1. Strafrecht
1.1 Allgemeine Bestimmungen
Artikel 6 Ziffer 1 EMRK (Abgrenzung Strafrecht und Disziplinarmassnahmen): Disziplinarmassnahmen sind grundsätzlich keine Strafen im Sinne von Artikel 6 Ziffer 1 EMRK).1
Artikel 12 StGB (Arbeitsunfall als fahrlässige Tötung): Die Pflichten zum Schutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz beziehungsweise zur Unfallverhütung ergeben sich unter anderem aus Artikel 328 Absatz 2 OR, Artikel 82 UVG und der VUV. Darüber hinaus sind die gestützt auf Artikel 83 UVG erlassenen Ausführungsvorschriften des Bundesrats und die übrigen Richtlinien zu beachten, welche die Pflicht des Arbeitgebers konkretisieren und für einzelne Arbeitsbereiche mit erhöhtem Gefahrenpotenzial zum Teil besonders umschreiben. Wird gegen eine solche Vorschrift verstossen, liegt darin zugleich ein Indiz für die Missachtung der Sorgfaltspflicht im Sinne von Artikel 12 Absatz 3 StGB.2
Artikel 15 StGB (Notwehrlage): Es liegt keine Notwehrlage mehr vor, wenn ein Angriff stattgefunden, die angreifende Person sich aber bereits wieder entfernt hat. Ein Angriff auf das Hausrecht stellt zwar eine Notwehrlage dar, eine Schussabgabe zwecks Abwehr des Angriffs ist aber unverhältnismässig. Besteht die Notwehrlage zum Zeitpunkt der Schussabgabe folglich nur durch einen andauernden Angriff auf das Hausrecht, ist diese nicht ausreichend, um die Aufregung oder Bestürzung des Angegriffenen als entschuldbar erscheinen zu lassen.3
Artikel 30 StGB (Strafantragsfrist von Erben): Die Erben verfügen mit Artikel 30 Absatz 4 StGB nicht über ein selbständiges Strafantragsrecht, sondern müssen dieses stellvertretend für die verstorbene Person geltend machen. Deshalb müssen sie sich gegebenenfalls auch beim Fristenlauf die Kenntnisse eines allfälligen Beistands anrechnen lassen.4
Artikel 42 StGB (bedingter Vollzug): Bei der Prüfung des künftigen Wohlverhaltens beziehungsweise der Bewährungsaussichten sind alle wesentlichen Umstände zu beachten. Zu berücksichtigen sind neben den Tatumständen namentlich das Vorleben und der Leumund sowie alle weiteren Tatsachen, die gültige Schlüsse auf den Charakter des Täters und die Aussichten seiner Bewährung zulassen.
Relevante Prognosekriterien sind insbesondere die strafrechtliche Vorbelastung, die Sozialisationsbiografie, das Arbeitsverhalten oder das Bestehen sozialer Bindungen. Dabei sind die persönlichen Verhältnisse bis zum Zeitpunkt des Entscheids miteinzubeziehen. Es ist unzulässig, einzelnen Umständen eine vorrangige Bedeutung beizumessen und andere zu vernachlässigen oder überhaupt ausser Acht zu lassen.5
Artikel 66a StGB (Landesverweisung, Härtefall bei Kindern im anpassungsfähigen Alter): Sind Kinder involviert, ist bei der Interessenabwägung als wesentliches Element dem Kindeswohl Rechnung zu tragen. Minderjährige Kinder teilen das ausländerrechtliche Schicksal des obhutsberechtigten Elternteils. Wird ein Kind deshalb faktisch gezwungen, die Schweiz zu verlassen, sind insbesondere auch die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, auf die es im Zielland treffen könnte, wobei Kindern im anpassungsfähigen Alter der Umzug in das Heimatland grundsätzlich zumutbar ist. Das Bundesgericht liess aber offen, welches Alter eines Kindes es als «anpassungsfähig» ansieht. Das Kind im vorliegenden Fall war neun Monate alt.6
Artikel 66a StGB (Landesverweisung, kein Härtefall trotz Kind): Im Alter von 14,5 Jahren steht ein Kind kurz vor dem Eintritt ins Berufsleben, ist zunehmend selbständig und geht den eigenen Interessen nach. Das Kontaktrecht kann bei einer Landesverweisung auch mittels moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um einen jungen Erwachsenen handelt, der mit der Nutzung moderner Kommunikationsmittel aufgewachsen und vertraut ist.
