Nach wenigen Minuten stoppte die Basler Polizei am vergangenen 1. Mai den bewilligten Hauptumzug. Rund 200 Personen an der Spitze, einige von ihnen vermummt, wurden eingekesselt. Der 1.-Mai-Umzug fand nicht wie geplant statt. Die Gewerkschaft Unia sprach von einem «beispiellosen Polizeiangriff» auf die friedliche Kundgebung. Und der Basler Anwalt Andreas Noll sagte gegenüber dem Internetmagazin «Republik»: «Was am 1. Mai in Basel passiert ist, war ein geplanter Angriff auf die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit.»
Über 60 Betroffene wehrten sich gegen den Polizeieinsatz und verlangten Verfügungen, welche die Unrechtmässigkeit der Einkesselung feststellen. Vorübergehend Festgenommene reichten nachträglich Gesuche um Haftprüfung ein. Die Polizei rechtfertigte die Einkesselung damit, dass es in der Vergangenheit rund um die Basler 1.-Mai-Demonstration zu Ausschreitungen gekommen sei und auch diesmal Vermummte mitmarschiert seien.
«Folgt man der Argumentation, schwebt künftig ein Damoklesschwert über allen Demonstrationen – irgendjemand, der nicht genehm ist, kann immer mitlaufen», sagt Viktor Györffy. Der Zürcher Rechtsanwalt, der das Basler 1.-Mai-Komitee berät, sieht die Demon-strationsfreiheit unter Druck.
Es ist nicht nur der Polizeieinsatz vom 1. Mai in Basel, der die Frage aufwirft, welchen Stellenwert die in Artikel 22 der Bundesverfassung verankerte Versammlungsfreiheit noch hat. Anfang September stimmte der Zürcher Kantonsrat einem Gegenvorschlag zur «Anti-Chaoten-Initiative» zu. Sie stammt aus der Feder der Jungen SVP Zürich und ist in Form einer allgemeinen Anregung gehalten. Ihre Kernanliegen: Demonstrationen sollen im ganzen Kanton Zürich bewilligungspflichtig sein. Und die Kosten für Polizeieinsätze und Schäden sollen von Veranstaltern und Teilnehmern unbewilligter Demonstrationen übernommen werden.
Im Zürcher Polizeigesetz ist die Möglichkeit zur Kostenüberwälzung bei Vorsatz oder Grobfahrlässigkeit schon heute vorgesehen. In ihrem Gegenvorschlag stützt sich die Zürcher Regierung auf diese Bestimmung. Sie will bei Vorsatz die Kostenauflage neu aber zwingend verankern. Das letzte Wort zur «Anti-Chaoten-Initiative» und dem Gegenvorschlag haben die Stimmberechtigten. Die SVP-Initiative zielt auf die Stadt Zürich, wo sich der Gemeinderat im Sommer für eine Abschaffung der Bewilligungspflicht für Demonstrationen ausgesprochen hatte. 2022 gab es auf Stadtgebiet 325 Kundgebungen und Demonstrationen.
Pauschale Überwälzung der Kosten nicht rechtmässig
Dass das Anliegen der Kostenüberwälzung als Volksinitiative aufs politische Tapet gebracht wird, ist neu – nicht aber die Forderung an sich. Das Thema beschäftigte in den letzten Jahren verschiedentlich auch das Bundesgericht. In Luzern beschloss der Kantonsrat 2015 eine Änderung des Polizeigesetzes. Diese sah vor, dass die Kosten eines Polizeieinsatzes auf die Veranstalter der Demonstration und «in gleichen Teilen» auf die Teilnehmer abgewälzt werden können – bis zu einem Beitrag von 30'000 Franken.
Die dagegen erhobene Beschwerde mehrerer Organisationen hiess das Bundesgericht 2017 teilweise gut. Die Regelung der Kostenaufteilung auf die Demoteilnehmer «zu gleichen Teilen» widerspreche dem abgaberechtlichen Äquivalenzprinzip. Die Kosten müssten dem Einzelnen entsprechend dem Tatbeitrag belastet werden. Der Luzerner Rechtsanwalt Markus Husmann beschäftigte sich intensiv mit dem Thema Polizeikostenüberwälzung.
In einem Beitrag für die Zeitschrift «Sicherheit und Recht» begrüsst er das Bundesgerichtsurteil. Er kritisiert aber, dass das Gericht primär abgabenrechtlich – eben mit dem Äquivalenzprinzip – argumentierte. Vor einem Urteil in der rechtsstaatlich zentralen Frage habe sich das Bundesgericht aber gedrückt – der Frage, ob eine Kostenüberwälzung nach Luzerner Vorbild mit der Versammlungsfreiheit vereinbar ist.
Dennoch enthält das Luzerner Urteil laut Husmann wichtige Konkretisierungen der Demonstrationsfreiheit. Zum einen festige das Bundesgericht seine Rechtsprechung, was Gewalttätigkeiten rund um Demos betrifft. So schütze die Versammlungsfreiheit nach Artikel 22 der Bundesverfassung zwar nur friedliche Versammlungen. Doch das Bundesgericht führt im Urteil auch aus: «Kleinere Gruppen, die am Rand einer Versammlung randalieren, können den Grundrechtsschutz für die Versammlung als Ganzes nicht beseitigen.» Nur dann, wenn sich Gewalt in einem Ausmass entwickle, «dass die meinungsbildende Komponente völlig in den Hintergrund tritt», könne der Schutz des Grundrechts entfallen.
