Monika Simmler, 32, Assistenzprofessorin und Co-Direktorin am Kompetenzzentrum für Strafrecht und Kriminologie der Universität St. Gallen, kritisiert die «Sammelwut» der Migrationsbehörden, die zu allen Ausländern in der Schweiz «ausführliche Akten führen». Diese enthalten auch Angaben zu allfälligen Strafverfahren. Mit Hilfe solcher «Schattenregister» könnten die Strafverfolgungsbehörden laut Simmler das Verbot umgehen, aus dem Strafregister gelöschte Straftaten zu verwerten.
In einem Beitrag auf der Internetseite des Vereins «Unser Recht» wirft sie den Migrationsbehörden vor, die Akten über Ausländer in der Praxis «standardmässig» den Strafverfolgungsbehörden weiterzugeben, falls das deren Ermittlungen diene. «Die untriagierte Weitergabe ist gesetzeswidrig und rechtsstaatlich höchst bedenklich», so die Juristin zu plädoyer. «Strafurteile werden nach Ablauf einer gesetzlich vorgesehenen Frist aus dem Strafregister gelöscht, um Straftätern die Möglichkeit zu lassen, sich irgendwann zu rehabilitieren.» Der Artikel 369 im Strafgesetzbuch halte das «Recht auf Vergessen» fest. Die Strafbehörden könnten es umgehen, wenn sie über die Akten der Migrationsämter «längst aus dem Strafregister gelöschte Straftaten wieder in Erfahrung bringen».
Roger Harris, 55 (Mitte), Richter am Bezirksgericht Zürich, hat seine Meinung zur Strafbarkeit von Teilnehmern an Demonstrationen innert einem Jahr geändert. Heute ist er nicht mehr bereit, Klimaaktivisten wegen friedlicher Blockadeaktionen zu verurteilen. Im August sprach er einen Demonstranten frei, der 2020 an einer Kundgebung auf der Zürcher Quaibrücke teilgenommen hatte, im September folgte ein Freispruch einer Aktivistin für eine Demonstration auf der Rudolf-Brun-Brücke. «Wir sind an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden», sagte Harris, als er dieses Urteil eröffnete. «Es gibt ein Mass an Behinderungen, das geduldet werden muss, damit die Meinungsäusserungs- und die Versammlungsfreiheit gewährleistet sind.»
Noch im August 2021 hatte Harris eine Klimaaktivistin für die Quaibrücke-Blockade wegen Nötigung verurteilt. Die Ausgangslage war dabei praktisch gleich wie bei den jüngsten Freisprüchen. Die damalige Verteidigerin Ursula Weber und ihre Klientin begrüssen den Sinneswandel von Harris zwar. «Die Sache war allerdings schon 2021 so eindeutig, dass man die Beschuldigte hätte freisprechen müssen», sagt Weber.
Mathias Zopfi, 38, Ständerat (Grüne) und Rechtsanwalt aus Glarus, konfrontierte das Parlament wieder einmal mit dessen eigenartigem Verfassungsverständnis. Parallel mit seinem Bündner Ratskollegen Stefan Engler (Mitte) brachte er eine Motion im Stöckli ein, welche die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit forderte. Heute darf das Bundesgericht die vom Parlament erlassenen Gesetze nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit untersuchen. Das Thema war bereits 1999 im Zuge der Verfassungsreform diskutiert worden, ebenso im Jahr 2012.
Die heutige Rechtslage führt gemäss den Motionären zum unbefriedigenden Ergebnis, dass das Bundesgericht nur überprüfen könne, ob die Bundesgesetze EMRK-konform seien. Die Mehrheit des Ständerats sah darin kein Problem, die Motion wurde mit 29 zu 15 Stimmen abgelehnt – auch von mehreren Vertretern der Linken.
Während das Nein von SP-Urgestein Paul Rechsteiner Motionär Zopfi nicht überraschte («er war bereits 1999 dagegen»), war es bei Carlo Sommaruga (ebenfalls SP) anders: 2012 habe dieser sich noch für das Anliegen ausgesprochen. Manche Argumente der Gegner kann Zopfi nachvollziehen, nicht aber ihr Fazit: «Es müsste Anliegen aller Linken sein, den Rechtsstaat auszubauen.»
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