Der persönliche Kontakt kann auch weiterhin im Rahmen gemeinsamer Ferien im Heimatland stattfinden. Insofern die Landesverweisung in ein Land innerhalb Europas erfolgt (in casu Kosovo), welches mit dem Flugzeug in kurzer Zeit erreichbar ist, erscheint sogar die Wahrnehmung regelmässiger Besuche realistisch.7
Artikel 79b StGB (Electronic Monitoring): Electronic Monitoring, das heisst ein Strafvollzug mit Überwachung durch eine elektronische Fussfessel, ist nur zulässig, wenn der vollziehbare Teil einer teilbedingten Freiheitsstrafe höchstens zwölf Monate beträgt.8
1.2 Besondere Bestimmungen
Artikel 138 StGB (Veruntreuung): Bei einem Darlehen, bei dem kein bestimmter Verwendungszweck verabredet ist, ist eine Pflicht des Borgers zur ständigen Werterhaltung zu verneinen. Der Borger darf mit dem Darlehen nach seinem Belieben wirtschaften. Er ist einzig verpflichtet, es zum vertraglichen oder gesetzlichen Termin zurückzuerstatten. Wurde das Darlehen jedoch für einen bestimmten Zweck ausgerichtet, ist im Einzelfall zu prüfen, ob sich aus der vertraglichen Abmachung eine Werterhaltungspflicht des Borgers ergibt. Massgebend ist, welches Verhalten den Schadenseintritt tatsächlich herbeigeführt hat.9
Artikel 156 StGB (Betrug im Online-Handel): Entgegen der im Urteil 6B_24/2018 vom 22. Mai 2019 noch vertretenen Auffassung ist es für die Anwendung von Artikel 147 StGB bei einem Kauf auf Rechnung von Bedeutung, ob nicht nur der Bestellvorgang, sondern auch der Versand der Waren vollautomatisiert wurde. Sind Personen in den Versandvorgang involviert, findet die Vermögensverschiebung zulasten Dritter nicht durch die Datenverarbeitungsanlage statt, sondern durch Menschen, welche getäuscht werden, wenn der Käufer in Wirklichkeit nicht zahlungswillig ist und folglich gar kein verbindlicher Kaufvertrag zustande kam.
Die Vortäuschung des Zahlungswillens im Online-Handel fällt daher trotz der teilweise vollautomatisierten Abwicklung der Bestellvorgänge unter den Straftatbestand des Betrugs im Sinne von Artikel 146 Absatz 1 StGB, wenn die Bestellungen von Menschen entgegengenommen werden, welche die bestellten Waren verpacken und versenden. Unerheblich ist, dass den für den Versand zuständigen Mitarbeitern in Bezug auf die Frage, ob sie die bestellten Waren versenden wollen oder nicht, keine oder kaum Entscheidungsbefugnis zukommt.
Entscheidend ist, dass die Mitarbeiter berechtigt und wohl auch verpflichtet sind, die Bestellung zu stornieren, wenn sie bei einem Kauf auf Rechnung Kenntnis vom fehlenden Zahlungswillen erlangen und sie beziehungsweise die Gesellschaft, für welche sie handeln, die Waren daher im Irrtum über den Zahlungswillen des Käufers und das Vorliegen eines verbindlichen Kaufvertrags versenden.10
Artikel 146 StGB («Romance Scam» als Betrug): Definiert wird «Romance Scam» gemeinhin als Form des Betrugs, bei welcher auf Social-Media-Plattformen oder Online-Partnerbörsen gefälschte Profile erstellt werden, um anderen Personen Verliebtheit vorzuspielen und schliesslich bereichert zu werden. Aus materiellrechtlicher Sicht ist der «Romance Scam» grundsätzlich ein klassischer Betrug gemäss Artikel 146 StGB.
