Die Post pflegt zurzeit, eingeschriebene Sendungen vom Postboten unterzeichnen zu lassen – statt vom Empfänger. Der Zürcher Rechtsanwalt Felix A. Hollinger erlebte einen solchen Fall: «Die Vorladung zur Konkursverhandlung an meine Mandantin erfolgte per Einschreiben. Im Feld ‹Unterschrift› fand sich die Bezeichnung ‹Corona iV› sowie eine unleserliche Unterschrift.» Es war die Unterschrift des Pöstlers.
Gemäss Post ist der Bote zu diesem Vorgehen ermächtigt, sofern er «die empfangsberechtigte Person antrifft» und ihr die Sendung übergibt. Wird niemand angetroffen, so sei – wie gewöhnlich – der Abholzettel auszufüllen und in den Briefkasten zu legen. Grund: die Coronapandemie.
Rechtsanwalt Hollinger machte beim Zuger Obergericht geltend, dass seiner Mandantin die Anzeige zur Konkursverhandlung gar nie zugestellt worden war. Das Obergericht wies die Beschwerde ab. Das Bundesgericht jedoch hält in seinem Urteil fest: Die «Covid-19-Verordnung Justiz und Verfahrensrecht» sehe zwar im Abschnitt «Betreibungs- und Konkursverfahren» die Möglichkeit einer Zustellung ohne Empfangsbestätigung vor – aber nur für Vollstreckungsorgane (BGE 138 III 225). Aufsichtsbehörden und Gerichte, die im Betreibungs- und Konkursrecht Anordnungen treffen oder Entscheide fällen, seien vom Anwendungsbereich ausgeschlossen. Das ergebe sich aus dem Wortlaut der Bestimmung, deren Einordnung in der Covid-19-Verordnung vom 16. April 2020 und aus den Erläuterungen des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Für eine Vorladung zur Konkursverhandlung war «unvermindert das gesetzliche Erfordernis der Empfangsbestätigung zu beachten». Dafür trage das Gericht die Beweislast. Dieser Beweis sei nicht erbracht worden. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut und hob den Konkursentscheid auf.
Eingeschriebene Sendungen vor der Haustür
Hollinger hat erfahren, dass bei Anwaltskollegen Einschreibebriefe und Kleinpakete im Briefkasten oder sogar allgemein zugänglich im Treppenhaus lagen, ohne dass jemand den Empfang bestätigt hätte. Laut Aussage eines Postboten habe ihm der Vorgesetzte klare Zeitvorgaben gemacht, «die eine rechtsgültige Zustellung nicht gerade unterstützten». Dieses Vorgehen öffnet laut Hollinger «Tür und Tor für fehlerhafte Zustellungen und sogar für Manipulationen». Immerhin könne es bei einem Gerichtsprozess um Millionenbeträge gehen.
Thomas Geiser, emeritierter Professor und kürzlich zurückgetretener nebenamtlicher Richter am Bundesgericht, fand bundesgerichtliche Akten, die stets eingeschrieben zugestellt werden, zum Teil vor der Haustür. «Der Zusteller hatte sie dort deponiert und selbst unterschrieben.» So sei die Zustellungsbestätigung «schlicht kein Beweis mehr, dass die Post wirklich zugestellt wurde und die betroffene Person die Sendung wirklich erhielt». Geiser mahnt: «Die tatsächliche Zustellung einer Verfügung oder eines Urteils ist für den Rechtsstaat zentral.»
Die St. Galler Rechtsanwältin Nicole Zürcher Fausch kritisiert die mangelnde Leistungserbringung der Post ebenfalls. «Der Postbote hat ohne Rücksprache und ohne Einwilligung des Empfängers eingeschriebene Sendungen selbst quittiert. Das ist in unserer Kanzlei zwei Mal passiert. Die eingeschriebenen Sendungen lagen einmal im Briefkasten, einmal vor der Tür.» Die Post räumte auf ihre Rückfrage hin den Fehler ein. Zürcher Fausch: «Ich finde die Praxis inakzeptabel. Der entscheidende Punkt der Dienstleistung ‹Einschreiben› ist die Empfangsbestätigung durch den Empfänger. Dafür bezahlt der Absender einen hohen Preis. Er muss sich darauf verlassen können.»
Auch ihr Kollege Bernhard Jüsi, Rechtsanwalt in Zürich, machte jüngst ärgerliche Erfahrungen mit der Post: «Es kommt in letzter Zeit wöchentlich vor, dass Sendungen, die an andere Anwälte adressiert sind, in unserem Postfach bei der Sihlpost landen.» Das Umgekehrte passiere ebenfalls. «Das ist wirklich ein Problem und ich kenne einige Kollegen, die das Gleiche erleben.» Stossend sei auch, dass eingeschriebene Sendungen nicht mehr immer zugestellt, sondern nur Abholzettel in den Briefkasten gelegt» würden.
Der Post sind solche Reklamationen bekannt. Laut Sprecher Oliver Flüeler sei die Post interessiert, solche Unstimmigkeiten zu korrigieren. Es seien bereits Korrekturmassnahmen eingeleitet worden, «um solche Fehler zu vermeiden». Zudem habe der aktuelle Bundesgerichtsentscheid bei der Post bewirkt, dass «wir mit der im Vergleich zum Vorjahr etwas entspannteren Covid-Situation intern daran sind, unsere aktuellen Zustellprozesse zu prüfen». Konkrete Entscheide dazu seien noch keine gefallen.