Bisher konnten Interessierte auf der Internetseite der Zeitschrift «Beobachter» des Verlags Ringier Axel Springer Schweiz nach Anwälten suchen und diese kontaktieren. Wer auf dieser «Beobachter»-Liste aufgeführt sein wollte, musste dem Verlag 550 Franken zahlen. Dann gehörte er zum sogenannten «Beobachter»-Anwaltsnetz.
Im September änderte der Verlag sein Geschäftsmodell. Anwaltssuchende werden nun direkt zur Website Digitalcounsels.com weitergeleitet. Dabei handelt es sich um eine Plattform, die von einer Tochtergesellschaft von Ringier Axel Springer betrieben wird. Wer dort einen Anwalt sucht, kann sein Rechtsproblem auf der Homepage in ein Formular eintippen. Er erhält dann bis zu drei Offerten von Anwälten und kann die Angebote annehmen oder ablehnen.
Für die Kunden ist die Anwaltssuche kostenlos. Zahlen müssen die Anwälte. Wer dort mitmacht, leistet zuerst mal eine Jahresgebühr von 480 Franken. Zudem behält Digitalcounsels bis zu 14 Prozent des Anwaltshonorars. Beispiel: Bei 5000 Franken nimmt der Verlag 700 Franken.
Anwalt und Klient abhängig von der Plattform
Der Tarif ist degressiv. Bei einem Honorar von 10 000 Franken behält die Plattform 1100 Franken – immerhin 11 Prozent. Zahlt der Klient per Kreditkarte, kommen jeweils noch Kreditkartengebühren dazu. Das Inkasso besorgt nicht der Anwalt, sondern der Verlag. Jeder Anwalt muss seinen Aufwand auf der Plattform erfassen. Anwälte kommunizieren mit den Klienten ebenfalls über die Plattform und tauschen darüber Dokumente aus.
Anwaltsgeheimnis bleibt auf der Strecke
Das Geschäftsmodell des «Beobachters» ist hinsichtlich der Anwalts- und Standesregeln umstritten. Klienten müssen ihre Anwälte gegenüber der Plattform und deren externen Dienstleistern vom Berufsgeheimnis entbinden. Die Folgen: Das Anwaltsgeheimnis ist nicht mehr gewahrt. Straf-, Zivil- oder Verwaltungsbehörden könnten somit bei Plattformbetreiber Digitalcounsels die Daten der Klienten anfordern. Ob sich Klienten der Konsequenzen ihres Verzichts auf das Anwaltsgeheimnis bewusst sind, ist fraglich.
René Rall, Geschäftsführer des Schweizerischen Anwaltsverbands (SAV) sagt dazu: «Laien können nicht abschliessend beurteilen, welche Informationen für die Wahrung ihrer Interessen wesentlich sind.» Eine in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) des Plattformbetreibers vorgesehene Einwilligung genüge nicht. «Es obliegt der anwaltlichen Sorgfaltspflicht, die Tragweite einer Entbindung mit dem Klienten genau zu klären.» Klar ist: Wenn der Klient auf das Anwaltsgeheimnis verzichtet, dürfen Anwälte Berufsgeheimnisse offenbaren.
Professor Walter Fellmann vertritt die Meinung, das Portal informiere Klienten hinreichend darüber, dass sie auf das Berufsgeheimnis verzichten. Er hat im Auftrag des Verlags ein Gutachten erstellt. Darin kommt er zum Schluss, der Kunde werde im Nutzungsvertrag über Inhalt und Bedeutung des Berufsgeheimnisses aufgeklärt. Zudem könne er sich über Links informieren. Die Zustimmung zum Verzicht auf das Anwaltsgeheimnis erfolge zudem ausdrücklich durch das Anklicken eines Kästchens.
Ein Anwalt muss das Mandat laut Vertrag nach den Regeln führen, die der «Beobachter» vorgibt. Das kann sich mit der gesetzlichen Pflicht der anwaltlichen Unabhängigkeit beissen. Nicht nur Mandate, die über die Plattform vermittelt wurden, müssen zwingend über das «Beobachter»-Portal abgerechnet werden, sondern auch Folgemandate desselben Klienten. Will der Anwalt einen lukrativen Fall direkt mit seinem Klienten abrechnen, würde er den Vertrag mit der Plattform verletzen. Er müsste die Zusammenarbeit mit dem «Beobachter» beenden und auf weitere Mandate verzichten. Ausgenommen von dieser Regelung sind Aufträge im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege.
Digitalcounsels fordert Anwälte und Klienten gar dazu auf, sich gegenseitig anzuschwärzen. In den «Guidelines für Anwälte» heisst es: «Kunden wie Anwälte werden gebeten, Digitalcounsels umgehend zu benachrichtigen, wenn eine andere Person sie nicht korrekt kontaktiert oder vorschlägt, Zahlungen ausserhalb der Plattform zu tätigen.» Bei einem möglichen Verstoss gegen die «Nichtumgehungsvereinbarung» bitte man um einen «vertraulichen Bericht».
SAV-Sprecher Rall bezeichnet ein Nichtumgehungsverbot aus Sicht der anwaltlichen Unabhängigkeit als «problematisch». Er ergänzt: «Die Bindung an eine Plattform darf nie derart ausgeprägt werden, dass die Unabhängigkeit des Anwalts gefährdet wird.»
Laut Fellmann hingegen gefährdet das Verbot die berufliche Unabhängigkeit des Anwalts nicht. Sie tangiere auch das Recht des Klienten nicht, «seinen Nutzungsvertrag jederzeit mit sofortiger Wirkung zu kündigen.»