Besonders ausgeprägt ist bei dieser Form des Betrugs jedoch die perfide Art der Täuschung durch die Täterschaft als Bestandteil des Arglisterfordernisses. Auf der Grundlage vielfältiger aufeinander abgestimmter Lügen und gefälschter Informationen wird über einen längeren Zeitraum eine emotionale Bindung aufgebaut, um letztlich das Opfer in seinem Vermögen zu schädigen.11
Artikel 148a StGB (Sozialleistungsmissbrauch, Opfermitverantwortung): Im Gegensatz zum Betrug muss der Irrtum aufgrund der Konzeption von Artikel 148a StGB nicht arglistig herbeigeführt oder verstärkt worden sein. Die Opfermitverantwortung als Aspekt der Arglist spielt deshalb bei der Beurteilung der Tatbestandsmässigkeit nach Artikel 148a StGB keine Rolle. Eine allfällige Mitverantwortung der Sozialbehörde kann indessen bei der Beurteilung des Verschuldens und damit auch bei der Frage, ob es sich um einen leichten Fall im Sinne von Artikel 148a Absatz 2 StGB handelt, sowie im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt werden.12
Artikel 190 StGB (Vergewaltigung, Dauer und Verschulden): Die Dauer eines sexuellen Übergriffs steht in keinem Zusammenhang mit der Schwere der Verletzung des geschützten Rechtsguts. Die Verletzung des geschützten Rechtsguts geschieht bereits in den ersten Augenblicken des Geschlechtsaktes. In keinem Fall kann die «relativ kurze» Dauer einer Vergewaltigung als mildernder Faktor angesehen werden. Andererseits spricht nichts dagegen, die Dauer der kriminellen Aktivität in einem schuldverschärfenden Sinne zu berücksichtigen, da ihre zeitliche Ausdehnung mit der Entfaltung einer umso konsequenteren kriminellen Energie einhergeht.13
2. Nebenstrafrecht
2.1 Strassenverkehrsgesetz
Artikel 16c SVG (Signalisation der Höchstgeschwindigkeit gilt in jedem Fall): Motorfahrzeugführer müssen auf die Gültigkeit der markierten Signalisationen vertrauen dürfen. Wer auf die Gültigkeit einer signalisierten Höchstgeschwindigkeit vertraut, wird die Geschwindigkeit anderer Verkehrsteilnehmer, welche die Signalisation missachten, falsch einschätzen. Für Letztere ist es im Einzelfall nicht vorweg erkennbar, ob sie dadurch andere Verkehrsteilnehmer konkret gefährden. Sie schaffen aber jedenfalls ein erhebliches, nicht akzeptables Risiko.
Angesichts des heutigen Verkehrsaufkommens kann nicht in Kauf genommen werden, dass einzelne Motorfahrzeugführer eine signalisierte Höchstgeschwindigkeit ignorieren und darauf vertrauen, diese sei wegen mangelhafter Publikation nicht gültig. Dies gilt in besonderem Mass bei den hohen Geschwindigkeiten, die auf den Autobahnen erreicht werden. Die Pflicht zur Beachtung der Signalisation muss demnach ungeachtet davon gelten, ob deren Missachtung zu einer konkreten Gefährdung führt.14
Artikel 90 Absatz 2 SVG (Abgrenzung zwischen Fahrlässigkeit und Vorsatz): Bei Strassenverkehrsdelikten ist von fahrlässiger Tatbegehung auszugehen, wenn die Anklage keine Elemente enthält, die auf Vorsatz schliessen lassen.15
Artikel 90 Absatz 3ter SVG (Rasertatbestand und Ersttäterprivileg): Ende Oktober 2023 trat eine neue Regelung in Bezug auf das Strafmass bei Raserdelikten in Kraft. Demnach kann gegen Ersttäter anstatt einer Freiheitsstrafe auch eine Geldstrafe verhängt werden. Dies setzt voraus, dass der Täter innerhalb der letzten zehn Jahre vor der Tat nicht wegen eines Verbrechens oder Vergehens im Strassenverkehr mit ernstlicher Gefahr für die Sicherheit anderer verurteilt wurde.
Der Gesetzgeber beabsichtigte mit der neuen Bestimmung, einen autonomen strafrechtlichen Rahmen für Ersttäter zu schaffen. Dem Richter soll ein Ermessensspielraum eingeräumt werden. Für eine Anwendung dieser neuen Bestimmung ist es nicht notwendig, dass beim Täter darüber hinaus besonders günstige Umstände vorliegen müssen.16
2.2 Betäubungsmittel
Artikel 19 Absatz 2 BetmG (Mengenmässig schwerer Fall): Gestützt auf Artikel 19 Absatz 2 litera a BetmG liegt ein mengenmässig schwerer Fall vor, wenn eine einzelne Widerhandlung gegen das BetmG oder mehrere solche Widerhandlungen, die ein zusammengehörendes Geschehen und damit eine natürliche Handlungseinheit bilden, eine qualifizierte Betäubungsmittelmenge betreffen. Ein schwerer Fall liegt jedoch auch dann vor, wenn eine entsprechende Menge nur unter gesamthafter Betrachtung mehrerer, rechtlich selbständiger Widerhandlungen erreicht wird.