Ähnliches tat das Bundesgericht im Umgang mit dem Abschreckungseffekt, auch «chilling effect» genannt. So hielt das Gericht im Luzerner Urteil fest, dass nicht nur direkte Eingriffe wie Verbote oder Sanktionen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit beeinträchtigen können: «Denkbar sind auch mittelbare Beeinträchtigungen dieser Grundrechte in dem Sinne, dass der Betroffene sich nicht mehr getraut, erneut vom Grundrecht Gebrauch zu machen.» Und die Bestimmung im Luzerner Polizeigesetz, die eine Kostenbeteiligung für einzelne Demoteilnehmer vorsieht, könne «grundsätzlich geeignet sein, einen Abschreckungseffekt zu bewirken».
Das Luzerner Urteil führte nicht dazu, dass Überwälzungen von Polizeikosten politisch zum Tabu wurden. Vielmehr wurde die Methodik entsprechend der bundesgerichtlichen Rechtsprechung verfeinert.
2018 verabschiedete der Berner Grosse Rat ein neues Polizeigesetz. Dieses sah die Möglichkeit von Kostenüberwälzungen an Veranstalter und Beteiligte von Demos vor. Der Maximalbetrag lag bei 10'000 Franken. Nur bei «besonders schweren Fällen» sollten 30'000 Franken gefordert werden können. Und die Kostenauflage richtete sich nach «Massgabe des individuellen Tatbeitrags und der individuellen Verantwortung».
“Grundrechtlich geschützte” Protestformen vereitelt
Mehrere Organisationen erhoben gegen das geplante Gesetz Beschwerde beim Bundesgericht – und blitzten zumindest in Sachen Kostenüberwälzung ab. Das Gericht erachtete die entsprechenden Bestimmungen als mit der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit kompatibel.
Husmann kritisiert das Urteil. «Die Kostenüberwälzung knüpft im Berner Polizeigesetz an den Begriff der ‹Gewalttätigkeiten› an. Und dieser wird durch die Polizeiverordnung, die das Polizeigesetz konkretisiert, sehr weit gefasst.» Die Verordnung nennt auch Straftatbestände wie «Hinderung einer Amtshandlung» oder «Nötigung» als «gewalttätiges Verhalten». Damit, so Husmann, «drohen auch grundrechtlich geschützte Protestformen vereitelt zu werden».
Die Berner Bestimmungen zu den Kostenüberwälzungen fanden in der Praxis bereits Anwendung: Im Nachgang zu mehreren Kundgebungen gegen Corona-Massnahmen im Oktober 2021 forderte die Stadt Bern in bisher 14 Fällen erfolgreich eine Beteiligung an den Polizeikosten. Gefordert wurden Beträge in der Höhe von 200 bis 1000 Franken.
“Kein Grund” für präventive Einkesselungen
Die Einkesselung von Demonstranten am 1. Mai in Basel war kein Einzelfall. Sie sind in der Schweiz ein Mittel der Wahl bei Demonstrationen und Versammlungen. Die Zulässigkeit dieser Praxis ist umstritten und beschäftigt auch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Dabei geht es um eine Aktion der Polizei am 1. Mai 2011 in Zürich. Die Polizei kesselte damals 542 Personen ein, ohne dass es zuvor zu Ausschreitungen gekommen war. Danach wurden die Betroffenen «zur sicherheitspolizeilichen Überprüfung» in die Polizeikaserne gebracht, die meisten erhielten eine Wegweisung.
Mehrere Eingekesselte verlangten eine Verfügung. Es sei festzustellen, dass Festnahme und Wegweisung rechtswidrig waren und an diesem Tag mehrere von der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Grundrechte verletzt worden sind. Anwalt Viktor Györffy hat mit diesem Fall den nationalen Instanzenzug durchlaufen. Seit sieben Jahren liegt der Fall in Strassburg.
Györffy schätzt die Erfolgsaussichten als «sehr gut» ein. Er argumentiert mit Artikel 5 der Menschenrechtskonvention. Dieser listet die Gründe für einen Freiheitsentzug auf. Ein solcher Freiheitsentzug lag für die Betroffenen in Zürich bei über sechs Stunden Einkesselung, anschliessender Festnahme und Transport auf den Polizeiposten auch laut Bundesgericht vor.
Laut Györffy fehlte es am nötigen Grund dafür. Alle kantonalen Instanzen seien davon ausgegangen, dass die Festnahme der Identitätsabklärung gedient habe. «Das war aber nicht der Fall, die Identität der Festgehaltenen wurde schon vor Ort abgeklärt, dafür hätten die Leute nicht auch noch in die Polizeikaserne gebracht werden müssen.»
Das Vorgehen der Polizei an diesem Tag ist für Györffy sinnbildlich für Einkesselungen: Polizeikessel bedürfen der Vorbereitung. «Sie sind in aller Regel nicht das Ergebnis eines Spontanentscheids.» Dies bedeute, dass ein Kessel meist präventiv geplant werde, bevor etwas Konkretes vorgefallen sei.
Strassburg entscheidet über Polizeikessel
Györffy sieht noch ein weiteres Problem: Von den zulässigen Gründen für Freiheitsentziehungen komme bei Polizeikesseln ohne vorherige Ausschreitungen nur die «Freiheitsentziehung zur Erzwingung und Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung» in Frage. Das setze aber voraus, dass die Betroffenen die Gelegenheit gehabt haben, «sich gesetzeskonform zu verhalten, bevor einem die Freiheit entzogen wird».
Ein Grundsatz, dem bei Einkesselungen laut dem Zürcher Rechtsanwalt oft nicht Rechnung getragen wird. Vielmehr herrsche dort die Doktrin «Erst schiessen, dann fragen». An dieser Praxis will Györffy rütteln. Das letzte Wort in Sachen Demonstrationsfreiheit hat Strassburg. Benjamin Rothschild