1. Einleitung
Angesichts der Ausweitung der EU, ihrer fortschreitenden Integration und der Mobilität der Unionsbürger, verbunden mit der internationalen Diversifikation der Vermögenswerte, ist davon auszugehen, dass Erbfälle mit Auslandbeziehungen stetig zunehmen. Die Abwicklung von solch grenzüberschreitenden Erbfällen ist oft äusserst anspruchsvoll, da mehrere (oder keine) Behörden und Gerichte die Zuständigkeit für ein und denselben Erbfall beanspruchen und es verschiedene Rechtsordnungen zu beachten gilt.1
Vor diesem Hintergrund hat der europäische Gesetzgeber die EU-Verordnung Nr. 650/2012 vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (nachfolgend «EuErbVO») erlassen, die am 16. August 2012 in Kraft getreten ist.2 Auf dem Weg der Vereinheitlichung des internationalen Privatrechts im Bereich des Erbrechts sollen die erwähnten Schwierigkeiten überwunden und die Abwicklung grenzüberschreitender Nachlässe vereinfacht werden.
Die neue EuErbVO ist seit dem 17. August 2015 auf alle Erbfälle innerhalb von 25 EU-Mitgliedstaaten anwendbar. Die EuErbVO hat nicht nur Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten, sondern ist auch im Rechtsverkehr mit Drittstaaten wie der Schweiz zu berücksichtigen. Aus schweizerischer Sicht ist somit eine Analyse der wesentlichen Aspekte der EuErbVO bei Schweizer Nachlässen mit europäischen Bezügen angezeigt.
2. Geltungsbereich, Prinzipien
2.1 Anwendungsbereich
Als Verordnung der EU hat die EuErbVO allgemeine Geltung, ist in sämtlichen Teilen verbindlich und unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar.3 Das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark nehmen an der EuErbVO nicht teil, sodass diese lediglich in den restlichen 25 EU-Staaten direkt Geltung beansprucht.4 Die drei nicht teilnehmenden EU-Staaten stellen – wie auch die Schweiz – Drittstaaten im Sinne der Verordnung dar.5 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bestimmungen der EuErbVO auch im Verhältnis zu solchen Drittstaaten Anwendung finden.6
Vorab ist klarzustellen, dass keine Vereinheitlichung der materiellen Erbrechte der 25 EU-Mitgliedstaaten erfolgt und die Erbschaftssteuern unberührt bleiben.7 Die EuErbVO regelt das internationale Kollisionsrecht auf dem Gebiet des Erbrechts.8
2.2 Grundprinzipien
Die EuErbVO zielt auf einen Gleichlauf sowohl bezüglich der internationalen Zuständigkeit in Erbsachen (forum) als auch des auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbaren Erbstatuts (ius) ab.9 Die EuErbVO stellt neu einheitlich auf den gewöhnlichen Aufenthaltsort (Art. 4 und Art. 21 Abs. 1 EuErbVO) als zentralen Anknüpfungspunkt ab. Es gilt somit fortan das Aufenthaltsprinzip.10 Ein weiterer Grundgedanke, der durch die EuErbVO in weiten Teilen verwirklicht wird, ist das Prinzip der Nachlasseinheit.11 In allen Mitgliedstaaten bestimmt sich somit die Erbfolge für den gesamten, weltweiten Nachlass, das heisst sowohl für bewegliches wie auch unbewegliches Nachlassvermögen, grundsätzlich nach dem Recht des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers.12 Eine Nachlassspaltung, zu der es aufgrund unterschiedlicher Anknüpfung von beweglichem und unbeweglichem Vermögen bisher oft gekommen ist, soll inskünftig innerhalb der EU vermieden werden. Zu beachten ist ferner, dass der Grundsatz des Vorrangs von bisherigen internationalen Übereinkommen im Bereich der EuErbVO gilt (Art. 75 EuErbVO).