Ob mehrere Widerhandlungen als ein zusammengehörendes Geschehen erscheinen oder ob sie voneinander unabhängige Einzelhandlungen darstellen, bleibt für die Frage des Vorliegens eines mengenmässig schweren Falls folglich ohne Belang. In der einen wie der anderen Konstellation sind die Betäubungsmittelmengen zu addieren, um das Vorliegen eines mengenmässig schweren Falls zu bestimmen.17
2.3 Verwaltungsstrafrecht
Artikel 70 VstrR (Verwaltungsstrafrecht als verjährungsrechtliches Urteil): Eine Strafverfügung gemäss Artikel 70 VStrR hemmt den Eintritt der Verjährung wie ein erstinstanzliches Urteil.18
3. Strafverfahren
3.1 Allgemein
Artikel 14 JStPO (Öffentlichkeit der Verhandlungen im Jugendstrafrecht): Eine Verhandlung vor Jugendgericht oder vor der Berufungsinstanz kann ausnahmsweise öffentlich sein, wenn sie namentlich wegen des öffentlichen Interesses als notwendig erachtet wird. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Straftat des Jugendlichen in der Öffentlichkeit grosses Aufsehen erregt und die Öffentlichkeit stark bewegt hat.
Die gerichtliche Behörde muss sich jedoch stets vergewissern, dass die Öffentlichkeit der Verhandlung den Interessen des Beschuldigten Jugendlichen nicht zuwiderläuft. Je nach Interessenlage kann auch eine Teilöffentlichkeit zugelassen werden, eingeschränkt etwa auf akkreditierte Medienschaffende oder auf einen vom jugendlichen Beschuldigten vorgeschlagenen Personenkreis.19
3.2 Strafprozessrecht
Artikel 56 StPO (Ausstandspflicht bei Richtern): Die Garantie des unabhängigen und unparteiischen Richters verlangt nicht den Ausstand eines Richters aus dem blossen Grund, dass er in einem früheren Verfahren – ja sogar im gleichen Verfahren – zuungunsten des Betroffenen entschieden hat. Grundsätzlich liegt keine unzulässige Mehrfachbefassung bei einer Gerichtsperson vor, die an dem durch die Rechtsmittelinstanz aufgehobenen Entscheid beteiligt war und nach Rückweisung der Sache an der Neubeurteilung mitwirkt.
Die am Entscheid beteiligten Richter der unteren Instanz stehen nicht von vorneherein unter dem Anschein der Befangenheit. Dafür bedarf es besonderer Umstände, namentlich konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die frühere Befassung mit einer Strafsache bereits zur festen richterlichen Gewissheit über den Schuldpunkt geführt hat.20
Artikel 115 StPO (Keine Beschwerdelegitimation als Geschädigter nach Schwangerschaftsabbruch): Der Erzeuger eines abgetriebenen Fötus ist nicht berechtigt, die Einstellung des Strafverfahrens gegen die Mutter wegen strafbaren Schwangerschaftsabbruchs mit Beschwerde anzufechten. Er ist nicht Träger des mit der fraglichen Strafbestimmung geschützten Rechtsguts und kann auch nicht als Opferangehöriger gelten, weil das ungeborene Leben nie eine eigene Rechtspersönlichkeit erlangt hat.21
Artikel 115 StPO (Keine adhäsionsweise Geltendmachung von vertraglichen Ansprüchen im Strafverfahren): Die im Strafverfahren gestellten Zivilforderungen (Schadenersatz, Genugtuung) stützen sich meist auf den Rechtstitel der unerlaubten Handlung (Artikel 41 ff. und 47 f. OR; Artikel 58 und 62 SVG). Weitere mögliche Anspruchsgrundlagen sind die Persönlichkeitsrechte (Artikel 28 ff. ZGB), die Eigentums- (Artikel 641 ZGB) und die Besitzesrechte (Artikel 927, 928 und 934 ZGB oder auch Artikel 9 und 23 UWG).
