Die Schule für Kriminalwissenschaften der Universität Lausanne war letzten September Gastgeberin der jährlichen Konferenz der Arbeitsgruppe Daktyloskopie des European Network of Forensic Science Institutes, der Dachorganisation forensischer Labore Europas. Über hundert Experten, Praktiker und Forscher aus Europa und den USA nahmen an der Veranstaltung teil. Ihr Ziel war es, sich über den aktuellen Stand der Wissenschaft und die Praxis auszutauschen.
Die Daktyloskopie dient seit Ende des 19. Jahrhunderts als wichtige Methode der Identifikation. Die Technik wurde oft als unfehlbar dargestellt, obwohl die Identifizierung mittels Fingerabdruck nie streng nach wissenschaftlichen Massstäben auf ihre Fehleranfälligkeit untersucht worden war. So wurde behauptet, es sei unmöglich, eine Person als Quelle einer Fingerspur zu identifizieren, ohne dass diese Person die Spur tatsächlich hinterlassen habe.
Nach mehreren nachgewiesenen Fehlern nahmen sich in den USA zwei Institutionen der Aufgabe an, die Erfahrungen systematisch auszuwerten und die Zuverlässigkeit der Daktyloskopie zu untersuchen.1 Auch die renommierte American Association for the Advancement of Science (AAAS) gab eine Studie in Auftrag, um den aktuellen Wissensstand zu erörtern.2 Einer der Autoren, Professor William Thompson von der University of California in Irvine (USA), stellte die Hauptergebnisse an der Lausanner Konferenz vor.
Die AAAS stellte in ihrem Bericht von 2017 fest: Erstens bestätigt die wissenschaftliche Literatur, dass sich die Papillarlinienmuster auf den Fingern stark unterscheiden. Dennoch erlauben es die aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisse in der Praxis nicht, den Seltenheitswert eines spezifischen Merkmals eines Fingerabdrucks –Linienenden von Papillarleisten, Gabelungen, Inseln, usw. – oder einer Merkmalskombination genau festzulegen.3 Es ist daher keine Aussage dazu möglich, wie viele Personen in der Bevölkerung die gleiche Kombination von Merkmalen aufweisen wie eine bestimmte daktyloskopische Spur.
Je nach Oberfläche ist ein Abdruck anders
Zudem zeigt die Forschung, dass die Experten die Intravariabilität der Fingerabdrücke unterschätzen, das heisst, inwiefern mehrere Abdrücke desselben Fingers variieren können je nach Oberfläche, auf welcher sie hinterlassen wurden, sowie der Art und Weise, wie sie hinterlassen wurden. In der Praxis könnte das zu falsch negativen Schlüssen führen.
Weiter lassen sich Experten teilweise durch externe Elemente beeinflussen, was sie zu fehlerhaften Schlussfolgerungen verleitet.4 Ausserdem existieren keine soliden und systematischen Daten zu den Fehlerquoten der Daktyloskopie. Die Fehlerwahrscheinlichkeit in einem spezifischen Fall erhöht sich mit der Komplexität des Spurenvergleichs und schwankt je nach Höhe der Messlatte des jeweiligen Experten. Einige Experten sind vorsichtiger als andere. Laut dem aktuellen Stand der Wissenschaft kann kein Experte mit Sicherheit behaupten, eine Spur stamme von einer bestimmten Person, und zugleich alle anderen Personen auf der Erde ausschliessen.
Qualitativ schlechte Spur erhöht das Fehlerrisiko
Zudem ist der Vergleichsprozess nicht unfehlbar. Das Fehlerrisiko ist umso höher, je schlechter die Qualität des Abdrucks ist und je schwieriger die Analyse. Im Endeffekt beruhen die Schlussfolgerungen immer auf einer menschlichen Einschätzung, die keinem algorithmischen oder abstrakten Prozess entspricht.
Die Feststellung, dass beim Vergleich von Fingerabdrücken Fehler möglich sind, wird zu einer Änderung der bisherigen Praxis führen. In Zukunft werden die Experten wohl eindeutige Schlussfolgerungen vermeiden. Sie werden wahrscheinlichkeitsbasierte Schlussfolgerungen ziehen. Eine solche dahingehende Entwicklung wurde bereits im U.S. Army Criminal Investigation Laboratory des amerikanischen Verteidigungsdepartements vorgenommen. Einige Experten in der Schweiz und in Europa führten diese neue Praxis ebenfalls ein.
Diese Änderung führt dazu, dass letztlich Richter und nicht Experten über die Zuordnung einer Spur zu einem Verdächtigen befinden müssen. Der italienische Richter Giuseppe Gennari erinnerte an der Konferenz daran: Diese Aufgabenteilung wird respektiert, wenn sich der Experte ausschliesslich über den Wert der Indizien äussert (mit Wahrscheinlichkeitsbegriffen). Und nicht direkt zur Frage Stellung nimmt, ob der Verdächtige Spurenverursacher ist oder nicht.
Strafverteidiger, deren Mandanten aufgrund eines Fingerabdruckvergleichs beschuldigt werden, dürfen sich nicht mehr mit angeblich eindeutigen Schlussfolgerungen des Experten zufriedengeben. Dies besonders dann, wenn die Spur von schlechter Qualität ist. In diesem Fall kann es zweckdienlich sein, die Schussfolgerungen des Experten näher zu durchleuchten. Gegebenenfalls sollte man den Experten darum ersuchen, die wissenschaftlichen Grundlagen seiner Befunde zu präzisieren.
National Research Council, Strengthening Forensic Science in the United States: A Path Forward, Washington DC 2009;
President’s Council of Advisors on Science and Technology, Forensic Science in Criminal Courts: Ensuring Scientific Validity of Feature-Comparison Methods, Washington DC 2016.
William Thompson, John Black, Anil Jain & Jay Kadane,
Forensic Science Assessments,
A Quality and Gap Analysis:
Latent Fingerprint Examination, AAFS, Washington DC 2017.
Es sei hier allerdings auf die Arbeiten von Prof. Christophe Champod der Universität Lausanne hingewiesen, die in diese Richtung gehen, aber in ihrer praktischen Anwendbarkeit in der Wirklichkeit zurzeit noch beschränkt sind.
Ein Beispiel ist der Fall Brandon Mayfield, benannt nach dem US-Anwalt, der zu Unrecht wegen der mutmasslichen Mittäterschaft an den Anschlägen von Madrid im Jahr 2004 verfolgt wurde.