schweiz zu unterschiedlichen Zeitpunkten bzw. an unterschiedlichen Orten, gilt daher das Kumulationsprinzip.16
3. Strafverfahren
3.1 Allgemeines
Artikel 29 Absatz 2 BV; Artikel 6 Ziffer 3 litera d EMRK (Anspruch auf Konfrontation): Die Verurteilung eines Krankenpflegers wegen sexueller Handlungen mit einer Patientin war rechtmässig, auch wenn sie sich einzig auf die Aussagen zweier Zeugen stützte, die im Zeitpunkt der strafbaren Handlungen nicht anwesend waren, sondern denen die mittlerweile verstorbene Geschädigte davon erzählte. Das Bundesgericht setzt sich mit der Rechtsprechung des EGMR zum Anspruch auf Konfrontation auseinander und kommt zum Schluss, das Verfahren sei trotz fehlender Konfrontation fair verlaufen. Die Verurteilung stütze sich nicht nur auf ein «Hörensagen», sondern auch auf eine Aktennotiz, die eine der Zeugen kurz nach dem Gespräch mit der Geschädigten erstellt hatte und die das Gespräch mit der Geschädigten teilweise wortwörtlich wiedergab. Der Beschwerdeführer habe seinen Konfrontationsanspruch bei den Einvernahmen der beiden indirekten Zeugen ausüben und seine eigene Version des Sachverhalts darlegen können. Entsprechend sah es das Bundesgericht als erwiesen an, dass dem Beschuldigten im Sinne einer Gesamtbeurteilung genügend Kompensationen geboten wurden, um das Gleichgewicht eines fairen Verfahrens wiederherzustellen.17
Artikel 30 Absatz 1 BV; Artikel 6 Ziffer 1 EMRK; Artikel 56 litera f und Artikel 358 ff. StPO (Ausstand wegen Mehrbefassung): Ein Richter ist nicht allein deshalb zum Ausstand verpflichtet, weil er sich im gescheiterten abgekürzten Verfahren bereits mit der Sache befasst hat.18 Wird ein Ausstandsgrund nach Artikel 56 litera f StPO betreffend die Staatsanwaltschaft geltend gemacht, so entscheidet darüber nach dem klaren Gesetzeswortlaut von Artikel 59 Absatz 1 litera b StPO die Beschwerdeinstanz. Bei Regelungen betreffend die gerichtliche Zuständigkeitsordnung besteht im Lichte von Artikel 30 Absatz 1 BV besonders wenig Spielraum für Abweichungen. Die geltende Zuständigkeitsordnung kann sich auch auf materielle Gründe stützen und das Ausstandsgesuch hätte im vorliegenden Fall von der Beschwerdeinstanz behandelt werden müssen.19 Die Personalunion zwischen Haftrichter und Sachrichter soll jedoch zulässig sein, sofern nicht im Einzelfall Umstände hinzukommen, die den Anschein der Befangenheit begründen.20
Artikel 31 Absatz 1 BV, Artikel 5 Ziffer 1 EMRK (Unterbringung eines Massnahmeunterworfenen in einer Straf- oder Haftanstalt: Die längerfristige Unterbringung eines rechtskräftig verurteilten Massnahmeunterworfenen in einer Strafanstalt oder Haftanstalt ist unzulässig, soweit die Voraussetzungen von Artikel 59 Absatz 3 StGB nicht erfüllt sind, weil der Massnahmezweck nicht vereitelt werden darf. Im konkreten Fall war eine Wartezeit von fast neun Monaten mit Artikel 31 Absatz 1 BV und Artikel 5 Ziffer 1 EMRK nicht mehr vereinbar.21
3.2 Schweizerische Strafprozessordnung
Artikel 5 Absatz 2 StPO (Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen): Gestützt auf Artikel 31 Absatz 3 und 4 BV, Artikel 5 Ziffer 3 und 4 EMRK sowie Artikel 5 Absatz 2 StPO müssen Haftsachen mit besonderer Beschleunigung behandelt werden. Ob das Beschleunigungsgebot verletzt wird, bestimmt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, wobei insbesondere die Komplexität des Falles und das Verhalten des Betroffenen bzw. seines Anwalts zu berücksichtigen sind. Vergehen in einem weder besonders schwierigen noch komplexen Fall zwischen der Anklageerhebung und der erstinstanzlichen Hauptverhandlung mehr als sechs Monate, verletzt dies das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots ist im Dispositiv des Urteils festzustellen und bei den Kosten- und Entschädigungsfolgen zu berücksichtigen.22
Artikel 6 StPO (Untersuchungsgrundsatz): Im Strafverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Danach klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (Artikel 6 Absatz 1 StPO). Nur wenn die Gerichte ihrer Amtsermittlungspflicht genügen, dürfen sie einen Sachverhalt als erwiesen (oder nicht erwiesen) ansehen und in freier Beweiswürdigung darauf eine Rechtsentscheidung gründen. Da es den Strafbehörden obliegt, die Beweise rechtskonform zu erheben, sind die notwendigen Ergänzungen von Amtes wegen vorzunehmen. Dazu bedarf es keines Antrags durch eine Partei. Dies gilt im besonderen Masse bei einer «Aussage gegen Aussage»-Konstellation.
