Stephan Stulz, 55, Rechtsanwalt in Baden, ist es gelungen, klarzumachen, wie problematisch die Doppelfunktion von Anwälten ist, die auch als Richter amten. Stulz bemängelte in einem Verfahren, die Gegenpartei werde durch einen Anwalt vertreten, der nebenamtlich selbst als Ersatzrichter am Aargauer Handelsgericht tätig sei. Eine solche Konstellation lässt das Bundesgericht zwar grundsätzlich zu – der Kritik aus der Lehre zum Trotz. Aber nicht eine Situation, in der der Anwalt vor Fachrichtern plädiert, mit denen er in anderen Fällen die Richterbank teilt. Stulz stellte ein Ausstandsbegehren gegen das gesamte kantonale Handelsgericht – und obsiegte. Das Justizgericht des Kantons Aargau wies das Handelsgericht an, es sei für das Verfahren ein gesetzeskonformer Spruchkörper zu bilden. Das bedeutet, dass keiner der zwölf Fachrichter mitwirken darf. Für die vorgesehene Fünferbesetzung, so der Tipp des Justizgerichts, seien Mitglieder der Zivilkammern des Obergerichts einzusetzen oder das Verfahren sei einem anderen Gericht zuzuweisen.
Das Justizgericht wurde im Kanton Aargau mit dem per 2013 in Kraft getretenen neuen Gerichtsorganisationsgesetz geschaffen. Seine Hauptaufgabe ist die Beurteilung von Disziplinarverfahren gegenüber Richterinnen und Richtern.
Peter Gauch, 78, Professor im Ruhestand, wird auch im fortgeschrittenen Alter kein bisschen leiser. Mitte April referierte er am Europa-Institut Zürich zum Thema: «Wie die Gerichte das Recht erfinden». Er sei zur Einsicht gelangt, so Gauch, dass an den Gerichten nicht nur Rechtsfindung, sondern auch «Rechtserfindung» stattfinde. Als Beispiel führt er das Urteil gegen eine junge Frau auf, die nach Einnahme der Antibabypille Yasmin eine Lungenembolie erlitten hatte (BGer 4A_365/2014). Das Bundesgericht wies ihre Schadenersatzklage gegen den Pillenhersteller Bayer ab. Begründung: Bayer informiere die Ärzte darüber, dass bei Yasmin im Vergleich zu bisher bekannten Pillen ein doppelt so hohes Risiko für Embolien bestehe. Das genüge und müsse nicht auch noch im Beipackzettel für die Patientinnen stehen.
Gauch kommentierte lakonisch: Es genüge also, dass der Arzt über die Gefahren aufgeklärt wird – nicht aber die Käuferin der Pille. Laut Gericht verstehe die Bevölkerung die Erläuterungen im Beipackzettel sowieso nicht. Für Gauch ist das «eine reine Erfindung». Solche Konstruktionen des Rechts und der Wahrheit würden einzig den «Hohepriestern» an den Gerichten zur «Selbstverwirklichung» dienen. Das Publikum reagierte auf die Ausführungen mit langem Applaus.
Giuliano Racioppi, 42, Richter am Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, hat mit seiner Arbeit über die Mandatssteuern von Richterinnen und Richtern einen Stein ins Rollen gebracht. Seine Forderung, die Parteisteuer abzuschaffen (plädoyer 1/2018), ist seit der Lancierung der «Justizinitiative» wieder in aller Munde. Ein Komitee rund um den justizerfahrenen Thurgauer Unternehmer Adrian Gasser will das Wahlprozedere für Bundesrichter ändern und den Parteienproporz auf Bundesebene beenden. Neu soll eine Fachkommission aus Professoren, Richtern und Anwälten über die Zulassung von Richterkandidaten entscheiden. Unter den Geeigneten werden dann im Losverfahren die neuen Richter bestimmt. «Keine gute Idee», findet Racioppi, Mitglied der CVP.
Der Bündner Richter zieht den Parteienproporz einer Fachkommission vor, weil dadurch die Interessen offenlägen: «Jeder hat eine Weltanschauung, ob er einer Partei angehört oder nicht. Bei einer Fachkommission bleiben die Anschauungen jedoch intransparent.» Kritisch steht Racioppi auch dem Losverfahren gegenüber. Er zweifle daran, dass sich so eine Richterschaft ergäbe, welche die Bevölkerung widerspiegle. «Die Wahl nach Parteienproporz hat Mängel. Aber ich habe noch kein besseres System entdeckt.»