3. Internationale Zuständigkeit
Geregelt wird lediglich die internationale Zuständigkeit der Gerichte und Behörden13 für Erbsachen, nicht aber die örtliche, sachliche oder funktionelle Zuständigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten, für die weiterhin das Recht des international zuständigen Mitgliedstaats massgebend ist (Art. 2 EuErbVO).14
3.1 Letzter gewöhnlicher Aufenthaltsort
3.1.1 Begriff
Für Entscheidungen in Erbsachen sind für den gesamten Nachlass, das heisst inklusive allfälliger in Drittstaaten belegener Nachlassgegenstände, grundsätzlich die Gerichte und Behörden des Mitgliedstaates zuständig, in welchem der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Art. 4 EuErbVO).
Die EuErbVO definiert den zentralen Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nicht. Dieser ist autonom für die Zwecke der EuErbVO auszulegen, sodass insbesondere erbrechtlichen Wertungen Nachdruck zu verleihen ist.15 In den Erwägungen 23 und 24 der EuErbVO wird klargestellt, dass bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod (vergangenheitsbezogen) und im Zeitpunkt seines Todes (gegenwartsbezogen) vorzunehmen ist und dabei sämtliche relevanten Tatsachen zu berücksichtigen sind, insbesondere Dauer und Regelmässigkeit des Aufenthalts im betreffenden Staat sowie die damit zusammenhängenden Umstände und Gründe.16 In die Gesamtbeurteilung einfliessen können auch Staatsangehörigkeit, Lageort des Nachlassvermögens, Sprachkenntnisse sowie die familiäre und soziale Bindungen des Erblassers.17
Der gewöhnliche Aufenthalt ist also zunächst nach rein objektiven Kriterien zu bestimmen. Ein rechtsgeschäftlicher (und subjektiver) Wille zur Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts ist grundsätzlich nicht erforderlich, hingegen können der Bleibewille und die Absicht sich zu integrieren gegebenenfalls als Indizien berücksichtigt werden.18 Der so bestimmte gewöhnliche Aufenthalt sollte eine besonders enge und feste Bindung zum betreffenden Staat erkennen lassen.19 Daraus ergibt sich, dass eine Person jeweils nur einen einzigen letzten gewöhnlichen Aufenthalt haben kann.20
3.1.2 Grenzfälle
In den meisten Erbfällen dürfte die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts keine Schwierigkeiten bereiten. Da bereits der Erwerb oder die Miete einer Wohnung ein Indiz für die Beständigkeit des neuen Aufenthaltsortes darstellt, ist in der Regel mit jedem Umzug auch ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts verbunden.21
Es wird jedoch Grenzfälle geben, in denen der gewöhnliche Aufenthalt zum Todeszeitpunkt umstritten sein wird, etwa wenn der Erblasser erst kurz vor seinem Tod seinen Aufenthaltsort geändert hat oder an mehreren Orten wohnhaft war.22 Da die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts der Disposition des Erblassers entzogen ist, sollte in diesen Grenzfällen in einer letztwilligen Verfügung eine Dokumentation der Umstände, die für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in einem bestimmten Staat sprechen (confessio iuris), in Betracht gezogen werden.23
3.2 Subsidiäre Zuständigkeit am Belegenheitsort
Hatte der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt seines Todes in einem Drittstaat (z.B. der Schweiz), so sind die Gerichte und Behörden jenes Mitgliedstaates zuständig, in dem sich Nachlassvermögen befindet (Art. 10 EuErbVO). Das in einem Mitgliedstaat belegene Vermögen wirkt somit zuständigkeitsbegründend – keine Vermögenswerte in einem Mitgliedstaat sollen ohne Zuständigkeit bleiben.24 Diese Zuständigkeit erstreckt sich auf den gesamten weltweiten Nachlass gemäss Art. 10 Abs. 1 EuErbVO (subsidiäre Allzuständigkeit), sofern der Erblasser entweder die Staatsangehörigkeit des Belegenheitsstaates besass (lit. a) oder, wenn dies nicht der Fall ist, der Erblasser dort vor weniger als fünf Jahren vor Anrufung des Gerichts seinen vorhergehenden gewöhnlichen Aufenthalt hatte (lit. b). Andernfalls ist die Zuständigkeit gemäss Art. 10 Abs. 2 EuErbVO auf Vermögenswerte beschränkt, die sich im betreffenden Mitgliedstaat befinden (subsidiäre beschränkte Zuständigkeit).
