plädoyer: Laut der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektionen erledigen die Strafverfolgungsbehörden über 97 Prozent aller Fälle per Strafbefehl – die meisten ohne staatsanwaltschaftliche Einvernahme. Im Kanton Bern zum Beispiel ergingen im vergangenen Jahr über 90 000 Verurteilungen ohne Untersuchungsverfahren. Ist die Wahrheitsfindung zweitrangig?
Barbara Loppacher: Es gibt in der Schweiz viel Massendelinquenz. Die weitaus meisten Strafbefehle ergehen im Bereich des Strassenverkehrsgesetzes. Da geht es häufig um Überschreitungen der Höchstgeschwindigkeit. Es gibt ein Radarbild oder eine Radarmessung, damit ist der Sachverhalt klar. Deshalb braucht es in diesen Fällen keine staatsanwaltschaftliche Einvernahme mehr als Beweismittel. Die polizeiliche Einvernahme reicht aus.
Eveline Roos: Bei Übertretungen findet oft nicht einmal eine polizeiliche Befragung der beschuldigten Person statt. Sie erhält einen Strafbefehl und erfährt dadurch erstmals, dass gegen sie ein Strafverfahren lief und sie verurteilt wurde. Auch viele andere Fälle werden ohne staatsanwaltschaftliche Einvernahme abgehandelt. Das ist rechtsstaatlich ein Problem.
Loppacher: Eine Einsprache kostet nichts. Dies ist der Vorteil des Strafbefehls. Die Einsprache ist ein Rechtsbehelf und kein Rechtsmittel, das an Formen gebunden ist. Die Einsprache des Beschuldigten bedarf auch keiner Begründung. Es reicht, auf einen Zettel zu schreiben: «Ich erhebe Einsprache.»
plädoyer: Kritiker bemängeln, Strafbefehle seien Versuchs-ballone. Die Staatsanwaltschaft teste so, ob sich Beschuldigte wehren. Erst nach Einsprache würden die Akten studiert. Stimmt dieser Vorwurf?
Roos: Ja, dies entspricht meinen Erfahrungen. Die Strafe basiert auf einem Verdacht. Deshalb erstaunt nicht, dass nicht selten Verfahren nach einer Einsprache ohne Befragung oder andere Beweiserhebungen eingestellt werden.
Loppacher: Wir starten keine Versuchsballone. Der Strafbefehl soll im Fall der Einsprache als Anklageschrift verwendet werden können. Befinden wir uns nicht im Bereich der Massendelinquenz, erheben wir alle Beweise, bevor wir den Strafbefehl erlassen.
plädoyer: Die Einsprachequote liegt im Kanton Bern etwa bei tiefen fünf Prozent. Warum ist das so?
Roos: Die Einsprachefrist von zehn Tagen ist viel zu kurz. Oft kommen Klienten mit einem Strafbefehl zu mir, bei dem die Einsprachefrist bereits abgelaufen ist. Ein Strafbefehl ist für Laien auch komplexer, als es für Juristen scheint. Viele Leute akzeptieren den Strafbefehl, obwohl sie nicht verstehen, worum es genau geht. Sie können nämlich nicht abschätzen, welche Konsequenzen der Strafbefehl mit Strafregistereintrag, Zivilforderungen und Administrativverfahren nach sich ziehen kann. Im Administrativverfahren kann der Fahrausweis entzogen werden. Viele sind dann mit dem Strafbefehl nicht mehr einverstanden. Für eine Einsprache ist es in diesem Zeitpunkt aber zu spät.
plädoyer: Der Bundesrat postuliert in seinem Revisionsvorschlag eine Verlängerung der Einsprachefrist bei einer schriftlichen Zustellung auf zwanzig Tage. Ist das ein guter Vorschlag?
Loppacher: Nein. Die Idee des Strafbefehls ist es, ein schnelles und schlankes Verfahren durchzuführen. Verlängert sich die Frist, dauert es länger, bis das Verfahren erledigt ist. Die Strafverfolgungsbehörden sind daran interessiert, diese Verfahren möglichst schnell zu erledigen. Dies müsste auch im Interesse der Beschuldigten und ihrer Rechtsanwälte sein.
