Ja, dieser Vorgang verletzt das Völkerrecht. Ausgangspunkt bildete die Erklärung der Unabhängigkeit der Krim durch den Obersten Rat der autonomen Region Krim, die am 11. März im Windschatten der gewaltsamen «Maidan»-Proteste gegen die ukrainische Regierung unter Janukovitsch erfolgte. Am 16. März sprach sich in einem Referendum eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung für die Vereinigung der Krim mit Russland aus. Eine Eigenstaatlichkeit der Krim oder die Beibehaltung des Status quo stand nicht zur Auswahl.
Die Abstimmung, ihre Vorbereitung und Auszählung wurden nicht von offiziellen internationalen Wahlbeobachtern begleitet. Stattdessen übten russische Truppen de facto die Kontrolle auf der Krim aus. Sie hatten Militärstützpunkte und administrative Einrichtungen in ihre Gewalt gebracht und waren während des Referendums präsent. Am Tag darauf erkannte Russland die Krim als souveränen Staat an. Am 20. März stimmte das russische Parlament einem Eingliederungsvertrag zu.
Der Gebietswechsel ist in den Kategorien des Völkerrechts am ehesten als Annexion einzuordnen, als gewaltsame Ergreifung und Einverleibung von Gebiet. Das verletzt das in der UN-Charta verankerte Verbot der Androhung oder Anwendung militärischer Gewalt. Der Vorgang kann auch als eine Sezession qualifiziert werden – als Abspaltung eines Gebiets eines Staates ohne das Einverständnis der Zentralregierung.
Wie auch immer der Vorgang formal einzureihen ist, er war völkerrechtswidrig. Die Berufung auf eine historische Zugehörigkeit der Krim zu Russland ist nicht massgeblich. Der Gebietswechsel verletzt das Völkerrechtsprinzip der territorialen Integrität, erwähnt in Artikel 2 Abs. 4 der UN-Charta und in der Schlussakte von Helsinki von 1975.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker kann in ein gewisses Spannungsverhältnis dazu geraten. Es räumt «Völkern» das Recht ein, ihr politisches Schicksal frei selbst zu bestimmen. Dieses Recht muss normalerweise durch Autonomie-Arrangements innerhalb des unversehrt bleibenden Gesamtstaates realisiert werden («innere Selbstbestimmung»). Unter sehr strengen Voraussetzungen wird eine sogenannte «abhelfende Sezession» («remedial secession») ausnahmsweise nachträglich hingenommen. Diese Bedingungen waren hier nicht erfüllt. Es ist unklar, ob die Bevölkerung der Krim überhaupt Träger dieses Rechts ist. Ist sie als «Volk» im Sinne des Völkerrechts, getrennt vom ukrainischen und russischen Volk anzusehen? Jedenfalls wurde diese Bevölkerung oder der russischsprachige Teil davon nicht schwer diskriminiert. Ferner wurde kein ordnungsgemässes Verfahren zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts angewandt. Insbesondere erfüllte das Referendum nicht die internationalen Standards. Es fehlten vor allem die Befriedung des Gebiets und internationale Beobachtung.
Der internationale Gerichtshof hat im Gutachten zum Kosovo klargestellt, dass Unabhängigkeitserklärungen, die mit Verletzungen des Gewaltverbots oder anderen krassen Völkerrechtsverletzungen einhergehen, völkerrechtswidrig sind. Eine von Russland angeführte «Einladung» des (abgesetzten und geflohenen) Präsidenten Janukovitsch war aus völkerrechtlicher Sicht irrelevant, weil dieser weder effektive Regierungsgewalt ausübte, noch Legitimität genoss.
Weil der Gebietswechsel unter massiver Verletzung fundamentaler Völkerrechtsnormen herbeigeführt wurde, sind die Mitglieder der internationalen Gemeinschaft verpflichtet, ihn nicht anzuerkennen. Hierzu forderte die UN-Generalversammlung (Resolution 11493 vom 27. März 2014) alle Staaten auf.
Anne Peters
Direktorin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht in Heidelberg und Titularprofessorin an der Universität Basel