Das Rechtsmittelverfahren setzt das Strafverfahren fort und knüpft an die bereits erfolgten Verfahrenshandlungen, namentlich die bereits durchgeführten Beweiserhebungen, an. Erweisen sich die Beweiserhebungen des erstinstanzlichen Gerichts gemäss Artikel 389 Absatz 2 StPO als rechtsfehlerhaft (litera a), unvollständig (litera b) oder erscheinen sie als unzuverlässig (litera c), werden sie von der Rechtsmittelinstanz wiederholt. Hinsichtlich des Tatvorwurfs eines Diebstahls, namentlich in Bezug auf die Fragen, ob und welche fremden beweglichen Sachen der Beschuldigte zur Aneignung weggenommen haben soll, sind die Angaben der Geschädigten ausschlaggebend. Im vorliegenden Fall lagen keine weiteren Beweise vor, das Deliktsgut konnte nicht sichergestellt werden. Auch eine formelle Einvernahme der Geschädigten fand nie statt, ihre Angaben waren nur im Rapport der Kantonspolizei ersichtlich. Wenn die kantonale Vorinstanz einzig auf den Polizeirapport abstellt und keine weiteren Beweise abnimmt, mithin keine Befragungen der Geschädigten über das Deliktsgut vornimmt, obwohl der Beschuldigte die Wegnahme desselben bestreitet, verfällt sie in Willkür und kommt ihrer Untersuchungspflicht nicht nach.23
Artikel 11 Absatz 1 StPO in Verbindung mit Artikel 333 Absatz 1 StPO («ne bis in idem»; Anklageergänzung nach einem bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid): Eine explizite Teileinstellungsverfügung, die nicht den ganzen Lebenssachverhalt, sondern lediglich einzelne, erschwerende Tatvorwürfe betrifft, kann zur Wahrung der Rechte der Privatklägerschaft erforderlich sein (vgl. BGE 138 IV 241, E. 2). Solche Teileinstellungsverfügungen führen nicht zur Anwendung des Grundsatzes «ne bis in idem» hinsichtlich der gleichzeitig zur Anklage gebrachten Vorwürfe. Entscheidend ist, dass die Teileinstellungsverfügung auf die gleichzeitig erhobene oder bereits hängige Anklage oder den gleichzeitig erlassenen Strafbefehl Bezug nimmt und folglich als solche deklariert wird. Aus der Teileinstellungsverfügung muss hervorgehen, dass das Verfahren nicht als Ganzes, sondern lediglich bezüglich einzelner, nicht angeklagter, erschwerender Tatumstände eingestellt wird (Präzisierung der Rechtsprechung von BGE 144 IV 362, E. 2.6.6).
