Will man die Revisionsvorlage zur Strafprozessordnung (StPO) beurteilen, muss man sich zuerst bewusst machen, welchen Ansprüchen die gesamtschweizerische StPO bei ihrem Erlass genügen wollte. Es ging zum einen darum, das Vorverfahren zu straffen, indem alles in eine Hand – eben jene der Staatsanwaltschaft – gegeben wird, unter Auslassung von Untersuchungsrichtern und ähnlichen dazwischen geschalteten Institutionen. Zudem sollten Strafverfahren beschleunigt werden und deshalb das Hauptverfahren kein unmittelbares (mehr) sein, sondern weitgehend ein mittelbares, das heisst, im Hauptverfahren sollen nicht noch einmal alle Beweise erneut erhoben werden, welche die Staatsanwaltschaft bereits im Vorverfahren erhoben hat.
Der Gesetzgeber war sich sehr wohl bewusst, dass bei diesem Konzept eine weitere Machtkonzentration im Vorverfahren und damit bei der Staatsanwaltschaft als Herrin desselben stattfindet, da eben die wesentlichen Dinge nun im Vorverfahren und nicht mehr im Hauptverfahren geschehen. Diesem Ungleichgewicht wollte der Gesetzgeber mit ausgebauten Parteirechten entgegenwirken, insbesondere auch deshalb, weil diese Parteirechte im Hauptverfahren nicht mehr zum Tragen kommen, da in diesem eben kaum noch Beweisabnahmen stattfinden. Der Gesetzgeber war sich somit klar bewusst, dass Vor- und Hauptverfahren wie zwei Waagschalen im Gleichgewicht zueinander bleiben müssen: Wird im einen etwas verändert, hat das Auswirkungen auf das andere und muss somit dort kompensiert werden.
So weit einmal die Ausgangslage. Nun hat das Bundesgericht in freier Rechtsfindung die StPO ergänzt – etwa durch Einführung eines Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft gegen Haftentscheide des Zwangsmassnahmengerichts – oder gar gegen den Gesetzeswortlaut ausgelegt (Stichwort qualifizierte Wiederholungsgefahr: In Extremfällen braucht es keinerlei Vordelikt mehr, um Wiederholungsgefahr anzunehmen). In gleicher Weise unternahmen verschiedene interessierte Gruppen Einzelvorstösse, welche darauf abzielen, die StPO in einzelnen Punkten zu revidieren. Alle diese Vorstösse lassen aber die Gesamtschau ausser Acht, eben das oben erwähnte Gleichgewicht zwischen Vor- und Hauptverfahren. Leider hat das Bundesamt für Justiz (BJ) nun einfach diese Einzelvorstösse und die meines Erachtens in einigen Punkten verfehlte Rechtsprechung des Bundesgerichts aufgegriffen und versucht, sie in den Gesetzestext einfliessen zu lassen – um somit quasi alle zufriedenzustellen, ohne dem Erhalt des Gleichgewichts über das ganze Verfahren hinweg Beachtung zu schenken. Hätte das BJ das Gleichgewicht beachtet, wäre es kaum denkbar, dass nun etwa vorgeschlagen wird, dass zwei verschiedene Beschwerdeverfahren gegen Haftentscheide zur Anwendung kommen, je nachdem, wer Beschwerde führt, Staatsanwaltschaft oder beschuldigte Person. Das ist beispielhafter Ausdruck dafür, wie die StPO aus dem Gleichgewicht gebracht werden soll, und zwar in diversen Revisionspunkten:
Einschränkung der Teilnahmerechte: Der neue Art. 147a StPO ist ein Paradebeispiel für die unreflektierte Verschiebung der Gleichgewichte. Art. 147 sieht bislang vor, dass die Parteien das Recht haben, an Beweiserhebungen der Staatsanwaltschaft teilzunehmen. Dies ist an sich unproblematisch, der Streit über diese Bestimmung entbrannte für Situationen, in denen es mehrere Beschuldigte gibt. Das Teilnahmerecht eines jeden Beschuldigten führt dazu, dass er bzw. sie an den Einvernahmen einer anderen und im gleichen Kontext ebenfalls beschuldigten Person teilnehmen darf (klassischer Fall: ein Mittäter hat ein Teilnahmerecht an der Einvernahme des anderen Mittäters, der Gehilfe oder Anstifter an jener des Haupttäters etc.).
