Früher schlossen sich Anwälte in der Regel in der Form einer einfachen Gesellschaft oder einer Kollektivgesellschaft zusammen. Heute organisieren sie sich vermehrt auch als Aktiengesellschaften oder als GmbHs. Im Zürcher Handelsregister sind bereits rund 180 solche Gesellschaften eingetragen, in den Kantonen Bern und Luzern je 44 und in St. Gallen 33.
Diese Entwicklung geht auf einen Entscheid des Bundesgerichts vom 7. September 2012 zurück. Es entschied, dass sich Anwälte auch dann ins Berufsregister eintragen lassen können, wenn sie Angestellte von AGs oder GmbHs sind (BGE 138 II 440). Der Entscheid liess jedoch die Frage offen, ob auch eine branchenübergreifende Organisationsform, an der neben registrierten Anwälten auch Nichtanwälte oder nicht registrierte Anwälte Gesellschaftsanteile besitzen, mit der anwaltlichen Unabhängigkeit nach Artikel 8 des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwälte (BGFA) vereinbar wäre. Die Aufsichtskommission über die Anwälte im Kanton Zürich hatte dies am 5. Oktober 2006 bejaht.
Laut der Zürcher Praxis müssen Statuten und Organisationsreglement einer Anwalts-AG so gestaltet werden, dass allfällige Nebenzwecke dem Hauptzweck – der Erbringung von Rechtsdienstleistungen – dienen. Beschlüsse betreffend Sachgeschäfte und Wahlen dürfen sowohl in der Generalversammlung als auch im Verwaltungsrat nur zustandekommen, wenn die im Anwaltsregister eingetragenen Anwälte die Stimmenmehrheit haben. Zudem setzt die Wahl zum Präsidenten oder Vizepräsidenten des Verwaltungsrats die Eintragung im Anwaltsregister voraus. Beispiel: Bei der Kanzlei Homburger AG in Zürich ist zurzeit ein Verwaltungsrat nicht im Register eingetragen.
Die Aufsichtskommissionen anderer Kantone folgten der Beurteilung der Zürcher – so Basel, Bern, Luzern, Tessin und Waadt.
Mit Urteil vom 15. Dezember 2017 klärte das Bundesgericht die Frage der Vereinbarkeit einer multidisziplinären Anwaltskörperschaft mit den Vorschriften des BGFA. Es bestätigte einen Entscheid der Genfer Anwaltskommission, wonach alle Aktionäre einer Anwalts-Gesellschaft in einem kantonalen Berufsregister eingetragen sein müssen (BGE 144 II 147). Diese Voraussetzung erfüllte ein Aktionär der Zürcher Anwaltskanzlei Walder Wyss AG nicht. Er war diplomierter Steuerexperte. Die Behörde verweigerte einem Anwalt den Eintrag an der Genfer Zweigniederlassung von Walder Wyss.
Der Eintrag ins Anwaltsregister setzt laut Bundesgericht voraus, dass ein Anwalt seine Tätigkeit unabhängig ausübt. Ist die Arbeitgeberin von Anwälten eine juristische Person, erfordere die Unabhängigkeit der angestellten Anwälte, dass an der Gesellschaft ausschliesslich im Register eingetragene Anwälte beteiligt sind, die ihrerseits den Berufsregeln und der Disziplinaraufsicht unterstehen. Sonst seien die angestellten Anwälte nicht in der Lage, den Anwaltsberuf unabhängig im Sinne von Artikel 8 des BGFA auszuüben. Das Bundesgericht verwies darauf, die Mitgliedschaft eines diplomierten Steuerexperten im Verwaltungsrat einer Gesellschaft sei geeignet, die Wahrung des Anwaltsgeheimnisses zu gefährden. Die Walder Wyss AG änderte nach dem Urteil ihre Statuten. Heute sind alle Aktionäre im Register eingetragen.
