Sobald man die Rheinbrücke überquert und Vaduz erreicht, ist alles auf einen Blick erkennbar: Das Parlament, der Regierungssitz, die Landesbank und die Justiz. Alles an derselben Strasse. Und über allem leicht erhöht auf einem Hügel das Schloss seiner Durchlaucht Fürst Hans-Adam II.
«Die Grösse gibt hier das Konzept vor», sagt Willi Büchel freundlich lächelnd. Der 57-jährige Jurist spielt auf seine besondere Rolle als Gerichtspräsident des Landgerichts Vaduz an. Das erstinstanzliche Gericht ist mit 15 Vollzeitrichtern das einzige Gericht im Land mit Berufsrichtern und somit «prägend». Der Instanzenzug ist kurz: Alle Gerichte sind im selben Gebäude untergebracht: das Landgericht, das Obergericht und der Oberste Gerichtshof.
Untersuchungsrichter und Richter zugleich
Willi Büchel ist seit 2016 sozusagen der Hausherr. «In der Justizverwaltung Liechtensteins ist nicht der Präsident des Obersten Gerichtshofs die höchste Person, sondern der Landgerichtspräsident. Er ist Vorsitzender der Konferenz der Gerichtspräsidenten und regelt Fragen rund um die Verwaltung aller Instanzen.
Mit Verfahren hingegen hat er nur selten zu tun. «Ich arbeite zwischen 15 und 20 Prozent als Richter und mache Rechtshilfe in Zivilsachen, behandle Beschwerden betreffend Gerichtsgebühren und wegen Befangenheit von Richtern.» Letzteres sei «fast ein tägliches Geschäft», sagt Büchel. Der Grund dafür liege nicht einzig in der geringen Grösse des Landes, sondern oft auch darin, dass ein Richter zuvor in der gleichen Sache bereits als Untersuchungsrichter amtete.
Liechtenstein praktiziert das Modell des Untersuchungsrichters. Die Staatsanwaltschaft macht keine Einvernahmen. «Von den 15 Landrichtern sind vier mehrheitlich auch als Untersuchungsrichter tätig, so Büchel.
Das könnte sich aber bald ändern: «Ich habe gerade heute Morgen von der Regierung erfahren, dass sie bis Ende August ernsthaft einen Systemwechsel zum üblichen Staatsanwaltschaftsmodell prüfen wird.» Er befürworte einen Wechsel und habe sich auch dafür eingesetzt: «Es gibt viele Doppelspurigkeiten zwischen der Staatsanwaltschaft, den Richtern und der Polizei.»
Gerichtsschreiber gibt es im Fürstentum nicht
Das Untersuchungsrichtermodell ist nicht das einzige Charakteristikum in der liechtensteinischen Justiz. Gerichtsschreiber sucht man hier vergebens. Und am Landgericht entscheiden immer Einzelrichter, «bei jedem Streitwert». Ausnahme: Das Kriminalgericht entscheidet in einer Fünferbesetzung. Wie beispielsweise zwei Stockwerke tiefer, wo der ehemaligen Aussen- und Justizministerin Aurelia Frick der Prozess gemacht wurde. Das Gericht befand sie für schuldig. Aber nicht wegen Missbrauchs der Amtsgewalt, sondern wegen Täuschung von Regierung und Staat nach Paragraf 108 Strafgesetzbuch.
Jedes Strafgericht besteht aus zwei rechtskundigen Richtern und drei Laien. «Die Laienrichter haben volles Mitspracherecht und können die zwei Juristen überstimmen», sagt Büchel, als sei es das Normalste der Welt. «Unsere Gerichtsorganisation und das Verfahrensrecht wie die Zivil- und Strafprozessordnung haben wir den Österreichern abgeschrieben.» Das Sozialversicherungs-, Arbeits- oder Sachenrecht sei hingegen von der Schweiz übernommen, «genauso Miete und Pacht». Zudem sei im Ländle aufgrund des Zollvertrags das Schweizer Epidemiengesetz anwendbar. «Die Massnahmen bestimmen wir aber selbst», bekräftigt der Jurist. Die Verfassung, das Gemeinderecht wie auch das Steuerrecht sind «Made in Liechtenstein». Und revidiere die Schweiz oder Österreich die Gesetze, werde die Änderung nicht einfach automatisch übernommen. «Wir revidieren unsere Gesetze selbst», sagt Büchel bestimmt.
Auch die Richter werden auf liechtensteinische Art gewählt. Der Einfluss der Politik auf die dritte Gewalt ennet des Rheins ist für Büchel unbegreiflich: «Es geht hier gar nicht, dass die Politik Einfluss auf die Justiz hat!» Was hier auch nicht geht, ist offen über den Elefanten im Büro zu sprechen. Ein Foto des Fürsten hängt in jedem Raum, den Eingang des Gerichts inbegriffen. Büchel ist eine entsprechende Frage offenbar etwas unangenehm und er sinkt tiefer in seinen Stuhl. Der Fürst habe im Richterwahlgremium bei Stimmengleichheit den Stichentscheid. «Und zusätzlich hat er auch ein Vetorecht.» Mit andern Worten: Ohne das Einverständnis des Fürsten wird niemand Richter. Das ist in der Bezeichnung der Gerichte klar deklariert: Liechtenstein verfügt über ein Fürstliches Landgericht, ein Fürstliches Obergericht und einen Fürstlichen Obersten Gerichtshof.
Seine Durchlaucht darf Strafverfahren stoppen
Das Wahlgremium besteht aus Parteiabgeordneten und Gesandten des Fürsten. Sie schlagen aus dem Pool der Bewerber dem Parlament einen Kandidaten zur Wahl vor. Und am Ende ernennt der Fürst die Person zum Richter bis zum Erreichen des Pensionsalters. Dem Landesfürsten steht laut Büchel ein Begnadigungsrecht zu und ein «Niederschlagungsrecht von Strafverfahren». Der Fürst könnte also Strafverfahren gegen sich selbst sistieren lassen? Büchel nickt. Mischt sich der Fürst in einzelne Justizgeschäfte ein? Büchel schüttelt energisch den Kopf. Er sagt: «Auch wir sind ein Rechtsstaat!»
Ausgebildeter Blasorchesterdirektor
Wenn der Gerichtspräsident am Abend sein Büro verlässt, führt ihn sein Weg zehn Kilometer südlich in seinen Geburtsort Balzers. Im Dorf ist er aufgewachsen «und fest verwurzelt». Der Jurist lebt dort mit seiner Frau und den beiden Töchtern. Studiert hat er in Basel. Damals machte er gleichzeitig die Ausbildung für die Blasorchesterdirektion am Konservatorium Bern. Seit 1988 ist er Dirigent der Harmoniemusik Balzers. Heute führe ihn sein Weg dreimal die Woche am Haus vorbei ins Lokal der Harmoniemusik, wo er seine Musikkollegen zum Üben trifft – oder eine Probe der Operette Balzers musikalisch leitet. «Beim Proben vergesse ich alles, was mich im Laufe des Tages wurmte oder ärgerte», sagt Dirigent Büchel.
Er würde gerne wieder einmal ein Konzert veranstalten. Wegen Corona sei das alles weggefallen. «Daran ändert leider auch nichts, dass der Gesundheitsminister in meinem Musikverein mitmacht», sagt Büchel lachend.