Solange sich das Verfahren im Stadium der polizeilichen Ermittlung befindet, ist das kein Problem, weil in diesem Verfahrensstadium kein solches Teilnahmerecht besteht.
Wenn sich aber alle im gleichen Verfahren Beschuldigten in Haft befinden und deshalb bereits das staatsanwaltschaftliche Untersuchungsverfahren läuft, besteht das Teilnahmerecht der Mitbeschuldigten untereinander. Dies führte bereits vor Erlass der StPO zu Kommentaren von Staatsanwälten, etwa aus dem Kanton Zürich, die diese Bestimmung quasi als staatliche Aufforderung zur Kollusion unter Mitbeschuldigten verstanden und deshalb den Untergang des Abendlands voraussagten. Dieser ist allerdings bis heute nicht eingetreten.
Dennoch führte das dazu, dass in einigen Kantonen die Gerichte ausführten, dieses Teilnahmerecht der Mitbeschuldigten bestehe gar nicht, dafür sei die Konfrontation nach Art. 148 StPO vorgesehen. Dabei hat diese Auffassung verkannt, dass ein Konfrontationsrecht und ein Teilnahmerecht eben nicht dasselbe sind: Bei der Konfrontation werden alle miteinander konfrontierten Parteien einvernommen, beim Teilnahmerecht macht die teilnahmeberechtigte Partei nur ihr Fragerecht gegenüber der einzuvernehmenden Person geltend, ohne selbst einvernommen zu werden.
Das Bundesgericht hat in seiner Rechtsprechung den Bedenken zu dieser Bestimmung insofern Rechnung getragen, als es ausführte, mindestens einmal müsse man jede Person zu jedem Tatvorwurf ohne Teilnahme anderer Parteien einvernehmen können (v.a. BGE 139 IV 25). Dies ist nachvollziehbar, denn wer würde sonst bestimmen, welche von mehreren mitbeschuldigten Personen als erste einvernommen wird, was zu einem Vorteil der erst später einzuvernehmenden Mitbeschuldigten führen könnte. Insofern ist an dieser Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht allzu viel auszusetzen.
Allerdings will die Revision im neuen Art. 147a StPO diesen Ausschluss perpetuieren und nicht auf eine einmalige Einvernahme beschränken. Wiederum wird von staatsanwaltschaftlicher Seite gerügt, dass das zu wenig weit gehe, und es wird schlicht die Abschaffung des Teilnahmerechts gefordert (so etwa der ehemalige leitende Zürcher Staatsanwalt Ulrich Weder). Wer solcherlei fordert, belegt nur, dass er das Prinzip des Gleichgewichts der Akteure und des Gleichgewichts der Verfahrensstadien nicht verstanden hat und – noch schlimmer – auch nicht versteht, wie Wahrheit entsteht: Nach dieser Auffassung hat eine Seite die Wahrheit mit Löffeln gefressen (und es ist klar, welche Seite), wohingegen die Verteidigung nichts anderes tut, als die Wahrheit zu verschleiern und zu verdrehen.
Es würde also genügen, den Minimalstandard gemäss Bundesgericht umzusetzen, alles andere ist unnötig und verschiebt das Gleichgewicht der Akteure zulasten der beschuldigten Person, das heisst, es führt zu einem Ungleichgewicht – nämlich einem Übergewicht der Staatsanwaltschaft, was mit der Ursprungsintention der StPO in keiner Weise in Einklang zu bringen ist. Solche Forderungen können nur dann erhoben werden, wenn wieder ein unmittelbares Hauptverfahren eingeführt wird, wie es früher etwa vor dem Geschworenengericht im Kanton Zürich galt.