Beim zuständigkeitsbegründenden Nachlassvermögen kann es sich sowohl um Sachen (bewegliche und unbewegliche) als auch Rechte (Forderungen, Immaterialgüterrechte und dergleichen) handeln.25 Die EuErbVO schweigt zur Frage, zu welchem Zeitpunkt sich das Nachlassvermögen im Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts befinden muss.26 Nach Ansicht der Autoren sollte auf den Todeszeitpunkt abgestellt werden, da ansonsten die Zuständigkeit durch Vermögensverschiebungen post mortem beeinflusst werden könnte.
Während die Bestimmung des Belegenheitsortes bei Sachen kaum Schwierigkeiten bereitet, ist unklar, wo z.B. Rechte als belegen gelten.27 In der Lehre wird vorgebracht, dass der Belegenheitsort verordnungsautonom zu bestimmen sei, d.h. ohne Rückgriff auf die lex causae oder die lex fori, was allerdings noch der Klärung durch den EuGH bedarf.28 Wird beispielsweise davon ausgegangen, dass Anteile an Kapitalgesellschaften, ungeachtet des Werts und der effektiven Belegenheit oder Ausgabe dieser Aktien, im Mitgliedstaat belegen sind, in dem die Gesellschaft ihren Sitz hat und in ein Register eingetragen ist, so erklären sich die deutschen Gerichte als zuständig, wenn sich im Nachlassvermögen eines in der Schweiz wohnhaften Erblassers Aktien einer in Deutschland registrierten Aktiengesellschaft befinden.29
Das müsste auch gelten, wenn sich die Aktien in Wertschriftendepots bei einer Bank in der Schweiz befinden. Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte würde sich sogar auf den gesamten weltweiten Nachlass erstrecken, wenn der Erblasser deutscher Staatsangehöriger war oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt während der letzten fünf Jahre vor Anrufung des Gerichts in Deutschland hatte. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, dass Art. 10 EuErbVO der Ruf eines «exorbitanten Gerichtsstands» zukommt.30 Die Implikationen von in einem Mitgliedstaat belegenen Vermögenswerten sind bei der Nachlassplanung eingehend zu berücksichtigen.
3.3 Koordination der Zuständigkeiten
3.3.1 Rechtshängigkeit
Die ausgedehnte Zuständigkeitsregelung in Art. 10 EuErbVO kann dazu führen, dass sich verschiedene Staaten als zuständig erklären und somit in verschiedenen Staaten parallele Verfahren über denselben Streitgegenstand zwischen denselben Parteien eingeleitet werden.31 Die Regeln über den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit in Art. 14 EuErbVO definieren im Verhältnis zwischen den Mitgliedstaaten den Zeitpunkt, zu dem ein Gericht als angerufen gilt und somit die Rechtshängigkeit eintritt.32 Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amtes wegen aus (Art. 17 Abs. 1 EuErbVO). Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig (Art. 17 Abs. 2 EuErbVO). Die Rechtshängigkeitsregelungen dienen der Koordination der Zuständigkeit zwischen Gerichten von Mitgliedstaaten, jedoch enthält die EuErbVO keine Regelung, um parallele Verfahren in Mitgliedstaaten und Drittstaaten zu verhindern.33 Deshalb stellt sich die Frage, welche Regeln in den EU-Mitgliedstaaten betreffend Rechtshängigkeit bei Drittstaatenverfahren inskünftig gelten.
Aus der Sicht der Schweiz als Drittstaat wird die Rechtshängigkeit aufgrund von Art. 9 des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht (nachfolgend «IPRG»)34 beantwortet. Ist eine Klage über denselben Gegenstand zwischen denselben Parteien zuerst im Ausland hängig gemacht worden, so setzt das Schweizer Gericht das Verfahren aus, wenn zu erwarten ist, dass das ausländische Gericht in angemessener Frist eine Entscheidung fällt, die in der Schweiz anerkennbar ist. Die Rechtshängigkeit nach Art. 9 IPRG erfordert in Verbindung mit Art. 96 IPRG und Art. 25 f. IPRG eine Anerkennungsprognose betreffend die ausländische Entscheidung.35 Diese Prognose setzt folglich eine antizipierte Anwendung der Anerkennungsregeln des Schweizer IPRG voraus. Die ausgedehnten Zuständigkeitsregelungen führen dazu, dass z.B. eine Entscheidung eines Gerichts, das sich aufgrund von Art. 10 EuErbVO als zuständig erklärt, in der Schweiz mangels Vorliegen der indirekten Zuständigkeit gemäss Art. 25 lit. a IPRG i.V.m. Art. 26 lit. a IPRG i.V.m. Art. 96 IPRG nicht anerkennbar wäre.36 Die Anerkennungsprognose für einen Entscheid dieses ausländischen Gerichts würde aus Sicht der Schweiz negativ beurteilt und das Verfahren würde nicht ausgesetzt. Die Schweizer Gerichte könnten in der Folge das Verfahren parallel zum bereits eingeleiteten Verfahren in einem Mitgliedstaat führen.