Roos: Mit Blick auf die Verfahrensdauer kommt es auf diese paar Tage mehr nicht an. Für den Betroffenen ist es jedoch ein grosser Unterschied, ob er zehn oder zwanzig Tage Zeit hat, um zu reagieren. Zwanzig Tage Zeit für die Einsprachefrist sind daher das Minimum. Ich befürworte eine Frist von dreissig Tagen.
Loppacher: Ein Strafbefehl erfolgt nicht aus heiterem Himmel. Betroffene wissen von der Polizei, dass gegen sie ein Verfahren läuft. Der Strafbefehl kommt also nicht überraschend.
Roos: Manchmal dauert es nach einem Vorfall Monate, bis ein Strafbefehl erlassen wird. Wenn ich nach mehreren Monaten noch nichts erhalten habe und in die Ferien abreise, rechne ich nicht damit, dass der Strafbefehl genau dann in meinem Briefkasten landet. Meines Erachtens sollte das Verfahren umgekehrt werden: Der Strafbefehl darf nicht als akzeptiert gelten, wenn keine Einsprache erhoben wird. Er sollte von der betroffenen Person vielmehr ausdrücklich akzeptiert werden müssen, damit er rechtskräftig wird.
Loppacher: Von diesem Vorschlag halte ich nichts. Viele Strafbefehlsempfänger sind unzuverlässig und holen die Schreiben der Staatsanwaltschaft auf der Post nicht ab. Schon die Zustellung einer Vorladung ist teilweise mit einem grossen Aufwand verbunden. Zusätzliche Ressourcen wären dafür nötig. Das ist aber ein politischer Entscheid. Zurzeit will kaum jemand zusätzlich Geld in die Strafverfolgung investieren.
plädoyer: Eine Einsprache und die Konsultation eines Anwalts kosten die Betroffenen Geld. Liegt hier nicht auch eine Hürde, welche die Zahl der Einsprachen reduziert?
Loppacher: Hat jemand wenig Geld, kann er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege stellen. Dies ist häufig der Fall. Gestützt auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung werden amtliche Verteidiger oft auch bei geringfügigeren Delikten bewilligt. Hat die Einsprache Erfolg, werden die Verfahrenskosten auf die Staatskasse genommen und die Verteidigerkosten erstattet.
Roos: Das trifft meines Erachtens nicht zu. In Strafbefehlsverfahren besteht selten Anspruch auf eine amtliche Verteidigung, sodass der Beizug eines Anwaltes auf eigene Kosten erfolgt. Und bei einem Freispruch werden häufig nicht die gesamten Kosten erstattet. Oft heisst es in den Verfügungen, der Beizug eines Rechtsanwalts wäre nicht nötig gewesen. Der Betroffene erhält dann eine Pauschale, die seine Verteidigungskosten nicht deckt. Häufig sind daher auch finanzielle Gründe dafür ausschlaggebend, dass sich jemand nicht gegen einen Strafbefehl wehrt. Werde ich als Anwältin mandatiert, Einsprache zu erheben, erwirke ich teilweise einen Freispruch oder eine tiefere Strafe. Das müssen sich die Betroffenen aber erst leisten können.
plädoyer: Weshalb gewährt die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten nicht schon vor Erlass des Strafbefehls das rechtliche Gehör?
Loppacher: Es ist eine Frage der Ressourcen. Im Aargau haben wir rund 40 000 Strafverfahren pro Jahr. Wir können daher nicht in jedem Fall eine staatsanwaltschaftliche Einvernahme durchführen. Das Strafbefehlsverfahren ist darauf ausgerichtet, dass es sehr schnell zu Ende gebracht wird. Die Betroffenen erhalten einen Strafbefehl, gegen den sie Einsprache erheben können. So wird auch das rechtliche Gehör gewährt.
plädoyer: Was halten Sie von der Forderung, dass ein Beschuldigter einvernommen werden muss, ausser er verzichtet ausdrücklich darauf?
Roos: Ich fände das gut. Der Strafbefehl führt zu einer rechtskräftigen Verurteilung. Betroffene sollten daher genau verstehen, welche Konsequenzen ein Strafbefehl haben kann. Sie müssten deshalb stets das Recht haben, befragt zu werden.