Eine Anklageergänzung in Anwendung von Artikel 333 Absatz 1 StPO ist bei Verfahren ohne Beteiligung von Privatklägern nur in engen Grenzen möglich, wenn es darum geht, ungerechtfertigte Freisprüche zu verhindern. Hingegen darf die Privatklägerschaft ihren Anspruch auf Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person im Gerichtsverfahren bei einer ihrer Ansicht nach ungenügenden Anklage auch mittels eines Antrags auf Ergänzung der Anklage im Sinne einer qualifizierten Tatbegehung bzw. einer härteren rechtlichen Qualifikation durchsetzen. Im vorliegenden Fall ersuchte der Privatkläger im kantonalen Verfahren, sowohl erst- als auch zweitinstanzlich, wiederholt um Ergänzung der Anklage, wobei sein Antrag im kantonalen Verfahren nicht korrekt behandelt wurde, da die Staatsanwaltschaft weder die Anklage ergänzte noch eine anfechtbare Teileinstellungsverfügung erliess. Unter diesen Umständen soll eine Änderung bzw. Ergänzung der Anklage auch nach dem bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheid, mit welchem der vorinstanzliche Schuldspruch auf Beschwerde der beschuldigten Person hin wegen Verletzung des Anklageprinzips aufgehoben wurde, noch möglich sein.24
Artikel 64 Absatz 1 StPO in Verbindung mit Artikel 93 Absatz 1 litera a BGG (Androhung einer Ordnungsbusse gegen den Verteidiger; Entschädigung für die Anwaltskosten im Disziplinarverfahren): Das Bundesgericht tritt mangels eines nicht wiedergutzumachenden Nachteils auf eine Beschwerde nicht ein, nachdem sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Beschwerdeinstanz das Entschädigungsbegehren eines Strafverteidigers abgewiesen hatte. Der Strafverteidiger hatte eine eigene Rechtsvertretung mandatiert, nachdem ihm eine Disziplinarmassnahme im Sinne von Artikel 64 StPO angedroht wurde. Das Bundesgericht meint, dass der vorinstanzliche Entschädigungsentscheid auch noch mit dem Endentscheid angefochten werden könne.25
Artikel 84 Absatz 4 StPO (Verletzung des Beschleunigungsgebots): Eine Missachtung der Ordnungsvorschrift von Artikel 84 Absatz 4 StPO führte nach bisheriger bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht unbedingt zur Verletzung des Beschleunigungsgebots nach Artikel 6 Ziffer 1 EMRK und Artikel 29 Absatz 1 BV. Jetzt konkretisiert das Bundesgericht seine Rechtsprechung und hält fest, dass eine unangemessene Missachtung von Artikel 84 Absatz 4 StPO – das heisst ein Zuwarten mit Ausarbeitung der schriftlichen Begründung eines Urteils um knapp sieben Monate – eine Rechtsverzögerung annehmen lässt.26
Artikel 127 Absatz 3 und Artikel 128 StPO (unzulässige anwaltliche Doppelvertretung): Die Verteidigung ist gemäss Artikel 128 StPO in den Schranken von Gesetz und Standesregeln allein den Interessen der beschuldigten Person verpflichtet. Artikel 12 litera c BGFA konkretisiert diese Pflicht, indem es festschreibt, dass Anwälte jeden Konflikt zwischen den Interessen ihrer Klientschaft und den Personen, mit denen sie geschäftlich oder privat in Beziehung stehen, meiden (Verbot der Doppelvertretung). Die unzulässige Doppelvertretung muss nicht zwingend dasselbe Verfahren betreffen, ein Sachzusammenhang zwischen zwei Verfahren reicht aus, wenn sie in diesen Parteien vertreten, deren Interessen sich widersprechen. Dabei wird ein sich aus den gesamten Umständen ergebendes konkretes Risiko eines Interessenkonflikts verlangt, eine rein theoretische oder abstrakte Möglichkeit eines Interessenkonflikts reicht nicht aus. Die Doppelvertretung bleibt bei Vorliegen eines konkreten Risikos eines Interessenskonflikts trotz Einwilligung unzulässig.27
