Das schweizerische Recht kennt nur Männer und Frauen. Das äussert sich auch in den amtlichen Ausweisen. Das Bundesgericht hiess vor einem Jahr eine Beschwerde des Bundesamts für Justiz gegen einen Entscheid des Obergerichts Aargau gut (Urteil 5A_391/2021, 8. Juni 2023). Dieses hatte einem Antrag eines in Deutschland lebenden Schweizers stattgegeben, im Pass den Geschlechtseintrag zu streichen. In Deutschland ist das seit einigen Jahren möglich.
Das Obergericht Aargau stützte sich in seinem Urteil auf das Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG). Dieses sieht vor, dass ausländische Entscheide, die den Zivilstand betreffen, in das schweizerische Register eingetragen werden. Dies unter der Voraussetzung, dass das Eintragen des ausländischen Entscheids nicht zu einem Verstoss gegen den Ordre public führt. Das Obergericht sah im Verzicht auf einen Geschlechtseintrag diese Wertvorstellungen nicht verletzt.
Das Bundesgericht war anderer Ansicht. Es lehnte die Streichung ab. Das Internationale Privatrecht sehe zwar die Möglichkeit einer Änderung des Geschlechtseintrags vor, wenn diese Änderung «im Wohnsitz- oder im Heimatstaat des Gesuchstellers gültig» sei. Das IPRG bestimme aber auch, dass das Geschlecht gemäss den «schweizerischen Grundsätzen über die Registerführung» einzutragen sei. Die Grundsätze der Registerführung sind in Artikel 39 des Zivilgesetzbuchs geregelt. Danach muss der Personenstand verschiedene Informationen umfassen. Das Geschlecht wird nicht ausdrücklich erwähnt.
«Formalistischer Entscheid» des Bundesgerichts
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass «das Geschlecht, auch wenn es sich nicht ausdrücklich aus dem Gesetz ergibt», im Personenstand enthalten sein müsse. Es liege keine gesetzgeberische Lücke vor. Ob die Streichung des Geschlechts mit dem Ordre public vereinbar ist, prüfte das Gericht deshalb gar nicht mehr. Diese Streichung sei bereits aufgrund der registerrechtlichen Grundsätze abzulehnen.
Der Zürcher Rechtsanwalt Stephan Bernard vertrat den Antragsteller. Er sagt zum Entscheid: «Es scheint, als ob das Bundesgericht sich auf keinen Fall vorwerfen lassen wollte, Rechtspolitik zu betreiben.» Mit einer scheinbar unpolitischen Haltung habe es genau dies aber faktisch doch getan.
Bernard hält die Argumente des Gerichtes für formalistisch. Zudem habe es sich auf eine Norm gestützt, die erst in Kraft trat, als der Fall bereits vor Bundesgericht lag. Das Gericht habe ausserdem der systematischen Auslegung, die gerade im internationalen Privatrecht von grösster Wichtigkeit sei, nicht ausreichend Rechnung getragen. So würden sogenannte «hinkende Rechtsverhältnisse» geschaffen. Damit meint Bernard rechtliche Situationen, die beim gleichen Sachverhalt in verschiedenen Ländern unterschiedlich beurteilt werden.
Auch Alecs Recher, ehemaliger Leiter der Rechtsberatung des Transgender Network, stört sich an der Begründung des bundesgerichtlichen Entscheids. Das Gericht messe einer Formalität höheres Gewicht bei als den zur Diskussion stehenden Grundrechten. Artikel 10 der Bundesverfassung wie auch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechts-konvention (EMRK) sähen das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit vor, worunter auch das Recht auf Geschlechtsidentität falle. Dieses sei auch in der Menschenwürde enthalten.
Für eine Einschränkung dieser Rechte brauche es eine genügende rechtliche Grundlage. Diese fehlt gemäss Alecs Recher, da die Beschränkung auf Mann und Frau im Gesetz nicht ausdrücklich festgelegt sei.
Keine Pflicht zur Einführung eines zusätzlichen Eintrags
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bejahte im Urteil Y. gegen Frankreich, dass die Geschlechtsidentität ein «grundlegender Aspekt des Rechts auf Achtung des Privatlebens» sei. Er gebe jedoch keine Verpflichtung der Staaten zur Einführung eines zusätzlichen Geschlechtseintrags. Das Bundesgericht verwies in seinem Urteil auf dieses Strassburger Urteil. Anders entschieden das sowohl das österreichische wie das belgische Verfassungsgericht. Beide erblickten in ähnlichen Fällen eine Verletzung von Artikel 8 der Menschenrechtskonvention.
Alice Margaria beschäftigt sich als Professorin an der Universität Zürich mit dem Verhältnis zwischen Geschlecht und Recht. Sie weist auf einen weiteren Punkt hin: Der Gerichtshof der EU habe in einem Gutachten vom Mai 2024 festgehalten, dass national unterschiedliche Regelungen des Geschlechtseintrags eine Verletzung des Rechts auf freie Niederlassung bedeute. Aufgrund des Personenfreizügigkeitsabkommens könne diese Argumentation auch auf die Schweiz Anwendung finden.
Neben der formalen Begründung des Urteils bezog das Bundesgericht auch inhaltlich Stellung: So verfolge die Dualität der Geschlechter «ein erhebliches, im Allgemeininteresse stehendes Ziel», da sie «insbesondere für die rechtliche Organisation» wichtig sei. Deren Streichung hätte eine «weitreichende Auswirkung» zur Folge.
Dritter Geschlechtseintrag «relativ einfach umsetzbar»
Alecs Recher stimmt zu, dass es zu Veränderungen kommen würde, wo das Recht noch immer an die Unterscheidung zwischen Mann und Frau anknüpft – zum Beispiel beim Militärdienst, im Sozialversicherungsrecht oder im Bereich der Elternschaft. Solche gesetzlichen Veränderungen gehörten aber zum gesellschaftlichen Fortschritt. Und Stephan Bernard ergänzt, ein Blick auf die Praxis anderer Länder zeige, dass die Einführung des Eintrags eines nonbinären Geschlechts «relativ einfach umsetzbar» sei.
Das Bundesgericht behielt sich im Urteil die Möglichkeit vor, künftig «den Gesetzgeber einzuladen, die fraglichen Bestimmungen zu ändern». Die Rechtskommission des Nationalrats forderte den Bundesrat vor einem Jahr auf, darzulegen, ob es «Möglichkeiten gibt, die Situation der betroffenen Personen zu verbessern, ohne das binäre Geschlechtermodell rechtlich in Frage zu stellen».