Zivilansprüche, die auf einem Vertrag beruhen, können hingegen nicht Gegenstand einer adhäsionsweise erhobenen Zivilklage im Strafverfahren sein. Denn soweit jemand einen vertraglichen Anspruch besitzt, ist er nicht geschädigte Person (Artikel 115 Absatz 1 StPO), weil sich die Forderung nicht auf eine unmittelbar durch die Straftat verursachte Verletzung von Rechten stützt. Jedenfalls handelt es sich beim geltend gemachten Zivilanspruch um einen solchen aus Arbeitsvertrag, der nicht Gegenstand einer Adhäsionsklage im Strafprozess sein kann.22
Artikel 135 StPO (Zurückhaltende Überprüfung von Honorar von amtlicher Verteidigung): Den Kantonen kommt bei der Bemessung des Honorars der amtlichen Verteidigung ein weiter Ermessensspielraum zu. Das Bundesgericht schreitet nur ein, wenn der Ermessensspielraum klarerweise überschritten wurde und Bemühungen nicht honoriert wurden, die zweifelsfrei zu den Obliegenheiten einer amtlichen Verteidigung gehören. Die Festsetzung des Honorars muss ausserhalb jedes vernünftigen Verhältnisses und der geleisteten Dienste stehen und in krasser Weise gegen das Gerechtigkeitsgefühl verstossen.23
Artikel 141 StPO (Umgang mit unverwertbaren Beweisen): Es sind sämtliche unverwertbaren Beweise aus den Akten zu entfernen und bis zum Abschluss des Verfahrens verschlossen aufzubewahren. Vorfrageweise, nicht erst vor Abschluss des Beweisverfahrens und nach den Einvernahmen, ist über die Verwertbarkeit der Beweismittel des staatsanwaltschaftlichen Vorverfahrens zu entscheiden.24
Artikel 141 StPO (Verwertung von rechtswidrig erlangter Beweise von Privaten): Von Privaten rechtswidrig erlangte Beweise (vorliegend: Videoaufnahmen) sind nur verwertbar, wenn sie von den Strafverfolgungsbehörden rechtmässig hätten erhältlich gemacht werden können und kumulativ dazu eine Interessenabwägung für deren Verwertung spricht. Bei der Interessenabwägung ist derselbe Massstab wie bei von den Strafbehörden rechtswidrig erhobenen Beweisen anzuwenden. Die Verwertung ist nur zulässig, wenn sie gemäss Artikel 141 Absatz 2 StPO zur Aufklärung einer schweren Straftat unerlässlich ist.
Es kommt nicht darauf an, ob vor den Videoaufnahmen ein konkreter Tatverdacht bestanden hat. Entscheidend ist, ob die Beschaffung zulässig gewesen wäre, wenn der Tatverdacht bekannt gewesen wäre. Erfolgt der Zugriff auf einen privaten Beweis durch die Strafbehörden prozessrechtskonform, liegt ein staatliches Fehlverhalten folglich selbst dann nicht vor, wenn es sich um ein illegales privates Beweismittel handelt.
Zu prüfen ist demzufolge stets, ob der private Beweis im zu beurteilenden Fall aufgrund der abstrakten Gesetzeslage hätte beschafft werden können. Das heisst, ob er vom gesetzlich vorgesehenen Beweisdispositiv umfasst und von keinen Einschränkungen (wie etwa Beschlagnahmeverboten nach Artikel 264 StPO oder dem Erfordernis der Katalogtat nach Artikel 269 Absatz 2 StPO) betroffen ist. Das Vorliegen eines Tatverdachts sowie Verhältnismässigkeitsgesichtspunkte, die eine Würdigung der konkreten Umstände der Beweiserlangung im Einzelfall bedingen, sind hingegen nicht zu beurteilen.25
Artikel 141 StPO (Verwertung von Bancomaten-Kamerabildern bei Verkehrsdelikten): Die Videoaufzeichnung im unmittelbaren Umfeld des Bancomaten bei einer Tankstelle erfolgt aus Sicherheitsgründen und dient der Verhinderung und der Aufklärung von rechtswidrigen Handlungen im Zusammenhang mit dem Bancomaten. Damit ist diese Datenbearbeitung nach Artikel 13 DSG rechtmässig. Die Frage nach der Erkennbarkeit der Überwachungskamera kann offengelassen werden. Nach ständiger Rechtsprechung sind von Privaten rechtmässig erlangte Beweismittel ohne Einschränkungen verwertbar. Eine rechtmässig erstellte private Videoaufnahme darf für die Personenidentifikation verwertet werden.26
Artikel 141 StPO (Verdeckte Ermittlungen im Ausland): Der Austausch von Nachrichten zwischen schweizerischen verdeckten Ermittlern, die sich im Zielland befinden, und dem Beschuldigten, welcher sich im Ausland befindet, stellt keine offizielle Handlung dar, welche Auswirkungen auf ein ausländisches Territorium hat. Die verdeckte Ermittlung verstösst daher nicht gegen das Territorialitätsprinzip.
Die Überwachung des Fernmeldeverkehrs im Ausland habe sodann keine Auswirkungen auf das ausländische Territorium und ist daher legal, zumal die verdeckte Ermittlung der Schweiz ermöglicht, ihren internationalen Verpflichtungen in der Bekämpfung des Drogenhandels zu erfüllen.27
Artikel 147 StPO (Teilnahmerecht und Konfrontationsanspruch): Eine wegen Verletzung des Teilnahmerechts nicht verwertbare Einvernahme bleibt unverwertbar. Der Mangel der ersten Einvernahme ist insofern nicht heilbar.