Artikel 140 StPO (Übermässige verdeckte Ermittlung als verbotene Beweiserhebungsmassnahme): Das Bundesgericht qualifizierte ein Geständnis einer beschuldigten Person wegen Mordes als absolut unverwertbar im Sinne von Artikel 141 Absatz 1 StPO, weil es nicht aus eigener Initiative und freien Stücken, sondern als Resultat einer von den verdeckten Ermittlern geschickt aufgebauten inneren Zwangslage, sukzessive genährten Angst und stetig intensivierten Drucksituation erfolgte. Obwohl Artikel 140 StPO bei der Anordnung einer verdeckten Ermittlung gewisse Einschränkungen erfährt, indem das Täuschungsverbot zumindest punktuell durchbrochen wird, darf die verdeckte Ermittlung nicht dazu missbraucht werden, Artikel 140 und Artikel 141 Absatz 1 StPO sowie das Aussageverweigerungsrecht im Besonderen zu umgehen. Artikel 293 Absatz 4 StPO regelt nur, wie bei übermässiger Einwirkung auf die Tatbereitschaft und den Tatentschluss zu verfahren ist. Die Bestimmung befasst sich indes nicht mit verbotenen Beweiserhebungsmethoden. Kamen solche zur Anwendung oder wurde das Selbstbelastungsprivileg verletzt, ist auch bei einer verdeckten Ermittlung Artikel 141 Absatz 1 StPO massgeblich und es greift ein absolutes Verwertungsverbot.28
Artikel 141 in Verbindung mit Artikel 382 Absatz 1 und Artikel 393 Absatz 1 litera a StPO (Verwertbarkeit eines Beweismittels; Zulässigkeit der Beschwerde): Die Zulässigkeit der Beschwerde setzt voraus, dass die beschwerdeführende Partei ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat, nicht aber, dass dieser Entscheid einen nicht wiedergutzumachenden Nachteils bewirken kann. Es ist bundesrechtswidrig, wenn die kantonale Beschwerdeinstanz auf eine Beschwerde gegen die Weigerung der Staatsanwaltschaft, ein angeblich unverwertbares Beweismittel aus den Akten zu entfernen, nicht eintritt.29
Artikel 147 Absatz 4 StPO (Verwertbarkeit von Einvernahmeprotokollen bei Verletzung der Teilnahmerechte): Das Bundesgericht bestätigt die Rechtsprechung, wonach Beweiserhebungen, die in Verletzung der Teilnahmerechte erhoben wurden, auch bei deren Wiederholung unverwertbar bleiben. Aufzeichnungen über unverwertbare Beweise sind nach Artikel 141 Absatz 5 StPO aus den Strafakten zu entfernen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens separat unter Verschluss zu halten und danach zu vernichten (BGE 143 IV 457 mit weiteren Hinweisen). Die in einer ersten Einvernahme in Verletzung von Artikel 147 Absatz 1 StPO gemachten Aussagen nach Artikel 147 Absatz 4 StPO bleiben unverwertbar, wenn sich die befragte Person im Rahmen einer späteren Konfrontation gar nicht mehr oder nicht frei und unbeeinflusst zur Sache äussert.30
Artikel 159 Absatz 1 StPO (Anwesenheitsrecht der Verteidigung): Das gemäss Artikel 159 Absatz 1 StPO der beschuldigten Person bei polizeilichen Einvernahmen im Ermittlungsverfahren zustehende Recht, dass ihre Verteidigung anwesend sein und Fragen stellen kann, gilt ausschliesslich bei der polizeilichen Einvernahme der beschuldigten Person. Weitere Teilnahmerechte der Verteidigung bestehen im polizeilichen Ermittlungsverfahren nicht.31
Artikel 184 Absatz 3 StPO (Gehörsanspruch betreffend sachverständige Person und Gutachterfragen): Der aus Artikel 184 Absatz 3 Satz 1 StPO fliessende Anspruch, sich zur sachverständigen Person und zu den Gutachterfragen zu äussern, besteht auch bei der Ernennung aller Sachverständigen im Sinne von Artikel 183 Absatz 2 StPO. Artikel 184 Absatz 3 Satz 1 StPO konkretisiert den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör. Eine Verletzung dieses Anspruchs kann durch die nachträgliche Gewährung von Akteneinsicht in den Gutachterauftrag und das Gutachten geheilt werden. Bringt die beschuldigte Person nach der Einsichtnahme in Auftrag und Gutachten keine Ausstandsgründe oder Anmerkungen zu den Gutachterfragen respektive Ergänzungsfragen vor, ist von einem Verzicht auf eine Stellungnahme zur sachverständigen Person und den Gutachterfragen auszugehen.32
