Alfred Bühler, wo ist die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur unentgeltlichen Rechtspflege verfassungswidrig?
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Plädoyer 05/2015
28.09.2015
Alfred Bühler, ehemaliger Präsident des Handelsgerichts des Kantons Aargau, nebenamtlicher Bundesrichter
Das unentgeltliche Rechtspflegesystem beruht auf der Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums gemäss Art. 93 SchKG. Der mittellose Rechtsuchende ist gegenüber dem bis aufs Existenzminimum auszupfändenen Betreibungsschuldner im Wesentlichen nur in zwei Punkten bessergestellt:
- Er hat Anspruch auf rund 20 Prozent Zuschlag auf dem monatlichen Grundbetrag für die unumgänglich notwendigen Lebenskosten gemäss Richtlinien f...
Das unentgeltliche Rechtspflegesystem beruht auf der Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums gemäss Art. 93 SchKG. Der mittellose Rechtsuchende ist gegenüber dem bis aufs Existenzminimum auszupfändenen Betreibungsschuldner im Wesentlichen nur in zwei Punkten bessergestellt:
- Er hat Anspruch auf rund 20 Prozent Zuschlag auf dem monatlichen Grundbetrag für die unumgänglich notwendigen Lebenskosten gemäss Richtlinien für die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums (zurzeit 1200 Franken für Alleinstehende, 1350 Franken für Alleinerziehende und 1700 Franken für Ehepaare.
- Falls der Gesuchsteller überhaupt über angespartes Vermögen verfügt, wird ihm ein Freibetrag (Notgroschen) als Reserve für die schicksalhaften Wechselfälle des Lebens belassen, der in der kantonalen Praxis je nach den Umständen des Einzelfalls auf 5000 bis 20 000 Franken angesetzt wird.
Das grundsätzliche verfassungsrechtliche Problem besteht darin, dass nach dieser Berechnungsmethode der gesamte, nicht überdurchschnittlich wohlhabende Mittelstand der Bevölkerung vom unentgeltlichen Rechtsschutz ausgeschlossen ist. Denn der Brutto-Medianlohn aller Wirtschaftszweige belief sich gemäss der letzten publizierten schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE 2012) auf 6118 Franken. Davon sind gemäss LSE 2010 – eine jüngere diesbezügliche Statistik gibt es nicht – im Durchschnitt aller Branchen 13,1 Prozent für die obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen, sodass der Netto-Medianlohn 5317 Franken beträgt. Für einen Durchschnitts-Lohnempfänger ist daher die unentgeltliche Rechtspflege nur zugänglich, wenn er für Frau und Kinder zu sorgen hat, die Ehefrau keinen Zusatzverdienst erzielt und er noch keinen Notgroschen von mehr als 10 000 Franken zur Seite legen konnte (wobei der Obergerichtspräsident des Kantons Zürich kürzlich entschieden hat, dass ein Notgroschen von Fr. 9560.25 oder einer von rund 5000 Franken die unentgeltliche Verbeiständung ausschliesst; ZR 2014 Nr. 60 und Nr. 62).
Dieser Rechtszustand verletzt die Rechtsweggarantie (effektiver Rechtsschutz) gemäss Artikel 29a der Bundesverfassung (BV) und das Verfahrensgrundrecht auf Fairness und Waffengleichheit gemäss Artikel 29 Absatz 1 BV sowie Artikel 6 Ziff. 1 EMRK. Ein nicht ganz mittelloser Geschädigter kann zum Beispiel seine Schadenersatz- oder Versicherungsansprüche gegenüber einer zahlungs- und vergleichsunwilligen Versicherungsgesellschaft effektiv gar nicht mehr durchsetzen, weil er für den Fall des Prozessverlustes den finanziellen Ruin seiner Familie riskieren muss.
Mit Urteil vom 10. April 2014 (BGE 140 III 12 ff.) hat die I. zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts entschieden, dass für das vorsorgliche Beweisverfahren gemäss Artikel 158 Absatz 1 litera b ZPO die unentgeltliche Rechtspflege generell ausgeschlossen ist. Dieser Leitentscheid verletzt eindeutig das Verfahrensgrundrecht auf unentgeltliche Rechtspflege von Artikel 29 Absatz 3 BV sowie das erwähnte Fairness- und Waffengleichheitsprinzip.
Er stellt ausserdem eine unzulässige, ohne vorgängiges Vorlageverfahren gemäss Artikel 23 BGG vorgenommene Praxisänderung dar, weil seit mehr als zwanzig Jahren (BGE 119 Ia 264 E. 3a, S. 265) der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege für jedes staatliche Verfahren besteht, «in welches der Gesuchsteller einbezogen wird oder dessen er zu Wahrung seiner Rechte bedarf». Bereits diese Rechtsprechung wurde ausschliesslich aus der Verfassung (Artikel 4 aBV) abgeleitet.