3.3.2 Beschränkung des Verfahrens
Die Verfahrensbeschränkung nach Art. 12 EuErbVO stellt eine Ausnahme zum Grundsatz der zuständigkeitsrechtlichen Nachlasseinheit dar.37 Demnach ist es möglich, dass ein grundsätzlich umfassend zuständiges Mitgliedstaatengericht bei Nachlassvermögen in Drittstaaten und negativer Anerkennungs- bzw. Vollstreckungsprognose im Hinblick auf eine mitgliedstaatliche Entscheidung auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten das Verfahren ganz oder teilweise auf die in der EU befindlichen Nachlassgegenstände beschränkt.38
Die Zuständigkeitsprüfung mit Anerkennungsprognose erfolgt nach dem Drittstaatenrecht, in der Schweiz aufgrund von Art. 25, Art. 26 und Art. 96 IPRG. Die Zuständigkeitsausscheidung nach Art. 12 EuErbVO ist allerdings eine Kannvorschrift und wird vor allem, aber nicht nur, im Zusammenhang mit unbeweglichem Vermögen zur Anwendung gelangen. Welche Faktoren die Gerichte bei dieser Ermessensentscheidung zu berücksichtigen haben, geht nicht aus der EuErbVO hervor.39
4. Anwendbares Recht
4.1 Regelanknüpfung
Gemäss der Grundregel von Art. 21 Abs. 1 EuErbVO untersteht die Rechtsnachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates, in dem der Erblasser im Todeszeitpunkt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Verweisungsregel um eine Sachnormverweisung. Ausnahmsweise kann es sich um eine Kollisionsnormverweisung handeln, wenn Drittstaatenrecht berufen ist (vgl. 4.3.2).40 Das anwendbare Recht gilt grundsätzlich für die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen, unabhängig davon, wo sich diese Vermögenswerte befinden, sodass eine Nachlassspaltung inskünftig in der Regel vermieden wird.41 Diese einheitliche Regelanknüpfung soll einen internationalen Entscheidungseinklang in Erbsachen innerhalb der EU schaffen.42 Um eine einheitliche Auslegung zu gewährleisten, konkretisiert die Verordnung in Art. 23 Abs. 2 EuErbVO die Reichweite des berufenen Erbstatuts.43 Ausnahmsweise, wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass im Zeitpunkt des Todes des Erblassers eine offensichtlich engere Beziehung zu einem anderen Staat als dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts besteht, ist das Recht dieses Staates anzuwenden (Art. 21 Abs. 2 EuErbVO).44 Wann jedoch eine solche Ausnahmesituation vorliegen soll, bleibt unklar.45
4.2 Rechtswahl
Gemäss Art. 22 Abs. 1 EuErbVO kann der Erblasser die Regelanknüpfung ausschliessen, indem er für die Erbfolge von Todes wegen das Recht des Staates wählt, dessen Staatsangehörigkeit er im Zeitpunkt der Rechtswahl oder seines Todes besitzt.46 Die Rechtswahl (professio iuris) gilt für den gesamten weltweiten Nachlass (Art. 23 Abs. 1 EuErbVO) – eine Teilrechtswahl, wie sie in Art. 87 Abs. 2 IPRG zulässig ist, ist ausgeschlossen.47 Die Rechtswahl stellt eine Sachnormverweisung dar (Art. 34 Abs. 2 EuErbVO), sodass allfällige Rück- und Weiterverweisungen der gewählten Rechtsordnung unbeachtlich sind und ein Heranziehen der Ausweichklausel (Art. 21 Abs. 2 EuErbVO) ausgeschlossen ist.48 Die Rechtswahl empfiehlt sich insbesondere, um Rechtssicherheit für die Bestimmung des Erbstatuts zu schaffen.49 Die Rechtswahl für Doppelbürger nach der EuErbVO ist liberaler als jene nach dem schweizerischen internationalen Privatrecht.50 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage einer Angleichung des Schweizer IPRG betreffend die Wahlfreiheit von Doppelbürgern an die EuErbVO.
