Solch klare Worte hört man selten aus dem Mund eines Diplomaten: Der Rechtsstaat werde in Grossbritannien, Schweden und den USA zu Grabe getragen. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen im Fall von Wikileaks-Gründer Julian Assange seien «haarsträubend». So liess sich Melzer Anfang Jahr in den Medien zitieren.
Der 50-jährige Zürcher ist seit 2016 Uno-Sonderberichterstatter über Folter, eingesetzt vom Menschenrechtsrat der Uno. Sein Auftrag: Foltervorwürfen in Uno-Staaten nachgehen und wenn sie sich bestätigen, die Welt darauf aufmerksam machen.
Melzer ist Professor für Völkerrecht und lehrt an der Uni Glasgow sowie der Genfer Akademie für Völkerrecht und Menschenrechte. Vor seinem Uno-Engagement arbeitete er zwölf Jahre fürs Internationale Rote Kreuz als Rechtsberater und Abgesandter in Kriegsgebieten. Danach war er sicherheitspolitischer Berater beim Schweizer Aussendepartement.
Melzer kennt also die bedächtigen Mühlen der Diplomatie und die feinen juristischen Gepflogenheiten zwischen Ländern. Aber er kennt auch die schmutzige Wirklichkeit des Krieges.
Zum Fall Julian Assange sagt Melzer: «In 20 Jahren Arbeit mit Opfern von Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung habe ich nie gesehen, dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten zusammentut, um eine einzelne Person derart willkürlich zu isolieren, zu dämonisieren und zu missbrauchen wie hier.»
Melzer verurteilte die involvierten Regierungen dafür, Assange den Schutz seiner Grundrechte und seiner Menschenwürde versagt zu haben. «Selbst in britischer Haft hatte er keinen Zugang zu seinen Prozessakten und musste vor Gericht zu Spionagevorwürfen mit einem angedrohten Strafmass von 175 Jahren Gefängnis Stellung nehmen, ohne dass er die Anklage vorher hätte lesen können. Das kennt man sonst nur von Diktaturen.»
Melzer befürchtet, dass Assange an die USA ausgeliefert wird. «Wenn Regierungen anfangen, Personen dafür zu bestrafen, dass sie die Öffentlichkeit über Missverhalten und Korruption der Behörden informieren, dann haben wir ein gewaltiges Problem. Dann wird sozusagen die eigene Bevölkerung zum Feind erklärt.» So würden die Medien sowie die Meinungsfreiheit und damit letztlich die Demokratie untergraben.
Melzers Druck auf den Bundesrat wirkte
«Selbst der Schweizer Rechtsstaat ist nicht vor Missbrauch gefeit», betont der 50-Jährige. So musste Melzer etwa beim Bund intervenieren, damit das Verfahren gegen den algerischen Ex-Verteidigungsminister Khaled Nezzar wieder aufgenommen wird. Ihm wurden Kriegsverbrechen vorgeworfen. «Die Bundesstaatsanwaltschaft hatte das Verfahren nach fünf Jahren Ermittlungen sang- und klanglos eingestellt, nachdem ihr die Schweizer Botschafterin in Algerien anlässlich eines persönlichen Treffens eindringlich dargelegt hatte, das Verfahren könne die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz beeinträchtigen.» Zusammen mit dem Uno-Sonderberichterstatter für die Unabhängigkeit der Justiz setzte Melzer dem Bundesrat eine Frist von 60 Tagen, um eine Untersuchung wegen mutmasslicher politischer Einmischung in die Arbeit der Justizbehörden durchzuführen. Kurz vor Fristablauf wies das Bundesgericht die Bundesanwaltschaft an, das Verfahren wieder aufzunehmen. «Es ist bedenklich, wenn man in einer Demokratie die Uno einschalten muss, um die Unabhängigkeit der Justiz zu gewährleisten. Sobald man wirtschaftliche Interessen ernsthaft gefährdet sieht, wird auch in der Schweiz der Rechtsstaat abgewürgt.»
Wie in vielen westlichen Demokratien sieht Melzer auch in der Schweiz eine Tendenz zur «Schönwetterdemokratie», welche ernsthaften staatspolitischen Herausforderungen nicht mehr standzuhalten vermag. Auch in der Schweiz laufen Parlamentarier Gefahr, statt die Bevölkerung zu vertreten, zu Interessenverwaltern von Lobbys zu werden. Melzer: «Sobald in einem Parlament Lobbying zugelassen wird, ist der demokratische Mechanismus eigentlich bereits ausgehebelt.»
Melzers Budget als Uno-Sonderberichterstatter reicht für zwei Länderbesuche pro Jahr. «Das sind jeweils zwei Wochen vor Ort, anschliessend folgt das Schreiben von Berichten.» Zusätzlich interveniert er täglich zugunsten von individuellen Opfern. Er erhält pro Tag bis zu 15 Anfragen. Davon kann er im Durchschnitt aber nur eine einzige genauer bearbeiten. Über die diplomatischen Missionen in Genf hat er innert 24 Stunden direkten Zugang zu den Aussenministern aller Uno-Staaten. Pro Jahr interveniert er rund 200 Mal. Dabei geht es stets um die Untersuchung, Verhinderung oder Aufarbeitung von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher und entwürdigender Behandlung oder Bestrafung.
Für seine Arbeit – besonders sein Engagement für Assange – muss Nils Melzer auch heftige Kritik einstecken. Hauptvorwurf: Er trivialisiere den Folterbegriff. Die Kritiker haben eines gemeinsam: Sie beurteilen seine Fälle aus der Ferne – meist ohne Praxiserfahrung und Expertise in diesem Bereich. Melzer begegnet solcher Kritik nicht polternd, sondern mit fundierten Berichten und Fakten.
Aber: «Ganz spurlos geht das an mir nicht vorbei. Meine Arbeit bringt mich oft an meine physischen und psychischen Grenzen.» Rückhalt findet er bei seiner Frau und den zwei Töchtern. Sein Mandat übt er noch bis 2022 aus. «Dann muss jemand anders ran.»
Melzer wuchs in Zürich auf und studierte dort Jus. Zuerst wollte er eigentlich Astronaut werden. Als Austauschschüler wohnte er in den USA bei einem Nasa-Ingenieur. Dort lernte er den Kommandanten der letzten Mondlandung sowie einen der Astronauten des Apollo-13-Flugs kennen. «Sie erzählten mir, wie es ist, die Erde vom All aus zu betrachten, in ihrer vollendeten Schönheit und ohne sichtbare Grenzen.»
Ihn hätten schon immer die gesellschaftlichen Spielregeln interessiert: «Aber es ging mir dabei immer um universelle Grundsätze, das, was uns verbindet – und nicht, was uns trennt.» So gesehen ist Nils Melzer heute am richtigen Platz: als Völkerrechtler mit der umfassenden Perspektive eines Astronauten.