Loppacher: Das sehe ich kritisch. Denn der Aufwand steigt beträchtlich, wenn man alle Betroffenen kontaktieren muss.
plädoyer: Bei der polizeilichen Einvernahme könnte der Beschuldigte zum Beispiel gefragt werden, ob er eine Einvernahme durch den Staatsanwalt wünscht.
Loppacher: Das wäre eine Möglichkeit. Fraglich ist, ob dies zu anderen Resultaten führen würde.
plädoyer: Kann ein Staatsanwalt das individuelle Verschulden einer Personseriös beurteilen, wenn er nicht mit ihr gesprochen hat?
Loppacher: Es kommt auf den Fall an. Bei uns im Kanton Aargau wird hauptsächlich die Massendelinquenz ohne staatsanwaltschaftliche Einvernahme abgehandelt. Ich spreche hier vor allem von Verfahren, in denen es etwa darum geht, dass jemand zu schnell gefahren ist. Ich glaube, da ist das Verschulden bei den verschiedenen Lenkern etwa gleich.
Roos: Das setzt aber voraus, dass Sie wissen, wer gefahren ist. Es gibt auch die Fälle, in denen jemand einen Strafbefehl akzeptiert, um eine andere Person zu schützen.
Loppacher: Das ist so. In der Einvernahme würde man aber auch nicht herausfinden, wenn jemand anderer gedeckt werden sollte.
plädoyer: Mit einem Strafbefehl kann jemand zu einer Gefängnisstrafe bis zu sechs Monaten verurteilt werden – ohne Befragung durch einen Staatsanwalt. Ab welchem Strafmass befragen Sie Beschuldigte?
Loppacher: Das kann ich nicht generell sagen. Es kommt auf den Sachverhalt und die Umstände an. Je höher das zu erwartende Strafmass ist, desto eher führen wir Einvernahmen durch. Teils führen wir Einvernahmen auch im Übertretungsbereich durch.
Roos: Rechtsstaatlich ist es sehr heikel, wenn keine Befragung durch die Staatsanwaltschaft stattfindet und das rechtliche Gehör erst gewährt wird, nachdem Einsprache erhoben wurde. Das bedeutet nämlich: Aus Effizienzgründen nimmt man Fehlurteile in Kauf. Ich halte auch die kantonalen Unterschiede bei der Ansetzung von staatsanwaltschaftlichen Einvernahmen für ärgerlich. Eine landesweite Lösung wäre hier sinnvoll. Auch andere Ab-läufe sollten vereinheitlicht werden. In einigen Kantonen zum Beispiel werden Strafbefehle mit normaler Post eröffnet, im Kanton Solothurn mit einer Gerichtsurkunde, in anderen Kantonen wiederum per Einschreiben. Das ist für die Betroffenen und ihre Verteidiger unübersichtlich.
plädoyer: Der Entscheid über einen bedingten Vollzug einer Strafe setzt eine Prognose über das künftige Verhalten des Täters voraus. Kann das beurteilt werden, ohne dass der Beschuldigte selbst befragt wird?
Roos: Das bezweifle ich. Dazu muss man sich einen persönlichen Eindruck verschaffen.
Loppacher: Die Polizei hat fähige Mitarbeiter. Sie führt die Befragungen durch. Auf diese Einvernahmen lässt sich in der Regel abstellen. Die Staatsanwaltschaft arbeitet Hand in Hand mit der Polizei, es muss nicht alles zweifach gemacht werden. Teilweise ändert eine Befragung nichts an der Prognose: Ein Autofahrer, der bereits wegen Alkohol am Steuer verurteilt wurde und während der Probezeit wieder alkoholisiert am Steuer sass, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit eine unbedingte Strafe erhalten.
Roos: Bei Wiederholungstätern wäre es allenfalls wirksamer, wenn sie vor dem Staatsanwalt für eine Befragung erscheinen müssten. Das ist unangenehmer, als einfach einen Strafbefehl zu erhalten. Übersehen darf man auch nicht: Strafbefehle können für Beschuldigte vorteilhaft sein: Es gibt nicht nur keine Einvernahme, sondern auch keine öffentliche Gerichtsverhandlung. Alles bleibt geheim. Ein Politiker, der mittels Strafbefehl wegen Pornografie verurteilt wurde, wird einen Strafbefehl wohl akzeptieren, da er sich vor einer öffentlichen Gerichtsverhandlung fürchtet. Egal, ob der ihm vorgeworfene Sachverhalt zutrifft oder nicht.
plädoyer: Einzelne Kantone schreiben heute eine staats-anwaltschaftliche Einvernahme ab einer gewissen Strafhöhe vor, in Zürich grundsätzlich ab drei Monaten. Der Bundesrat schlägt in seinem Entwurf bei absehbaren Strafen von mehr als vier Monaten eine Einvernahme zwingend vor. Was halten Sie davon?