Das Bundesgericht interpretiert den Begriff der «institutionellen Unabhängigkeit» demgegenüber nach strengen Kriterien. Mit Urteil 2C_1083/2017 vom 4. Juni 2019 verweigerte es einer Genfer Anwältin den Wechsel des Domizils zu einer Plattform für unabhängige Anwälte. Die Plattform verpflichtete sich im Vertrag, die Post der Anwältin entgegenzunehmen und dieser bereitzustellen. Anrufe hätte die Plattform auf das Handy der Anwältin weitergeleitet oder sie per E-Mail über den Anruf informiert. Für die Richtigkeit und Rechtzeitigkeit lehnte die Plattform jede Gewähr ab. Das Bundesgericht beurteilte den umfassenden Haftungsausschluss der Plattform, verbunden mit dem Recht der Plattform zur fristlosen Kündigung als ungleich zulasten der Anwältin und daher als eine unzulässige Abhängigkeit.
Fellmann kommentierte das Urteil umgehend in der Anwaltsrevue 8/2019 als «eher skurril» und «realitätsfremd». Es sei nicht ersichtlich, wie das Ungleichgewicht des Vertrags die Anwältin hätte hindern können, sich bei der Betreuung von Mandaten ausschliesslich von sachgemässen Kriterien leiten zu lassen.
Standesregeln verbieten Provisionen
Problematisch an Digitalcounsels ist auch die Vermittlungsgebühr. Artikel 22 der Standesregeln des Anwaltsverbands verbietet die entgeltliche Mandatsvermittlung: «Anwälte leisten Dritten für die Vermittlung von Mandaten keine Vergütung.» Rall präzisiert: Anwälte dürften zwar für die Nutzung einer Internetplattform zahlen. Heikel werde es aber, wenn das Honorar davon abhänge, ob ein Mandat abgeschlossen wird. Besonders heikel sei es, wenn die Höhe der Gebühr von der Höhe des Anwaltshonorars abhänge. Rall: «Ein Anwalt, der diese Gebühr bezahlt, verstösst gegen das Berufs- und Standesrecht der Rechtsanwälte.»
Dominic Rogger, Chef von Digitalcounsels, widerspricht. Das Geschäftsmodell verstosse laut Fellmanns Gutachten nicht gegen die Anwaltsregeln. Doch er hält den vollständigen Text unter Verschluss. plädoyer liegt nur eine Zusammenfassung vom 15. Juli 2019 vor. Darin schreibt Fellmann: Der Kunde erhalte unentgeltlich Offerten mehrerer Anwälte. «Der Grundsatz der freien Anwaltswahl wird daher nicht verletzt.» Ein generelles Verbot einer Vermittlungsgebühr wäre mit der Wirtschaftsfreiheit nicht zu vereinbaren.
Unter Anwälten ist die neue Plattform umstritten. Peter Zahradnik, Anwalt aus Affoltern am Albis ZH, kritisiert: «Das ‹Beobachter›-Anwaltsnetzwerk fand ich gut.» Die Klienten hätten «Vertrauensanwälte» des «Beobachters» kontaktieren können. «Neu läuft es nach Angebot und Nachfrage.» Er überlege sich, wegen der hohen Nutzungsgebühren über die Plattform nun ein höheres Honorar zu verlangen.
Ein anderer Rechtsanwalt aus dem gleichen Kanton schreibt plädoyer: Der kluge Anwalt schreibe einfach mehr Stunden auf, als er arbeite. Nur so komme er trotz der hohen Gebühren auf sein normales Honorar. Überhöhte Stundenzahlen auf der Rechnung würden den Verlag wohl nicht stören: Je grösser der Umsatz der vermittelten Anwälte, desto mehr nimmt er aus diesem Geschäftszweig ein. Ein anderer Anwalt aus Zürich, der ebenfalls nicht namentlich genannt werden will, ergänzt: «Ich befürchte, dass jüngere Anwälte auf der Plattform Dumpinghonorare anbieten.» So sei keine gute Arbeit gewährleistet.
Plattform als “reine Geldmaschine”
plädoyer kennt mehrere Anwälte, die ihre Zusammenarbeit mit dem «Beobachter» beendet haben. Sie konnten sich mit der Plattform nicht identifizieren und kritisierten sie als «reine Geldmaschine». Andere sehen darin kein Problem: Josef Shabo, 37, Anwalt aus Lachen SZ nutzte das Vermittlungsportal schon, bevor es vom «Beobachter» übernommen wurde. Er sagt: «Die Kunden bekommen gratis drei Antworten von regionalen Anwälten mit einer ersten rechtlichen Einschätzung.» Das sei ein guter Service. Die Plattform sei zwar teuer, aber er könne Sekretariatskosten sparen.
Digitalcounsels-Chef Rogger sagt dazu: «Die Gebühren für die Anwälte sind moderat und fair.» Die Anwälte würden durch die Plattform viel Aufwand sparen, etwa die Zeit, um neue Klienten zu gewinnen.
Der «Beobachter» ist mit Digitalcounsels.com nicht allein. Auch die Internetseite Swissanwalt.ch vermittelt Anwälte. Auch hier zahlen die Anwälte eine Gebühr. Auf der Internetseite Advonaut.ch des Schweizerischen Anwaltsverbands können Ratsuchende Fragen stellen. Rechtsanwälte, die an Mandaten interessiert sind, können antworten, sie zahlen für den Kontakt eine Gebühr von 42 Franken. Keine dieser Vermittlungen verlangt von Klienten einen Verzicht auf das Anwaltsgeheimnis. Und keine engt die Handlungsfreiheit der Anwälte so stark ein wie der «Beobachter».