Zeitpunkt der Einsetzung der amtlichen Verteidigung: Begrüssenswert ist die Klarstellung der missglückten Formulierung in Art. 131 Abs. 2 StPO, dass die notwendige Verteidigung natürlich spätestens bei Eröffnung des staatsanwaltschaftlichen Untersuchungsverfahrens sicherzustellen ist und dass Beweise, die bei einer erkennbar vorliegenden notwendigen Verteidigung vor deren Einsetzung erhoben wurden, nur verwertbar sind, wenn die beschuldigte Person auf die Wiederholung verzichtet.
Dieses aus der Waffengleichheit resultierende Postulat, wird einmal mehr von der erwähnten staatsanwaltschaftlichen Seite als völlig verkehrt und als falsche Gewichtung dargestellt, was nur zeigt, welches Verständnis von Waffengleichheit dort herrscht.
Festsetzung und Anfechtung der honoraramtlichen Verteidigung: Wiederum war es das Bundesgericht, das entgegen der überwiegenden Meinung der Lehre und teilweise auch der Rechtsprechung zur Auffassung gelangte, auch die Festsetzung des Honorars des amtlichen Verteidigers gehöre zwingend ins Urteil und könne somit von der Staatsanwaltschaft mit Berufung angefochten werden. Es ist klar, dass die Staatsanwaltschaft das nur macht, wenn sie der Meinung ist, das Honorar sei zu hoch angesetzt worden.
Der amtliche Verteidiger kann – in eigenem Namen und auf eigenes Risiko – die Entschädigung nur mittels Beschwerde anfechten. Das führte zu einer unsäglichen Gabelung des Rechtswegs und Zuständigkeit zur Beurteilung derselben Frage (nämlich der Höhe des Honorars der amtlichen Verteidigung) aufgrund zweier verschiedener Rechtsmittel (einmal Beschwerde der amtlichen Verteidigung und einmal Berufung der Staatsanwaltschaft). Jetzt wird mindestens klargestellt, dass nur die amtliche Verteidigung die Honorarfestsetzung anfechten kann. Klarzustellen wäre noch, dass das in einem separaten Beschluss erfolgen muss. Dann ist auch klar, was Anfechtungsobjekt ist und dass vor allem das Urteil in der Hauptsache trotz dieser Anfechtung rechtskräftig werden kann (was je nachdem für die Klientschaft wichtig ist, etwa wegen des Beginns einer Probezeit, der nicht wegen einer Honorarbeschwerde verzögert werden soll).
Die Grundüberlegung ist, dass die Honorarfrage eine öffentlich-rechtliche zwischen Verteidigung und Staat ist, die nur diese beiden etwas angeht und sonst niemanden. Wohl muss der Klient der amtlichen Verteidigung gegebenenfalls das vom Staat festgesetzte Honorar dem Staat zurückerstatten und hat insofern ein Interesse daran, dass dieses nicht zu hoch ausfällt. Aber in keinem anderen Rechtsgebiet hat die unentgeltlich verbeiständete Person eine Möglichkeit, gegen die Honorarfestsetzung ihrer Rechtsvertretung zu opponieren. Warum das im Strafprozess anders sein soll, ist nicht einzusehen.
Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen haftbeendende Entscheide: Nach dem klaren Wortlaut von Art. 222 StPO hat nur die verhaftete Person das Recht, gegen einen die Haft begründenden Entscheid Beschwerde zu führen. Das hat das Bundesgericht nicht davon abgehalten zu wissen, dass der Gesetzgeber das ja wohl nicht so einschränkend gemeint haben könne, sondern dass selbstverständlich die Staatsanwaltschaft auch ein Beschwerderecht haben müsse, nämlich wenn die beschuldigte Person ihrer Meinung nach vom Zwangsmassnahmengericht zu Unrecht nicht in Haft behalten werde. Wer so argumentiert, verkennt die Herkunft des Beschwerderechts in Haftsachen: Ursprung ist die englische Habeas Corpus Act von 1679, die besagte, dass jede vom Sheriff (der quasi der vom König beauftragte Strafverfolger, also in etwa die heutige Strafverfolgungsbehörde, war) verhaftete Person das Recht hatte, die Rechtmässigkeit der Haft von einem Gericht überprüfen zu lassen. Wurde das Gericht angerufen, erliess dieses gegenüber dem Sheriff den Befehl, die verhaftete Person zwecks Überprüfung der Rechtmässigkeit der Haft «körperlich» zum Gericht zu bringen. Dasselbe Konzept steckt hinter dem Anspruch in Art. 5 Ziff. 3 EMRK auf unverzügliche Überprüfung des Freiheitsentzuges, der jener Person zusteht, der die Freiheit entzogen wurde, und sonst niemandem.
Nachdem das Bundesgericht contra legem also auch der Staatsanwaltschaft ein Beschwerderecht eingeräumt hatte, begann das Chaos: Wie sollte dieses Beschwerderecht auch wirksam umgesetzt werden können? Es hatte zur Folge, dass das Zwangsmassnahmengericht die freizulassende Person entgegen Art. 226 Abs. 5 nicht unverzüglich auf freien Fuss setzen durfte, ansonsten das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft ja ins Leere gelaufen wäre, sondern in Haft behalten werden musste, sofern die Staatsanwaltschaft unverzüglich Beschwerde gegen den Haftentlassungsbescheid ankündigte. Damit entstand das nächste Problem: Wie ist zu verfahren, wenn die Staatsanwaltschaft nicht an der Verhandlung über die Zwangsmassnahmen teilnahm, sondern sich von dieser dispensieren liess? Und wenn nun die Staatsanwaltschaft rechtzeitig Beschwerde erhob, wer entscheidet dann im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK unverzüglich über die Fortdauer des Freiheitsentzuges? Also musste – wiederum in freier Rechtsfindung – vom Bundesgericht beschieden werden, dass dann die Beschwerdeinstanz quasi vorsorglich für die Dauer des Beschwerdeverfahrens über die Fortdauer der Haft befindet und dass danach das eigentliche Beschwerdeverfahren durchgeführt wird (welches ja nur noch einen Sinn hatte, wenn die Beschwerdeinstanz die Haft vorsorglich weiterdauern liess, womit das Ergebnis dieser vorläufigen Haftprüfung auch immer von vornherein feststand).
Diese unbefriedigende Situation soll nun durch eine Neuregelung des Beschwerdeverfahrens bereinigt werden. Dabei musste als Grundbedingung die Vorgabe von Art. 5 Ziff. 3 EMRK, die unverzügliche Prüfung der Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs, eingehalten werden, was mit einem schriftlichen Beschwerdeverfahren offensichtlich nicht zu schaffen war. Also schlägt die Revision nun ein mündliches Beschwerdeverfahren vor, indem die Beschwerdeinstanz quasi wie ein zweites Zwangsmassnahmengericht innert 48 Stunden seit Beschwerdeerhebung durch die Staatsanwaltschaft über deren Beschwerde entscheiden muss, was natürlich nur in einem mündlichen Verfahren möglich ist. Und selbst bei einem solchen mündlichen Verfahren ist zweifelhaft, ob die EMRK-Vorgabe der unverzüglichen Prüfung eingehalten wird, darf doch diesfalls die effektive Haftprüfung bis zum Entscheid durch die Beschwerdeinstanz nun 7 Arbeitstage dauern (4 Tage bzw. 96 Stunden bis zum Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts, danach Beschwerdeerhebung und unverzügliche Übermittlung der Beschwerde und des begründeten Entscheides des Gerichts an die Beschwerdeinstanz, was einen weiteren Tag beanspruchen wird, und danach vor Beschwerdeinstanz in analoger Anwendung von Art. 225 und Art. 226 wiederum 48 Stunden bis zum Entscheid).