4.2.1 Übergangsbestimmungen
Art. 83 Abs. 2 EuErbVO bestimmt im Sinne eines favor professionis iuris, dass eine Rechtswahl zugunsten des Heimatrechts auch schon gültig in einer vor dem 17. August 2015 errichteten Verfügung von Todes wegen enthalten sein kann und auch fortgilt.51
Eine solche Rechtswahl muss einerseits den formellen und materiellen Anforderungen der Verordnung genügen oder andererseits nach den zum Zeitpunkt der Rechtswahl geltenden Vorschriften des internationalen Privatrechts des Staates, in dem der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, oder in einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besass, wirksam getroffen worden sein.52 Diese alternativen Anknüpfungen gewähren für «Altrechtswahlen» weitgehenden Bestandes- und Vertrauensschutz. Ob dies auch für Testamente aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der EuErbVO, d.h. vor dem 16. August 2012 gilt, ist unklar.53 In Anbetracht der Rechtsunsicherheit ist zu empfehlen, eine entsprechende Rechtswahl zu wiederholen.
Art. 83 Abs. 4 EuErbVO enthält eine Rechtswahlfiktion. Wurde eine Verfügung von Todes wegen vor dem 17. August 2015 nach dem Recht errichtet, das der Erblasser gemäss der EuErbVO hätte wählen können (Art. 22, Art. 24 Abs. 2 sowie Art. 25 Abs. 3 EuErbVO), so gilt dieses Recht als anwendbares Recht für die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen. Vorausgesetzt ist folglich, dass die Verfügung von Todes wegen «in Übereinstimmung mit» einem wählbaren Recht errichtet wurde, d.h. nach einem der wählbaren Rechte wirksam ist.54
Zu prüfen ist demnach, ob das Staatsangehörigkeitsrecht auf den Nachlass des Erblassers anwendbar sein könnte und ob der Erblasser eine nach diesem Recht wirksame Verfügung von Todes wegen errichtet hat. Falls ja, greift automatisch eine Rechtswahlfiktion zugunsten ebendieses Heimatrechts, und zwar nicht nur hinsichtlich der betreffenden Verfügung, sondern für den gesamten Nachlass.55
4.2.2 Confessio iuris
Da der Erblasser nach der EuErbVO nur sein Heimatrecht wählen kann, bleibt ihm namentlich die Wahl des Rechts des gewöhnlichen Aufenthaltsortes versagt. Insbesondere wenn z.B. das für eine Rechtswahl zur Verfügung stehende Heimatrecht für den Erblasser aus bestimmten Gründen nicht infrage kommt oder der letzte gewöhnliche Aufenthalt umstritten sein könnte, wird in der Praxis von einer confessio iuris Gebrauch zu machen sein. Darunter ist eine Sachverhaltsdarstellung des Erblassers durch nachhaltige und verständliche Dokumentation von Fakten in einer Verfügung von Todes wegen zu verstehen.56
Damit kann der Erblasser zu Lebzeiten dem dereinstigen Rechtsanwender (objektive und subjektive) Anhaltspunkte liefern, welche diesem die Entscheidfindung bei der Anwendung des massgebenden Anknüpfungskriteriums, d.h. des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers, erleichtern können.57
4.3 Recht eines Drittstaates
4.3.1 Universelle Rechtsanwendung
Das aufgrund der EuErbVO anwendbare Recht ist nicht nur dann massgebend, wenn es das Recht eines Mitgliedstaates ist, sondern auch, wenn es sich um Drittstaatenrecht handelt (Art. 20 EuErbVO). Drittstaatenrecht wird – mangels Rechtswahl – regelmässig bei einer subsidiären Zuständigkeit gemäss Art. 10 EuErbVO Anwendung finden, da sich der gewöhnliche Aufenthalt diesfalls gerade ausserhalb der Mitgliedstaaten befand. Dasselbe gilt, wenn der Erblasser Drittstaatenangehöriger war und seinen Nachlass dem Heimatrecht unterstellt hat.
