So einen Andrang erlebt man im Wiener Justizpalast selten. Hunderte Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und -anwälte drängten an einem Tag im April 2018 in den Festsaal des ehrwürdigen Hauses nahe der Ringstrasse. Der Saal wurde schnell zu klein, deshalb verlegte man die Kundgebung in die Aula, direkt unter die mächtige Statue der Göttin Justitia. Dort spannten die honorigen Damen und Herren Transparente auf: «Justiz wird totgespart» und «Rechtsstaat in Gefahr!».
Eine ähnliche Warnung war kurz zuvor von der Standesvertretung der österreichischen Rechtsanwälte, dem Rechtsanwaltskammertag, gekommen. Die neue Koalitionsregierung plane ein Sparprogramm mit verheerenden Folgen für die Justiz, schrieb Kammerpräsident Rupert Wolff in der Zeitschrift «Anwalt Aktuell»: Der Zugang der Bürger zum Recht werde erschwert.
Das sind Warnungen, wie man sie bisher eher aus den östlichsten EU-Ländern kannte. Über die Beeinflussung der Justiz in Rumänien sind EU-Parlament und EU-Kommission sehr besorgt, gegen Ungarn und Polen wurde ein Verfahren eingeleitet, das mit Entzug des Stimmrechts enden könnte. Droht Österreich ein ähnliches Schicksal? Ist auch hier der Rechtsstaat akut in Gefahr?
plädoyer hat darüber mit Vertreterinnen und Vertretern der Richterschaft, der Staatsanwaltschaft, der Anwälte, der parlamentarischen Opposition sowie der Regierung gesprochen. Einigkeit herrscht in einem Punkt: Niemand sieht eine unmittelbare Gefahr, dass Österreich den ungarischen oder polnischen Weg gehen könnte mit Verfassungsänderungen und dem Angriff von Regierungen auf die Unabhängigkeit der Justiz. Aber alle bestätigen, dass 2018 für Österreichs Justiz ein entscheidendes Jahr sei. Doch wohin der Weg führen wird, da gehen die Meinungen diametral auseinander.
Das Fundament des Rechtsstaats ist porös
Das österreichische Rechtssystem hat ein solides Fundament, das auf der Lehre des legendären Rechtswissenschafters Hans Kelsen aufbaut und in den 1970er-Jahren durch den sozialdemokratischen Justizminister Christian Broda erneuert wurde. Broda starb 1987. Seine ehemaligen Mitarbeiter prägten die Justiz noch bis zur Jahrtausendwende. Danach herrschte in der Ära der Grossen Koalition aus Sozialdemokraten (SPÖ) und Bürgerlichen (ÖVP) weitgehend Stillstand in der Justizpolitik.
Ohne Pflege und Renovierung ist das einst so solide Fundament des Rechtsstaats porös geworden. So porös, dass heute sogar Grundwerte einer unabhängigen Justiz in Frage gestellt werden können.
Für besonders grosse Unruhe in Justizkreisen sorgte eine Hausdurchsuchung in Wien: Am 28. Februar 2018 stürmte eine Spezialeinheit der Polizei, die eigentlich für die Bekämpfung von Strassenkriminalität eingesetzt wird, die Büros des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorbekämpfung (BVT), also des Nachrichtendienstes der Republik. Akten und Computer wurden beschlagnahmt, der Leiter des BVT vom Dienst suspendiert.
Die Durchsuchung wurde zur Staatsaffäre, die bis heute die Medien und einen Sonderausschuss des Parlaments beschäftigt. Die Justiz, so der Verdacht, sei von der Politik missbraucht worden. Einige Zeugen sagten aus, dass die ermittelnde Staatsanwältin unter massivem Druck des Innenministeriums stand.
Die Justiz antwortete auf die Hausdurchsuchung mit einem deutlichen Zeichen ihrer Unabhängigkeit: Ein halbes Jahr später erklärte das Oberlandesgericht die gesamte Aktion für rechtswidrig und aufgehoben. Justizminister Josef Moser verspricht, daraus Konsequenzen zu ziehen und die Staatsanwaltschaft stärker zu kontrollieren: Bei heiklen Fällen soll sie dem Ministerium im Voraus über Ermittlungsvorhaben Bericht erstatten.
Genau das will die Staatsanwaltschaft verhindern. Eine Berichtspflicht an den Minister gab es in Österreich schon einmal – sie wurde 2016 allerdings deutlich gelockert. Damit wollte man dem Verdacht vorbeugen, dass sich die Politik bei grossen Korruptionsverfahren einmische. International wurde die Abschaffung als wichtiger Beitrag zur Korruptionsbekämpfung gelobt.
Für die Präsidentin der Vereinigung der österreichischen Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, Cornelia Koller, wäre es «ein massiver Rückschritt», die Berichtspflicht wiedereinzuführen. Geht es nach der Standesvertretung, sollte die Staatsanwaltschaft völlig getrennt vom Ministerium arbeiten, unter einer unabhängigen Führung, die vom Parlament gewählt wird. «Die Vernetzung mit der Politik schadet uns», sagt Koller. Sie glaubt fest daran, dass die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft eines Tages auch in Österreich Realität werde. Bis dahin brauche es aber «noch viel Aufklärungsarbeit».
Mehr Geld für die Polizei, sparen bei der Justiz
Seit Ende 2017 regiert in Österreich eine Koalition aus bürgerlicher ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ. Polizei und Militär dürfen sich über mehr Geld für Personal und Material freuen. Doch bei der Justiz wird gespart.