Artikel 231 Absatz 1 StPO in Verbindung mit Artikel 221 Absatz 1 litera c StPO (Wiederholungsgefahr rechtfertigt die Anordnung von Sicherheitshaft nach der erstinstanzlichen Verurteilung): Nach Auffassung der kantonalen Vorinstanz musste die Anordnung der Sicherheitshaft zwingend entweder der Sicherstellung des Straf- und Massnahmenvollzugs oder dem Berufungsverfahren dienen, was bei Wiederholungsgefahr nicht der Fall sei. Das Bundesgericht folgte dieser Auffassung allerdings nicht. Es hält fest, dass eine beschuldigte Person auch nach der Verurteilung in Sicherheitshaft versetzt werden könne, wenn von ihr Wiederholungsgefahr ausgehe. Aus dem Gesetz und aus den Materialien ergeben sich keine Hinweise auf eine Einschränkung der Haftgründe nach dem erstinstanzlichen Urteil.33
Artikel 235 Absatz 1 bis 5 StPO (Verteidigerverkehr mit inhaftiertem Beschuldigten): Die inhaftierte Person kann mit der Verteidigung frei und ohne inhaltliche Kontrolle verkehren. Allerdings kann die Verfahrensleitung mit Genehmigung des Zwangsmassnahmengerichts den freien Verkehr befristet einschränken, sofern ein begründeter Verdacht auf Missbrauch vorliegt (Artikel 235 Absatz 4 StPO). Die ein- und ausgehende Post der inhaftierten Person kontrolliert die Verfahrensleitung, wovon die Korrespondenz mit Aufsichts- und Strafbehörden ausgenommen ist (Artikel 235 Absatz 3 StPO). Somit hat die Verfahrensleitung die Korrespondenz der inhaftierten Person mit Aufsichts- und Strafbehörden, die Polizei eingeschlossen, keiner Briefkontrolle zu unterziehen. Die Entgegennahme und Weiterleitung eines Briefes der inhaftierten Person an die Kantonspolizei durch die Verteidigung kann nicht als missbräuchliche Umgehung der Briefkontrolle gewertet werden.34
Artikel 248 in Verbindung mit Artikel 107 Absatz 1 litera a StPO (Entsiegelungsverfahren und Akteneinsichtsrecht): Grundsätzlich steht auch dem Siegelungsberechtigten im Entsiegelungsverfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht das Akteneinsichtsrecht zu. Der Siegelungsberechtigte kann Einsicht in das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft und alle anderen Eingaben der Prozessbeteiligten nehmen sowie die relevanten Untersuchungsakten einsehen, wie etwa Hausdurchsuchungsbefehle und Sicherstellungsprotokolle, auf die die Staatsanwaltschaft ihr Entsiegelungsbegehren stützt. Ein pauschales Akteneinsichtsrecht allerdings erscheint nur ausnahmsweise vom Bundesrecht als geboten, wenn die beschuldigte Person nachvollziehbar begründet, weshalb sie ohne nachträgliche Gesamtdurchsicht von Geräten und Aufzeichnungen überhaupt nicht in der Lage wäre, ihre mit Anfangshinweisen bereits plausibel gemachten Geheimhaltungsinteressen ausreichend zu substanziieren. Eine detaillierte Triage von geheimnisgeschützten Aufzeichnungen und Dokumenten hat nötigenfalls auf entsprechende substanziierte und zumutbare Angaben des Inhabers oder der Inhaberin hin durch das Zwangsmassnahmengericht zu erfolgen.35 Zudem scheint das Bundesgericht im Rahmen von Artikel 248 Absatz 4 StPO die Voraussetzungen an die Unabhängigkeit der sachverständigen Person nochmals erhöht zu haben. Gemäss einem neueren Präjudiz des Bundesgerichts muss gewährleistet sein, dass die Untersuchungsbehörde in keiner Weise in die Entsperrung und Spiegelung als Realakte einbezogen wird und bis zur Rechtskraft des richterlichen Entsiegelungsentscheids keine Möglichkeit des Zugangs zu den auf den sichergestellten Geräten liegenden Dateien erhält und auch über keine Weisungsbefugnisse gegenüber der beauftragten Organisation oder Person verfügt.36