Nicht geregelt ist in der EuErbVO, wie das Drittstaatenrecht zu ermitteln ist, ob die Parteien am Nachweis des fremden Rechts mitwirken dürfen bzw. müssen oder wie der internationale Entscheidungseinklang gewährleistet wird.58 Ebenso wenig ist festgelegt, welches Recht subsidiär zur Anwendung kommt, wenn das fremde Erbrecht nicht feststellbar ist. Allein die potenzielle Anwendung von Drittstaatenrecht durch Mitgliedstaatengerichte vermag somit bereits Anlass dafür sein, zufällige und unnötige zuständigkeitsbegründende Berührungspunkte zu einem Mitgliedstaat zu Lebzeiten zu beseitigen, etwa indem Vermögenswerte aus Mitgliedstaaten abgezogen werden.59
4.3.2 Renvoi
Bei den Verweisungsregeln in der Verordnung handelt es sich grundsätzlich um Sachnormverweisungen, sodass eine Rück- und Weiterverweisung (sog. Renvoi) in der Regel ausgeschlossen ist. Ist somit gemäss Verordnung das Recht eines Mitgliedstaates anwendbar, so ist dies ausschliesslich als Sachnormverweisung zu verstehen.60 Anders verhält es sich, wenn aufgrund der Regelanknüpfung (Art. 21 Abs. 1 EuErbVO) das Recht eines Drittstaates berufen ist. Dabei handelt es sich um Gesamtrechtsverweisungen, das heisst die im dortigen Kollisionsrecht enthaltenen Rück- und Weiterverweisungen sind zu berücksichtigen (Art. 34 Abs. 1 EuErbVO), falls sie auf das Recht eines Mitgliedstaats zurückverweisen (lit. a) oder auf Drittstaatenrecht weiterverweisen, das seinerseits diese Verweisung annimmt (lit. b).61
4.4 Ordre-public-Vorbehalt
Die EuErbVO enthält einen Ordre-public-Vorbehalt (Art. 35 EuErbVO), sodass die Gerichte und andere mit Erbsachen befasste Behörden in Ausnahmefällen Bestimmungen eines ausländischen Rechts ausser Acht lassen können, wenn deren Anwendung im konkreten Fall mit der öffentlichen Ordnung des betreffenden Mitgliedstaates offensichtlich unvereinbar wäre.62 Der Ordre-public-Vorbehalt ist demnach dann beachtlich, wenn ius und forum auseinanderfallen und es somit zur Anwendung fremden Sachrechts kommt.63 Interessanterweise sah der erste Verordnungsentwurf noch einen weiteren Absatz vor, wonach die unterschiedlichen nationalen Pflichtteilsrechte nie am Ordre-public-Vorbehalt scheitern sollten (Art. 27 Abs. 2 des Vorschlags).64 Dieser Passus wurde jedoch nicht in den Verordnungstext übernommen.