Praxisänderung nach Bundesgerichtsentscheid
Diverse Kantone passten ihre Praxis nach diesem Bundesgerichtsentscheid an. In den Kantonen Aargau, Basel-Stadt, Graubünden, Luzern und Solothurn muss der Anteil eingetragener Anwälte bei den Aktionären und Verwaltungsräten 100 Prozent betragen, damit sich die angestellten Anwälte ins Berufsregister eintragen können. Nicht alle Kantone passten ihre Praxis an. Zürich stellt sich sogar bewusst dagegen. Die Aufsichtskommission entschied im Mai 2018, angestellte Anwälte einzutragen, wenn der Anteil der im Anwaltsregister eingetragenen Anwälte einer Gesellschaft mindestens 75 Prozent beträgt. Zwei Anwälte hatten die Eintragung in das Anwaltsregister verlangt. Die Kommission argumentierte, die vorgelegten Unterlagen würden eine Struktur und Organisation zeigen, welche die institutionelle Unabhängigkeit der angestellten Anwälte gewährleiste.
Aufsichtskommission prüft die Unabhängigkeit
Beat Gut wirkte als Präsident am Entscheid mit. Er verweist darauf, dass Anwälte laut Anwaltsgesetz für den Registereintrag nachweisen müssen, dass sie ihren Beruf unabhängig ausführen können. Von Anwälten, die bei einer AG oder GmbH angestellt sind, werde deshalb ein Nachweis verlangt, dass die Gesellschaft ihnen keine Vorschriften machen könne, welche ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte. «Wir prüfen deshalb bei Gesellschaften, die Anwälte anstellen, ob eine unzulässige Beeinflussung ausgeschlossen ist.» Dies durch Durchsicht der Statuten, Reglemente und Aktionärsbindungsverträge. Auch Bern verlangt bloss einen Anteil von 75 Prozent im Anwaltsregister eingetragener Anwälte.
Rechtsanwalt Stephan Zimmerli gründete in Luzern die erste Anwalts-AG. Er findet die aktuelle Situation mit den kantonal unterschiedlichen Voraussetzungen für die Eintragung der Anwälte im Berufsregister unbefriedigend: «Wenn sich ein oder mehrere Kantone nicht an die Anforderungen des Bundesgerichts halten, ist dies auf Dauer nicht haltbar.» Es sollte daher eine Vereinheitlichung geben. Entweder sollte das Bundesgericht seine Praxis ändern – oder die abweichenden Kantone.
Walter Fellmann, Professor für Privatrecht an der Uni Luzern, kritisiert das Bundesgericht: «Mit dem Urteil vom 15. Dezember 2017 torpediert es die Entwicklung der Rechtsformen der Zusammenarbeit von Anwälten zu schlagkräftigen Dienstleistungsunternehmen.» Das Urteil lasse befürchten, dass das höchste Gericht mit den «Anforderungen des Lebens» moderner Anwälte nicht mehr vertraut sei. «Kombinierte interdisziplinäre Dienstleistungen sind immer gefragter», sagt der Professor. Wolle eine Anwaltskanzlei im Markt neben Banken, Versicherungen und Treuhandfirmen bestehen, müsse sie die besten Leute gewinnen können. Fellmann sieht «keinen einzigen überzeugenden rechtlichen Grund, Anwälte, die bei einer multidisziplinären Anwaltskörperschaft angestellt sind, gestützt auf Artikel 8 des BGFA nicht im Anwaltsregister einzutragen».
Der SAV verzichtet auf eine Stellungnahme zu den verschiedenen Praxen in den Kantonen, weil im Vorstand dazu keine einheitliche Meinung besteht.
Die Demokratischen Juristen sind gleicher Meinung wie das Bundesgericht. «Nur registrierte Anwälte sollen an einer Anwaltsgesellschaft beteiligt sein», schrieben sie 2014 in ihrer Stellungnahme zum Gesetzesentwurf des Schweizerischen Anwaltsverbandes für ein neues Anwaltsgesetz. Eine Beteiligung an einer Anwaltsgesellschaft solle zudem weitere Beteiligungen an anderen Anwaltsgesellschaften ausschliessen. Zudem sollten Teilhaber einer Gesellschaft auch ihre Arbeitskraft dort erbringen müssen. «Die blosse Beteiligung auch von registrierten Anwälten aus Gewinnabsicht ist abzulehnen.»