Das Bürgerrechtsgesetz von 2014 gibt dazu eine klare Antwort: Die Erteilung einer Einbürgerungsbewilligung des Bundes erfordert materiell unter anderem die «Respektierung der Werte der Bundesverfassung» (Art. 12, 20 und 26 Bürgerrechtsgesetz vom 20. Juni 2014, SR 141.0). Die «Werte der Bundesverfassung» bilden damit eine rechtliche Kategorie in Form eines unbestimmten Rechtsbegriffs. Das ist bemerkenswert, weil die Bundesverfassung diese Werte nicht ausdrücklich ausweist.
Es stellt sich die Frage, was ein Staatsvolk ausmacht. Für die Schweiz, die sich als «Willensnation» bezeichnet, gilt die Überlegung von Ernest Renan in seinem Vortrag «Qu’est-ce qu’une nation?»: «Die Existenz einer Nation (…) ist ein Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt, so wie die Existenz eines Individuums eine dauernde Bestätigung des Lebensprinzips ist.»
Die Schweiz lebt und existiert, weil sich die Bürger entsprechend den Gesetzen verhalten und die dadurch errichtete Ordnung bestätigen. Daran schliesst das Bürgerrechtsgesetz an: Die Einbürgerungswilligen beachten die «öffentliche Sicherheit und Ordnung» (Art. 12 Abs. 1 lit. a). Warum die Menschen das machen, spielt keine Rolle; ihre Motive sind unerheblich. Sie mögen die Ordnung, so wie sie ist, gut finden und mögen auch die Werte, welche diese Ordnung schützt, teilen. Es kann aber auch sein, dass sie die Ordnung bloss deshalb einhalten, weil dies für sie das geringste Übel darstellt. Die «äussere» Einhaltung der Rechtsordnung zeigt, dass die betreffenden Menschen den Staat konkludent bejahen. Ein «Mehr» an Zustimmung ist nicht erforderlich.
Wenn das Bürgerrechtsgesetz von Einbürgerungswilligen die «Respektierung der Werte der Bundesverfassung» fordert, dringt der Staat in den inneren Bereich des Menschen vor. Die Regelung im Bürgerrechtsgesetz gleicht jener der nordkoreanischen Verfassung von 1972. Sie fordert von den Staatsbürgern einen «hingebungsvollen Geist für die Gesellschaft und das Volk» (Art. 81 Abs. 2). Ein Staat, der das Innenleben und die Empfindung der Menschen bestimmen möchte, ist tyrannisch.
Zu welchen Werten haben sich die Einbürgerungswilligen zu bekennen? Aus der Bundesverfassung lassen sich zahlreiche, auch gegenläufige Werte herauslesen. Eine Hierarchie der Werte müsste der Verfassungsgeber selbst aufstellen. Es ist daher erstaunlich, dass der Bundesrat sich dazu berufen fühlt, in einer blossen Vollzugsverordnung ein Verzeichnis der massgeblichen Werte zu erstellen. Diese sind:
«a. die rechtsstaatlichen Prinzipien sowie die freiheitlich demokratische Grundordnung der Schweiz;
b. die Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf Leben und persönliche Freiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Meinungsfreiheit;
c. die Pflicht zum Militär- oder zivilen Ersatzdienst und zum Schulbesuch» (Art. 5 der Bürgerrechtsverordnung vom 17. Juni 2016, SR 141.01).
Die von Einbürgerungswilligen geforderte Respektierung von Werten ist kein operables Kriterium. Es lässt sich nicht überprüfen. Das Kriterium ist je nach Anwendung entweder tyrannisch oder es läuft leer.