Umstritten ist, was daraus zu schliessen ist. Gemäss herrschender Lehrmeinung ist kein Umkehrschluss zu ziehen, wonach in jedem Fall die nationalen Pflichtteilsrechte zum Durchbruch kommen sollen.65 Der Ordre-public-Vorbehalt soll nur in Ausnahmefällen greifen.66 Die Pflichtteilsproblematik könnte aber allenfalls bei der Wahl von Rechtsordnungen, die keine Pflichtteilsrechte kennen, oder bei bewusster Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts zur Begründung einer für die Berechtigten nachteiligen Rechtsordnung aktuell werden.67
5. Sonderanknüpfung
Die EuErbVO enthält ferner Kollisionsnormen zur Zulässigkeit, Formgültigkeit, materiellen Wirksamkeit und zu den Bindungswirkungen von Verfügungen von Todes wegen (Art. 24 ff. EuErbVO). Bei der Sonderanknüpfung für Verfügungen von Todes wegen ist zwischen Testamenten und einseitigen Erbverträgen einerseits und mehrseitigen Erbverträgen andererseits zu unterscheiden.68
5.1 Testamente und einseitige Erbverträge
Nach Art. 24 Abs. 1 EuErbVO (Testamente) und Art. 25 Abs. 1 EuErbVO (einseitige Erbverträge) sind die Zulässigkeit, materielle Wirksamkeit und gegebenenfalls Bindungswirkung einer Verfügung von Todes wegen betreffend den Nachlass eines einzelnen Erblassers dem Recht unterstellt, das nach den allgemeinen Kollisionsnormen der Verordnung Anwendung fände, wenn dieser Erblasser im Zeitpunkt der Verfügung verstorben wäre. Demnach findet entweder das Recht des Aufenthaltsstaates im Errichtungszeitpunkt oder, im Falle einer Rechtswahl nach Art. 22 EuErbVO, das Recht des Heimatstaates im Errichtungszeitpunkt Anwendung.69
Das Errichtungs- bzw. Erbvertragsstatut bestimmt sich somit nach dem sog. hypothetischen Erbstatut.70 Bei einer Aufenthaltsverschiebung nach Errichtung einer letztwilligen Verfügung kommt es demnach zu einem Auseinanderfallen von Erbstatut und Errichtungs- bzw. Erbvertragsstatut, da Letzteres im Verfügungszeitpunkt fixiert wird.71 Dem Erblasser steht es frei, für die Verfügung bzw. deren Zulässigkeit, materielle Wirksamkeit und die Bindungswirkung eine «isolierte» Rechtswahl zugunsten seines Heimatrechts zu treffen (Art. 24 Abs. 2 und Art. 25 Abs. 3 EuErbVO).
Zu beachten ist, dass von einer solchen isolierten Rechtswahl lediglich das Errichtungs- bzw. Erbvertragsstatut und nicht auch das eigentliche Erbstatut betroffen ist.72 Bei einer Rechtswahl in einer letztwilligen Verfügung ist deshalb klarzustellen, auf welche Rechtsfragen sich die Rechtswahl bezieht.73 Um zu verhindern, dass das Recht, welches auf die Zulässigkeit und materielle Wirksamkeit von letztwilligen Verfügungen – bei Erbverträgen auch auf die Bindungswirkung – anwendbar ist, vom Recht, welches auf die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen anwendbar ist, abweicht, sollte grundsätzlich eine einheitliche Rechtswahl für das Erbstatut und das Errichtungs- bzw. Erbvertragsstatut getroffen werden.74
5.2 Mehrseitige Erbverträge
Einschränkender sind die Regelungen für Erbverträge, welche den Nachlass mehrerer Personen betreffen (Art. 25 Abs. 2 EuErbVO). Die Zulässigkeit eines solchen Erbvertrags ist nur dann gegeben, wenn er bei Vertragsschluss gemäss den jeweiligen hypothetischen Erbstatuten (gewöhnlicher Aufenthalt oder gewähltes Recht) aller beteiligten Erblasser zulässig ist.75 Die materielle Wirksamkeit und die Bindungswirkung des Erbvertrags unterliegen hingegen alleine demjenigen der Erbvertragsstatute, zu dem der Erbvertrag die engste Verbindung hat.76 Der damit verbundenen Rechtsunsicherheit kann wiederum mit einer Rechtswahlklausel begegnet werden (Art. 25 Abs. 3 EuErbVO).77 Ebenfalls ist bei einer Rechtswahl eine Klarstellung empfehlenswert, auf welche Rechtsfragen sich die Rechtswahl bezieht.78
5.3 Formelle Wirksamkeit letztwilliger Verfügungen
Bezüglich der formellen Wirksamkeit von Testamenten und Erbverträgen sind die Bestimmungen des Haager Testamentsübereinkommens (nachfolgend «HTestÜ»)79 anwendbar und gehen der EuErbVO vor (Art. 75 EuErbVO). Da allerdings einige Mitgliedstaaten und auch die EU diesem Übereinkommen nicht beigetreten sind, enthält Art. 27 EuErbVO eine Bestimmung, die mit dem HTestÜ im Einklang steht.80 Dies ist begrüssenswert, da auch das IPRG das HTestÜ für anwendbar erklärt (Art. 93 IPRG).