Artikel 266 StPO (vorzeitige Verwertung von Kryptobeständen): Je nach konkreter Situation, der Beschaffenheit und der Besonderheiten der einzelnen zu verwertenden Vermögenswerte können namentlich hinsichtlich der Art und der Modalitäten der vorzeitigen Verwertung spezifische Anordnungen getroffen werden.37
Artikel 280 StPO (Rechtmässigkeit des Einsatzes eines softwarebasierten Keyloggers): Das Bundesgericht bezeichnet softwarebasierte Keylogger als technische Überwachungsgeräte im Sinne von Artikel 280 StPO und erlaubt deren Einsatz im Ermittlungsverfahren. Das kantonale Zwangsmassnahmengericht hat zwischen mechanischen Keyloggern – also effektiven Geräten – und dem hier eingesetzten softwarebasierten Keylogger – also Gov Ware – unterschieden und festgehalten, dass für Letzteren keine Rechtsgrundlage bestehe. Aus Sicht des Bundesgerichts jedoch ergibt diese Unterscheidung keinen Sinn. Zwar spreche Artikel 280 litera b StPO tatsächlich von «Überwachungsgeräten», worunter gemäss dem üblichen Sprachgebrauch grundsätzlich ein physischer oder mechanischer Gegenstand verstanden werde. Allerdings sei der Beschwerdeführerin zuzustimmen, wonach nicht die Beschaffenheit des Keyloggers, sondern die Art und Weise der Einsetzung für dessen Qualifikation als Gerät im Sinne von Artikel 280 StPO ausschlaggebend sei. Soweit die «Wirkweise des softwarebasierten Keyloggers» absolut identisch sei und nicht über jene eines mechanischen Keyloggers hinausgehe, könne es nicht darauf ankommen, ob ein (kleiner) physischer Gegenstand inklusive Softwarekomponente, der zwischen der Tastatur und dem Rechner zu montieren ist, sämtliche Tastatureingaben aufzeichnet oder ob die Eingaben gestützt auf eine Software gelesen werden, die sich vorliegend via Upload auf dem USB-Stick zwischen das Betriebssystem und die Tastatur schaltet. Sinn und Zweck der beiden Keylogger sei derselbe und eine künstliche Unterscheidung rechtfertige sich nicht. Dieser höchstrichterliche Entscheid basierte auf der Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Nichtgenehmigungsentscheid des kantonalen Zwangsmassnahmengerichts und erging folglich ohne Beteiligung der beschuldigten Person. Da die geheimen Massnahmen noch andauerten, wurde er zudem erst rund 1,5 Jahre später, nämlich am 9. Februar 2022 veröffentlicht.38
Artikel 298a ff. in Verbindung mit Artikel 93 Absatz 1 litera a BGG (Zulässigkeit der Beschwerde in Strafsachen gegen einen Entscheid über die Verwertbarkeit von Beweisen, die im Rahmen einer angeblich rechtswidrigen verdeckten Fahndung erhoben wurden): Mangels einer lex specialis zur Behandlung von Beweismitteln, die im Rahmen einer rechtswidrigen verdeckten Fahndung oder rechtswidrigen Observation erhoben wurden, sind diesbezüglich die allgemeinen Bestimmungen zur Erhebung und Verwertbarkeit von Beweisen anwendbar. Da die in diesem Zusammenhang erhobenen Beweise im konkreten Fall weder zurückgegeben noch sofort vernichtet werden sollen, droht kein nicht wiedergutzumachender Nachteil.39
Artikel 353 Absatz 1 litera k StPO (Strafbefehl und Unterschrift): In Bezug auf Strafbefehle verlangt das Bundesgericht eine Unterzeichnung durch die zuständige Person. Mit der Vorschrift von Artikel 353 Absatz 1 litera k StPO wird verlangt, dass aus dem Strafbefehl hervorgeht, wer ihn erlassen hat. Die Unterschrift des Strafbefehls kann nicht delegiert werden. Aussteller und Unterzeichner müssen identisch sein. Seien Staatsanwälte aufgrund der grossen Arbeitslast nicht in der Lage, ihre Unterschrift auf den Übertretungsstrafbefehlen anzubringen, könne auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Entscheid über Schuld und Strafe im Einzelfall von ihnen getragen werde. Ein Strafbefehl, der anstatt mit einer durch die ausstellende Person eigenhändig anzubringenden Unterschrift durch das Kanzleipersonal mit einem Faksimile-Stempel versehen wird, ist nichtig.40