Abgesehen von der fraglichen EMRK-Konformität dieser Lösung ist es völlig unverständlich, dass es nun zwei verschiedene Beschwerdeverfahren geben soll, je nachdem, wer Beschwerde führt: ein schnelles, wenn es die Staatsanwaltschaft ist, und ein langsames, wenn es die verhaftete Person ist. Das kann nun aber überhaupt nicht sein und die Schlechterstellung der verhafteten Person ist durch nichts zu begründen, was auch von staatsanwaltschaftlicher Seite mindestens teilweise gleich gesehen wird.
Diese unmögliche Lösung ist das Ergebnis unreflektierten Gehorsams gegenüber einer verfehlten Rechtsprechung des Bundesgerichts, anstatt sich von dieser zu lösen und eine effektive, praktikable und handhabbare Lösung zu präsentieren. Diese kann nur entweder das Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft ausdrücklich streichen (was das Parlament bestätigen muss und dann auch für das Bundesgericht gilt) oder aber beide Parteien kommen in den Genuss desselben Verfahrens. Diese zwei Varianten könnte man dem Parlament vorschlagen, nicht aber die «Bundesgerichtslösung», welche wohl kaum mit grundlegenden Normen und Prinzipien in Einklang zu bringen ist.
Haftgrund der Wiederholungs- oder Fortsetzungsgefahr: Ebenfalls aufgrund eines nicht nachvollziehbaren Bundesgerichtsentscheids und auch gestützt auf Vorstösse im Parlament wurde die Kritik erhoben, der Haftgrund der Wiederholungsgefahr sei im Gesetz zu eng gefasst, wenn Haft aus diesem Grund nur angeordnet werden könne, wenn jemand bereits in der Vergangenheit gleichartige Delikte wie das jetzt untersuchte begangen habe, sodass gestützt hierauf jetzt befürchtet werden müsse, dass er inskünftig weitere solche begehen werde (das heisst, es braucht mindestens drei Delikte: das aktuell untersuchte, ein früheres solches und ein künftig zu befürchtendes).
Das Bundesgericht befand in BGE 137 IV 13, dass es selbst bei Fehlen gleichartiger Vortaten nicht in der Absicht des Gesetzgebers gelegen habe, mögliche Opfer von weiteren schweren Gewaltdelikten solchen Risiken auszusetzen, ergo darf Wiederholungsgefahr auch ohne Vordelikt angenommen werden, wenn schwere Gewaltdelikte drohen. Weshalb das Bundesgericht nicht auf den Haftgrund der Ausführungsgefahr erkannte, ist unerfindlich, entfernt es sich doch einmal mehr vom völlig klaren Wortlaut der StPO und den darin normierten Voraussetzungen für die Annahme von Fortsetzungsgefahr.
Churchill sagte einmal, dass Prognosen immer unsicher seien, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen. Nicht anders ist es mit dem Haftgrund der Wiederholungsgefahr. Wenigstens hält der Revisionsvorschlag an den drei Delikten fest: Wiederholungsgefahr darf angenommen werden, wenn gegenüber der verhafteten Person ein Tatverdacht auf ein Verbrechen oder Vergehen besteht (= untersuchtes Delikt) und ernsthaft zu befürchten ist, dass eine Person durch Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet (= künftiges Delikt), nachdem sie bereits früher eine solche Straftat verübt hat (= früheres Delikt, das nicht das untersuchte ist, sondern diesem voranging). Der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird wenigsten hier eine klare Absage erteilt.