Als eine ihrer ersten Massnahmen beschloss die Koalition, die Polizei um 2000 Mann aufzustocken und weitere 2100 Plätze in der Polizeiausbildung zu schaffen. «Das ist ein notwendiger Schritt, um die Sicherheit im Land gewährleisten zu können», sagt Karoline Edtstadler, ÖVP-Staatssekretärin im Innenministerium.
Dass mehr Polizisten für mehr Sicherheit sorgen können, ist in der Justiz unbestritten. Wenn aber Staatsanwaltschaft und Gerichte kein zusätzliches Personal bekommen, «dann bleiben die Fälle liegen, und die Strafverfolgung wird weniger wirksam. Das wirke sich negativ auf die gesamte Gesellschaft aus, warnt die ehemalige Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Irmgard Griss. Sie sitzt heute für die Oppositionspartei «Neos» im Parlament. Schon jetzt, sagt Griss, sei die Staatsanwaltschaft eine Schwachstelle des Systems, weil Personal fehle.
Cornelia Koller ist Staatsanwältin in Graz und wäre froh, wenn zumindest die technische Ausrüstung auf dem Stand des 21. Jahrhunderts wäre. Koller klagt, dass die Staatsanwälte zu einem grossen Teil nicht von auswärts arbeiten können, weil sie keine Laptops haben. Auf die neuen Herausforderungen wie Cybercrime könne nicht schnell genug reagiert werden, weil es dafür keine ausreichenden Fortbildungsveranstaltungen und Trainings gebe, weder bei Gericht noch bei der Polizei.
Ganz ähnlich sieht es die Präsidentin der Richtervereinigung, Sabine Matejka: «Wir spüren die Kürzungen sehr stark, unser guter Standard ist in Gefahr.» Bereits geplante Fortbildungsveranstaltungen mussten abgesagt, Projekte zur Digitalisierung und zur Sanierung alter Gerichtsgebäude gestoppt werden. Matejka warnt, dass durch die Mangelwirtschaft der Stress bei den Mitarbeitern steige und mehr Stress zu Fehlern führe: Zeugen werden nicht geladen, Verhandlungen müssen verschoben werden: «Wenn es so weitergeht, ist der Gerichtsbetrieb in Gefahr», sagt Matejka. Sie arbeitet an einem Bezirksgericht in Wien, im Flur hängen Plakate der Richtervereinigung mit der Feststellung «So nicht!» Es ist eine Warnung, dass die Regierung der Justiz zwar neue Aufgaben gebe, ihr aber Ressourcen verweigere: Plus 4100 Polizisten, minus 40 Richter – diese Rechnung könne nicht aufgehen.
Tatsächlich wollte die Regierung eigentlich 40 Richterposten streichen, verzichtete aber aufgrund der Proteste darauf. Gespart wird dennoch, vor allem beim administrativen Personal. Dass die Polizei aufgerüstet, aber die Justiz eher stiefmütterlich behandelt wird, sieht Oliver Scheiber, der Leiter des Bezirksgerichts Wien-Meidling, als «rechtsstaatlich bedenklich: Das ist eine neue und denkbar ungünstige Entwicklung.»
Dabei kostet die österreichische Justiz den Staat kein Geld. Im Gegenteil, sie erwirtschaftet einen kleinen Überschuss. Doch das geht auf Kosten der Bürger, die Gerechtigkeit per Zivilverfahren suchen. Als klagende Partei müssen sie zuerst einmal Gerichtsgebühren zahlen: Ab einem Streitwert von 70 000 Euro werden zwei Prozent berechnet. Eine Obergrenze gibt es nicht.
Das Vertrauen ist beschädigt
Auch schon diese im Vergleich zur Schweiz sehr tiefen Gerichtsgebühren halten laut Rupert Wolff, Präsident der Rechtsanwaltskammer, viele Leute davon ab, ihre Sache vor Gericht zu bringen: «Wir bemerken, dass in den letzten Jahren die Anzahl der Gerichtsverfahren in Zivilsachen zurückgeht; in einem Ausmass, das uns Sorgen macht.» Sehr teuer könnten auch ganz simple Eintragungen ins Grundbuch werden. Da kassiere die Justiz 1,1 Prozent des Kaufpreises.
Wolff warnt: Die hohen Kosten und die vielen Medienberichte über extrem lange Verfahren würden das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz beschädigen: «Die Justizpolitik hat in den vergangenen Jahren versäumt, dieses Vertrauen zu pflegen. Aber wenn es einmal weg ist, kommt es nicht so schnell wieder.»
Vertrauensbildende Massnahmen und Transparenz scheitern ebenfalls, weil Geld fehlt. Zum Beispiel sind Entscheide des Oberlandesgerichts nicht öffentlich. Es fehle das Personal, um die Entscheide zu anonymisieren.
An der Protestveranstaltung gegen das Sparpaket im Justizpalast im Frühjahr nahm auch Staatsanwältin Cornelia Koller teil: Ist die Behauptung «Der Rechtsstaat ist in Gefahr» für sie zutreffend? «Es geht in diese Richtung», antwortet Koller. Für die Regierung hat das Thema Sicherheit Priorität. Koller aber warnt: «Wenn Verfahren immer länger dauern, wird das Vertrauen in die Justiz schwinden. Und wenn die Bevölkerung die Justiz nicht mehr akzeptiert, besteht die Gefahr, dass sie zur Selbstjustiz greift. Das könnte die Grundfeste des Rechtsstaats und der Demokratie erschüttern.»