Roos: Das fände ich gut. Wichtig ist, dass die Einvernahme vorgängig erfolgt. Also nicht erst, nachdem sich jemand gegen einen Strafbefehl wehrt.
Loppacher: Diese Neuerung würde dazu führen, dass mehr Personal gebraucht würde. Obwohl wir uns bei Strafen von über vier Monaten nicht mehr im Bereich der Massendelinquenz befinden. Hier machen wir denn auch häufiger Einvernahmen. Zu berücksichtigen ist, dass es oft viele Verfahrensbeteiligte wie etwa die Opfer einer Straftat gibt. Bei ausländischen Beschuldigten sind noch Dolmetscher nötig. In solchen Fällen ist die Ansetzung einer Einvernahme eine grosse Herausforderung. Die Ressourcen werden jedoch nicht aufgestockt. Im Gegenteil: Seit ich in meiner heutigen Funktion bin, haben die Ressourcen tendenziell abgenommen, wohingegen die Fallzahlen zunahmen. Und der Staatsanwaltschaft werden immer mehr Aufgaben zugewiesen.
Roos: Das Problem liegt auch darin, dass immer mehr sanktioniert wird. Die Strafbestimmungen sind uferlos. Das Strafrecht sollte entrümpelt werden. Der Ressourcenmangel der Strafverfolgungsbehörden ist kein Rechtfertigungsgrund, um auf die Anwendung wesentlicher Verfahrensgrundsätze zu verzichten.
plädoyer: Der Bundesrat schlägt vor, dass die Staatsanwaltschaft zukünftig im Strafbefehl auch über Zivilforderungen entscheiden kann, wenn der Betrag 30 000 Franken nicht übersteigt.
Loppacher: Die Beurteilung von Zivilforderungen wäre eine zusätzliche, neue Aufgabe für die Staatsanwaltschaft. Dies gehört meiner Meinung nach nicht zu ihren Aufgaben. Der Vorschlag überzeugt mich nicht. Ist der Sachverhalt nicht liquid oder haben wir kein Geständnis, erheben wir Anklage.
Roos: Ich lehne diesen Vorschlag auch ab. Mit einem Strafbefehl soll niemand gegen seinen Willen zur Zahlung einer Zivilforderung verurteilt werden.
Strafbefehl soll neu geregelt werden
Ein Strafbefehl ist zulässig, wenn der Sachverhalt von der beschuldigten Person eingestanden oder «anderweitig ausreichend geklärt» ist. Als Sanktion kann eine Busse, eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen oder eine Freiheitsstrafe von höchstens sechs Monaten verhängt werden. Erhebt der Betroffene nicht innert zehn Tagen nach Erhalt des Strafbefehls schriftlich Einsprache, wird der Strafbefehl zu einem vollstreckbaren Urteil.
Der Bundesrat will die Prozessordnung nun punktuell ändern. Bei Strafbefehlen schlägt er neu zwingend eine staatsanwaltschaftliche Einvernahme vor, sofern eine Strafe von mehr als vier Monaten droht. Bei schriftlich eröffneten Strafbefehlen soll sich die Einsprachefrist auf 20 Tage verlängern. Zudem will der Entwurf Teilnahmerechte von Beschuldigten bei Einvernahmen einschränken und jene der Opfer ausbauen. Der Bundesrat wird den Revisionsentwurf voraussichtlich im August überarbeiten und dann dem Parlament unterbreiten.
Barbara Loppacher, 45, ist leitende Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau und nebenamtliche Richterin an der neu geschaffenen Berufungskammer des Bundesstrafgerichts.
Eveline Roos, 42, ist als Fachanwältin SAV -Strafrecht in Solothurn tätig, Co-Leiterin Fachgruppe Strafrecht und Präsidentin des Solothurner Anwaltsverbands.