Artikel 391 Absatz 2 StPO (Verbot der «reformatio in peius»): Die erstmalige Anordnung einer ambulanten Massnahme durch das Berufungsgericht verstösst gegen das Verschlechterungsgebot. Verzichtet das erstinstanzliche Gericht auf die Anordnung einer beantragten vollzugsbegleitenden ambulanten Massnahme und hat die Staatsanwaltschaft in ihrer Anschlussberufung deren Anordnung nicht erneut beantragt, verletzt das Berufungsgericht das Verschlechterungsgebot, wenn es eine ambulante vollzugsbegleitende Massnahme anordnet. Die Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft ist nicht zulässig (sie widerspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben im Strafverfahren), wenn sie ohne nähere Begründung auf die Frage der Strafzumessung beschränkt bleibt, obwohl die Erstinstanz dem diesbezüglichen Antrag der Staatsanwaltschaft vollumfänglich gefolgt war.41
Artikel 392 Absatz 1 StPO (Ausdehnung gutheissender Rechtsmittelentscheide): Artikel 392 Absatz 1 litera a StPO findet lediglich Anwendung, wenn die Rechtsmittelinstanz von einem anderen Sachverhalt ausgeht, nicht jedoch, wenn sie diesen rechtlich anders qualifiziert.42
Artikel 407 Absatz 1 litera c StPO (Rückzugsfiktion im Berufungsverfahren): Artikel 407 Absatz 1 litera c StPO stellt eine Spezialbestimmung für das Rechtsmittelverfahren dar, die Artikel 88 Absatz 1 StPO verdrängt. Im Berufungsverfahren ist daher keine Publikation der Vorladung erforderlich. Wenn die Partei, welche Berufung erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann, dann tritt die Rückzugsfiktion nach dem klaren Wortlaut von Artikel 407 Absatz 1 litera c StPO sofort ein. Dies gilt für sämtliche Konstellationen, die in Artikel 88 Absatz 1 beschrieben werden.43
Artikel 429 Absatz 1 litera a StPO (Entschädigung der beschuldigten Person bei Einstellung des Verfahrens): Das Bundesgericht bestätigt seine Rechtsprechung, wonach die beschuldigte Person bei Einstellung der Strafuntersuchung für ihre Verteidigerkosten grundsätzlich zu entschädigen ist. Im konkreten Fall war der Beizug eines Verteidigers angemessen und geboten. Mitentscheidend sind neben den Auswirkungen des Strafverfahrens auf die persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person auch die Überschaubarkeit der Sachverhalte (etwa mehrere miteinander zusammenhängende Verfahren mit Gegenanzeigen etc.) sowie die Komplexität der vorgeworfenen Delikte (in casu: Rechtspflegedelikte).44
3.3 Bundesgesetz über das Bundesgericht
Artikel 93 Absatz 1 litera a BGG (nicht wieder gutzumachender Nachteil): Gegen gestützt auf Artikel 409 StPO ergangene Rückweisungsbeschlüsse steht die Beschwerde gemäss Artikel 93 Absatz 1 litera a BGG nicht zur Verfügung, es sei denn, die beschwerdeführende Partei rügt mit hinreichender Begründung eine Rechtsverweigerung (beispielsweise eine Praxis systematischer Rückweisungsbeschlüsse wegen eines Verfahrensmangels, obschon dieser nicht als schwerwiegend oder als heilbar zu qualifizieren ist). Rein tatsächliche Nachteile wie eine Verfahrensverlängerung oder -verteuerung reichen nicht aus, um einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur zu begründen. Letztinstanzliche kantonale Rückweisungsentscheide bewirken in der Regel keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil.45