Während die Wiederholung einer Einvernahme mit erstmaliger Einräumung des Konfrontationsrechts im Sinne des Mindeststandards der Europäischen Menschenrechtskonvention dazu dient, sämtliche vorhandenen früheren Aussagen einer Verwertbarkeit zuzuführen, geht es bei der Wiederholung einer in Missachtung des Teilnahmerechts von Artikel 147 Absatz 1 StPO abgehaltenen Einvernahme unter erstmaliger Wahrung des Teilnahmerechts darum, überhaupt erst verwertbare Aussagen zu schaffen.
Auch wenn es eine Wiederholung ermöglicht, zugleich sowohl eine Konfrontation als auch das Teilnahmerecht sicherzustellen, kann sie nicht zur Verwertbarkeit einer vorausgegangenen in Verletzung des Teilnahmerechts durchgeführten Einvernahme führen.28
Artikel 167 StPO (Freigabe beschlagnahmter Vermögenswerte): Für eine Beschlagnahmung reicht es aus, wenn die Möglichkeit besteht, dass die betroffenen Gegenstände und Vermögenswerte künftig gebraucht, eingezogen oder zurückerstattet werden könnten. Sie ist hinsichtlich ihres Umfangs auf das erforderliche Mass zu beschränken. Die Strafbehörden haben während des Strafverfahrens laufend zu prüfen, ob und in welchem Umfang die Beschlagnahme noch gerechtfertigt ist.
Eine Beschlagnahme kann auch dadurch unverhältnismässig werden, dass sich ihre Dauer grundlos in die Länge zieht. Indessen müssen grundsätzlich sämtliche Vermögenswerte beschlagnahmt bleiben, solange nicht geklärt ist, welcher Anteil der betroffenen Vermögenswerte aus deliktischer Herkunft stammt.
Wird eine Beschlagnahme ganz oder teilweise aufgehoben, sind die betroffenen Gegenstände und Vermögenswerte den berechtigten Personen nach den Bestimmungen von Artikel 267 StPO auszuhändigen. Die Berechtigung richtet sich nach den Regeln des Privatrechts. Allfällige Sicherungsrechte gemäss SchKG bleiben somit vorbehalten. Mit einer verfrühten Freigabe wird riskiert, dass die Honorarnoten der Rechtsvertretung mit Mitteln aus deliktischer Herkunft beglichen werden.29
Artikel 221 Absatz 2 StPO (Haftgrund der Ausführungsgefahr): Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung von Delikten sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen nicht aus, um Haft wegen Ausführungsgefahr zu begründen. Bei der Annahme, dass eine Person ein schweres Verbrechen begehen könnte, ist Zurückhaltung geboten. Erforderlich ist eine sehr ungünstige Prognose. Nicht Voraussetzung ist hingegen, dass die verdächtige Person bereits konkrete Anstalten getroffen hat, um die befürchtete Tat zu vollenden. Vielmehr genügt es, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung aufgrund einer Gesamtbewertung der persönlichen Verhältnisse sowie der Umstände als sehr hoch erscheint.
Besonders bei drohenden schweren Gewaltverbrechen ist dabei auch dem psychischen Zustand der verdächtigen Person beziehungsweise ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität Rechnung zu tragen. Je schwerer die angedrohte Straftat ist, desto eher rechtfertigt sich eine Inhaftierung, wenn die vorhandenen Fakten keine genaue Risikoeinschätzung erlauben.
Insbesondere bei einer zu befürchtenden vorsätzlichen Tötung darf an die Annahme der Ausführungsgefahr kein allzu hoher Massstab angelegt werden. Anders zu entscheiden hiesse, das potenzielle Opfer einem nicht verantwortbaren Risiko auszusetzen. Es braucht in solchen Fällen keine maximal ausgeprägte ungünstige Prognose, sondern es genügt eine deutliche Ausführungsgefahr.30
Artikel 260 StPO (Anforderungen an präventive DNA-Probenahmen und -Profilerstellungen): Die DNA-Probenahme, DNA-Profilerstellung und die erkennungsdienstliche Erfassung sind, soweit sie nicht der Aufklärung der Straftaten eines laufenden Strafverfahrens dienen, nur dann verhältnismässig, wenn erhebliche und konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die beschuldigte Person in andere – auch künftige – Delikte verwickelt sein könnte.