Sicherheitshaft trotz freisprechendem Urteil: Wie wenig konsequent und durchdacht manche Bestimmungen sind, zeigt Art. 231 Abs. 2 StPO: die Möglichkeit der Fortdauer der Sicherheitshaft trotz freisprechendem erstinstanzlichem Urteil. Die Staatsanwaltschaft kann zuhanden des Berufungsgerichts die Fortdauer der Haft beantragen, wenn sie Berufung erklären will. Diesfalls bleibt die freigesprochene Person in Haft und die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts muss innert fünf Tagen über die Fortdauer der Haft entscheiden.
Haft setzt bekanntlich einen dringenden Tatverdacht darauf voraus, dass die betroffene Person ein schwerwiegendes Delikt begangen hat. Wie kann ein solcher dringender Tatverdacht noch ernsthaft bejaht werden, wenn diese Person von einem Gericht nach Prüfung sämtlicher Beweismittel vom erhobenen Vorwurf freigesprochen worden ist (in gleichem Sinn jetzt offenbar auch das Bundesgericht, vgl. Entscheid 1B_176/2018, E. 3.6 f.)? Die Annahme eines dringenden Tatverdachts trotz freisprechendem Urteil ist ein Widerspruch in sich selbst. Wer so etwas zulässt, hat sich noch nie mit der Frage ernsthaft auseinandergesetzt, was denn ein dringender Tatverdacht ist.
Beweisantragsrecht: Weiterhin im Argen liegt das Beweisantragsrecht der beschuldigten Person. Es ist auf keiner Verfahrensstufe und vor keiner Instanz durchsetzbar, da die Ablehnung von Beweisanträgen nie mit Beschwerde angefochten werden kann (ausser es drohe der absolute Verlust des Beweismittels wie im Falle der Einvernahme eines Zeugen, der bereits hochbetagt und/oder schwer krank ist etc.).
Es ist schleierhaft, wie das mit dem Anspruch von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, dem Recht der beschuldigten Person, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu bewirken, vereinbart werden kann. Im Vorverfahren ist die Staatsanwaltschaft Verfahrensleiterin und kann nach Belieben und Gutdünken Belastungszeugen befragen. Die Verteidigung kann nie nach gleichem Belieben die Einvernahme von Entlastungszeugen bewirken. So viel zur Waffengleichheit von Staatsanwaltschaft und Verteidigung in der Realität.
Mindestens Beweisanträge, die im Rahmen der Schlussmitteilung gestellt werden und dann von der Staatsanwaltschaft abgelehnt werden, müssen als mit Beschwerde anfechtbare bezeichnet werden: Zum einen verbietet Art. 318 StPO weitgehend die antizipierte Beweiswürdigung, womit die Staatsanwaltschaft eigentlich Beweisanträge nur selten ablehnen darf. Zum anderen muss die Staatsanwaltschaft wenigstens hier die Ablehnung der Beweisanträge begründen, was Voraussetzung für eine Anfechtungsmöglichkeit ist. Zudem würde die Anfechtungsmöglichkeit präventiv wirken: Allein die Gefahr, dass bei Ablehnung der Beweisanträge die Beschwerdeinstanz angerufen werden könnte, dürfte zu einer ernsthafteren Prüfung führen.
Fazit: Die jetzt vorgeschlagene Revision ist einerseits mangelhaft bezüglich jener Gebiete, die revidiert werden sollen, andererseits mangelhaft, weil wichtige Anliegen nicht aufgenommen und nicht revidiert worden sind (etwa das Beweisantragsrecht), sodass die Revision in dieser Form wohl kaum eine Chance im Parlament haben wird. Es ist unumgänglich, dass in einem ernsthaften Diskurs über das Gesamtkonzept der StPO diskutiert wird, was leider im Rahmen der Vorarbeiten zur Entstehung einer eidgenössischen StPO unterblieb und nun halt, wie sich eben zeigt, nachgeholt werden muss. Ohne eine Verständigung über ein solches Grundkonzept, aus dem sich dann die Regelung der Einzelfragen fast von selbst konsequenterweise ergibt, wird die StPO immer Stückwerk bleiben.