1 Urteil 6B_1029/2021 vom 24.8.2022.
2 Urteil 6B_789/2020 vom 31.8.2022.
3 Urteil 6B_382/2021 vom 25.7.2022.
4 Urteil 6B_78/2022 vom 8.6.2022.
5 BGE 148 IV 39 (6B_727/2020 vom 28.10.2021).
6 Urteil 6B_1258/2020 vom 12.11.2021.
7 Urteil 6B_265/2020 vom 11.5.2022.
8 BGE 148 IV 57 (6B_567/2020 vom 6.12.2021).
9 BGE 148 IV 113 (6B_636/2020/ 6B_637/2020 vom 10.3.2022).
10 BGE 148 IV 66 (6B_216/2020 vom 1.11.2021).
11 Urteil 6B_231/2022 vom 1.6.2022; vgl. auch BGE 142 IV 93, E. 3.2.
12 Urteil 6B_519/2020 vom 27.9.2021. Kritisch dazu: Gian Ege, in: Forumpoenale 1/2022, S. 35 ff.
13 Urteile 6B_1390/2020 vom 8.8.2022 und 6B_917/2018 vom 13.1.2022.
14 Urteil 6B_1322/2020 vom 16.12.2021.
15 Urteil 6B_1227/2021 vom 10.10.2022; vgl. auch Urteil 6B_216/2021 vom 16.2.2022.
16 BGE 148 IV 96 (6B_938/2020/ 6B_942/2020 vom 12.11.2021).
17 Urteil 6B_1403/2021 vom 9.6.2022.
18 BGE 148 IV 137 (1B_98/2021 vom 3.3.2022).
19 BGE 148 IV 17 (1B_333/2021 vom 5.11.2021).
20 Urteil 1B_562/2021 vom 16.11.2021.
21 BGE 148 I 116 (1B_434/2021 vom 14.9.2021).
22 Urteil 1B_672/2021 vom 30.12.2021.
23 Urteil 6B_790/2021 vom 20.1.2022.
24 BGE 148 IV 124 (6B_1404/2020) vom 17.1.2022.
25 Urteil 1B_127/2021 vom 22.12.2021.
26 Urteil 1B_82/2021 vom 9.9.2021.
27 Urteil 1B_528/2021 vom 21.12.2021.
28 Urteil 6B_210/2021 vom 23.3.2022.
29 Urteil 1B_485/2021 vom 26.11.2021.
30 Urteil 6B_1040/2021 vom 5.10.2022.
31 BGE 148 IV 145 (6B_780/2021 vom 16.12.2021); anders noch BGE 143 IV 397.
32 BGE 148 IV 22 (6B_1320/2020 vom 12.1.2022). Vgl. dazu auch Wolfgang Wohlers, «Der Verzicht auf die Inanspruchnahme von Verteidigungsrechten», in: Forumpoenale 4/2022, S. 307 ff.
33 Urteil 1B_274/2022 vom 20.6.2022.
34 Urteil 1B_447/2021 vom 25.1.2022.
35 Urteil 1B_28/2021 vom 4.11.2021.
36 Urteil 1B_432/2021 vom 28.2.2022.
37 BGE 148 IV 74 (1B_59/2021 vom 18.10.2021).
38 BGE 147 IV 424 (1B_132/2020 / 1B_184/2020 vom 18.6.2020).
39 BGE 148 IV 82 (1B_404/2021 vom 19.10.2021).
40 Urteil 6B_684/2021 vom 22.6.2022.
41 BGE 148 IV 89 (6B_1397/2019) vom 12.1.2022; BGE 147 IV 505 (6B_1498/2020 vom 29.11.2021).
42 BGE 148 IV 148 (6B_1476/2020/ 6B_48/2021 vom 28.10.2021).
43 Urteil 6B:998/2021 vom 22.6.2022.
44 Urteil 6B_371/2021 vom 21.2.2022.
45 BGE 148 IV 155 (6B_1010/2021 vom 10.1.2022).