Es muss sich dabei um Delikte von einer gewissen Schwere handeln. Dabei ist zu berücksichtigen, ob die beschuldigte Person vorbestraft ist. Trifft dies nicht zu, schliesst das jedoch die DNA-Probenahme, DNA-Profilerstellung oder erkennungsdienstliche Erfassung nicht aus, sondern es fliesst als eines von vielen Kriterien in die Gesamtabwägung ein und ist entsprechend zu gewichten.
Bei der Beurteilung der erforderlichen Deliktschwere kommt es weder einzig auf die Ausgestaltung als Antrags- oder Offizialdelikt noch auf die abstrakte Strafdrohung an. Vielmehr sind das betroffene Rechtsgut und der konkrete Kontext miteinzubeziehen. Eine präventive DNA-Probenahme, DNA-Profilerstellung oder erkennungsdienstliche Erfassung erweisen sich insbesondere dann als verhältnismässig, wenn die besonders schützenswerte körperliche oder sexuelle Integrität von Personen oder unter Umständen auch das Vermögen (Raubüberfälle, Einbruchdiebstähle) bedroht ist. Es müssen mithin ernsthafte Gefahren für wesentliche Rechtsgüter drohen.31
Artikel 263 Absatz 2 StPO (Schriftlichkeit der Beschlagnahme): Eine mündliche Anordnung einer Beschlagnahme verunmöglichte im vorliegenden Fall eine sachgerechte Anfechtung der angeordneten Zwangsmassnahme. Mangels schriftlicher Zustellung des Beschlagnahmebefehls begann die zehntägige Beschwerdefrist nicht zu laufen.
Diese Vorgehensweise steht im Widerspruch zur Dokumentationspflicht der Behörden und zum Anspruch auf rechtliches Gehör der beschuldigten Person.
Die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur nachträglichen schriftlichen Bestätigung der mündlich angeordneten Beschlagnahme (Artikel 263 Absatz 2 StPO) stellte im vorliegenden Fall eine Gültigkeitsvorschrift im Sinne von Artikel 141 Absatz 2 StPO dar. Folglich waren die Hanfsetzlinge beziehungsweise die aufgezogenen Hanfpflanzen sowie die Analysen der Hanfpflanzen nach Artikel 141 Absatz 4 StPO nicht verwertbar.32
Artikel 264 StPO (Geheimnisinteressen im Entsiegelungsverfahren): In Artikel 264 StPO nicht genannte Geheimnisinteressen sind im Entsiegelungsverfahren unbeachtlich. Dies ergibt sich aus dem Gesetzgebungsprozess. Der National- und der Ständerat sind dem Vorschlag des Bundesrats, der es Betroffenen ermöglichen wollte, auch Fabrikations-, Geschäftsgeheimnisse und auch Bankkundengeheimnisse als Entsiegelungshindernis anzurufen und glaubhaft zu machen, ausdrücklich nicht gefolgt. Die Verfahrensleitung hat – auf entsprechenden begründeten Antrag von Betroffenen hin – gegebenenfalls zu prüfen, ob sich eine Einschränkung des Akteneinsichtsrechts der Parteien zur Wahrung solcher privater Geheimhaltungsinteressen als erforderlich erweisen könnte.33
Artikel 269 StPO (Telefonüberwachung): Zwischen rechtshilfeweise erlangten allfälligen Zufallsfunden und solchen aus Überwachungen nach Artikel 269 ff. StPO ist zu differenzieren. Gestützt auf die Bestimmungen in Artikel 140 f. StPO kann spätestens das erkennende Strafgericht in den Untersuchungsakten befindliche, rechtshilfeweise erhobene Beweismittel für ungültig erklären und nötigenfalls separat unter Verschluss halten. Insofern bleibt ein sachgerechter Rechtsschutz der Parteien gewährleistet, ohne dass das Zwangsmassnahmengericht (ZMG) bereits im Vorverfahren einen definitiven Verwertungsentscheid mit weitreichenden prozessualen Folgen vorwegzunehmen und dabei dem Sachgericht vorzugreifen hätte.
In casu sollen auch die neuen Erkenntnisse aus den rechtshilfeweise erhobenen Aufzeichnungen gegen die bisherigen Verdächtigen, darunter der Beschuldigte, wegen der bisher bereits untersuchten Delikte (qualifizierter Drogenhandel und Geldwäscherei) verwendet werden. Damit lag zum Vornherein keine vom ZMG zu bewilligende Verwendung eines «Zufallsfunds» im Sinne von Artikel 274 in Verbindung mit Artikel 278 StPO vor.
Es besteht kein Ausnahmefall, bei dem die Unverwertbarkeit der rechtshilfeweise erhobenen Aufzeichnungen «bereits ohne weiteres» feststünde und vorab, durch einen vorfrageweisen Entscheid des ZMG im Untersuchungsverfahren, durchgesetzt werden müsste. Vielmehr ist dem abschliessenden Entscheid des Sachgerichts über die Verwertbarkeit von Beweismitteln (Artikel 141 StPO) nicht vorzugreifen.34
Art. 329 StPO (Tod des Beschuldigten im Berufungsverfahren): Stirbt die beschuldigte Person vor Ablauf der Rechtsmittelfrist oder nachdem sie die Berufung angemeldet hat, ist das erstinstanzliche Urteil im Zeitpunkt ihres Todes noch nicht in Rechtskraft erwachsen. Der Tod der beschuldigten Person kann nicht wie ein Verzicht auf das Rechtsmittel oder ein Rückzug gewertet werden. Der beschuldigten Person kann auch nicht vorgeworfen werden, sie habe die Rechtsmittelfirst unbenutzt ablaufen lassen oder sie habe die Berufungserklärung nicht (gehörig) eingereicht. Ihr Tod während dieser Phase des Strafverfahrens verhindert vielmehr dauerhaft den Eintritt der Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils. Die Rechtsfolge muss die Einstellung des Verfahrens gemäss Artikel 329 Absatz 4 StPO sein.35
Artikel 403 StPO (Zuständigkeit betreffend die Prüfung der Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung): Ob eine Berufungsanmeldung fristgerecht erfolgte, hat nicht das erstinstanzliche Gericht, sondern das Berufungsgericht zu entscheiden. Ergeht ein Nichteintretensentscheid des erstinstanzlichen Gerichts, ist dieser aufgrund der Unzuständigkeit nichtig. Das erstinstanzliche Gericht hat die Berufungsanmeldung zusammen mit den Akten zur Prüfung der Rechtzeitigkeit der Berufungsanmeldung an das Berufungsgericht zu überweisen. Gelangt dieses zur Auffassung, die Berufungsanmeldung sei gültig, ist das erstinstanzliche Urteil nachträglich schriftlich zu begründen.36
Artikel 406 StPO (Drohende Landesverweisung schliesst schriftliches Berufungsverfahren in der Regel aus): In der Regel dürfte bei einer möglichen Landesverweisung ein schriftliches Berufungsverfahren nicht zulässig sein. Die Frage der Zulässigkeit entscheidet sich jedoch im konkreten Fall und unter Beachtung der konventionsrechtlichen Garantien. Im vorliegenden Fall wurde durch das schriftliche Verfahren der Anspruch auf rechtliches Gehör des Beschuldigten verletzt, da diesem durch das schriftliche Verfahren keine Gelegenheit gegeben wurde, Beweisanträge zu stellen beziehungsweise sich zu der zu klärenden Frage seiner Situation im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland zu äussern.37
Artikel 407 StPO (notwendige Verteidigung): Im Falle der Abwesenheit des notwendigen Verteidigers anlässlich der Hauptverhandlung gelangt die Rückzugsfiktion nach Artikel 407 Absatz 1 litera a StPO nicht zur Anwendung. Bleibt die (amtliche) notwendige Verteidigung aus, wird die Verhandlung verschoben. Dies gilt unabhängig davon, ob das Nichterscheinen der amtlichen Verteidigung entschuldigt oder unentschuldigt erfolgt ist.38
Artikel 427 StPO (Entschädigung aus Staatskasse bedarf Genehmigung durch Behörde): Gemäss Artikel 427 Absatz 4 StPO bedarf eine Vereinbarung zwischen der antragstellenden und der beschuldigten Person über die Kostentragung beim Rückzug des Strafantrags der Genehmigung der Behörde, welche die Einstellung verfügt. Die Vereinbarung darf sich nicht zulasten des Bundes oder des Kantons auswirken.
Ein Vergleich bedarf der Genehmigung der Behörden, wenn die Parteien sich Entschädigungen zulasten des Staates vorbehalten wollen. Ansprüche gegen den Staat entstehen mithin nur im Falle eines von der Behörde genehmigten Vorbehalts einer Entschädigung zulasten der Staatskasse. Nicht nur das Schicksal der Kosten, sondern auch jenes der Entschädigung ist im Vergleich zu regeln.39
Artikel 429 StPO (Verzinsung der Haftentschädigung): Haftentschädigungen sind zu verzinsen, jedoch nur dann, wenn dies ausdrücklich geltend gemacht wird. Andernfalls ist von einem impliziten Verzicht auf die Verzinsung auszugehen.40
Fussnoten siehe PDF.