5.4 Übergangsrecht
Vor dem 17. August 2015 errichtete Verfügungen von Todes wegen bleiben im Sinne eines favor validitatis gemäss Art. 83 Abs. 3 EuErbVO zulässig sowie materiell und formell wirksam, wenn sie entweder die Voraussetzungen des Kapitels III (anwendbares Recht) der Verordnung erfüllen oder nach den zum Errichtungszeitpunkt geltenden Vorschriften des internationalen Privatrechts des Aufenthaltsstaates, des Heimatstaates oder des Mitgliedstaates, dessen Behörde mit der Erbsache befasst ist, zulässig sowie materiell und formell wirksam sind.
6. Anerkennung von Entscheidungen
In Art. 39 ff. EuErbVO ist die Anerkennung und Vollstreckung von nationalen Entscheidungen von Mitgliedstaaten in Erbsachen geregelt. Die Vorschriften gelten sowohl für Entscheidungen in streitigen Verfahren wie auch für Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit.81 Erbrechtliche Entscheidungen werden automatisch in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ein besonderes Verfahren ist dafür nicht nötig (Art. 39 EuErbVO). Der Anerkennungsautomatismus gilt gegenüber Mitgliedstaaten, aber nicht gegenüber Drittstaaten wie z.B. der Schweiz. Es ist daher fraglich, welche innerstaatlichen EU-Normen betreffend die Anerkennung von Entscheidungen aus Drittstaaten inskünftig anwendbar sind. Aus Sicht der Schweiz ist bezüglich der Anerkennung und Vollstreckung von erbrechtlichen Entscheidungen Art. 96 IPRG massgebend.82 Art. 96 IPRG wird die Schweiz häufiger als bisher verpflichten, Entscheidungen aus einem Mitgliedstaat anzuerkennen und zu vollstrecken, weil durch die EuErbVO einerseits der letzte Wohnsitz häufig mit dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt korreliert und weil andererseits neu die Rechtswahlmöglichkeit gegeben ist.83
7. Europäisches Nachlasszeugnis
Zur Vereinfachung und Beschleunigung der grenzüberschreitenden Nachlassabwicklung wird mit dem Europäischen Nachlasszeugnis (nachfolgend «ENZ») eine einheitliche Bescheinigung in Erbsachen eingeführt.84 Das Nachlasszeugnis dient dem Nachweis der Rechte der Erben, (dinglichen) Vermächtnisnehmer, Testamentsvollstrecker oder Nachlassverwalter (Art. 63 Abs. 1 EuErbVO). Die einheitliche Regelung der Wirkungen des ENZ (Legitimationsausweis, Richtigkeitsvermutung, Wirkung des guten Glaubens) wird im europäischen Raum vermehrt Rechtssicherheit bringen.85
Die Verwendung des ENZ ist indessen nicht verpflichtend und tritt nicht an die Stelle der Nachlasszeugnisse der Mitgliedstaaten, sondern neben diese (Art. 62 Abs. 2 und Abs. 3 EuErbVO).86 Gemäss EuErbVO gilt das ENZ – automatisch und voraussetzungslos – nur für den Nachweis der Erbfolge in einem anderen Mitgliedstaat, nicht hingegen in Drittstaaten wie der Schweiz oder für rein nationale Sachverhalte.87 Diese Wirkungserstreckung des Nachlasszeugnisses auf alle Mitgliedstaaten bedeutet nicht, dass das Nachlasszeugnis in Drittstaaten nicht anerkannt werden kann.88 Die Frage nach der Anerkennung des ENZ in der Schweiz stellt sich z.B. dann, wenn Bezüge sowohl zu mehreren Mitgliedstaaten als auch zur Schweiz bestehen. Für eine Anerkennung nach Art. 96 Abs. 1 lit. a IPRG kommen sämtliche Urkunden in Betracht, die nach dem Recht des jeweiligen Errichtungsstaates bestimmt und geeignet sind, eine Person als Rechtsnachfolger des Erblassers auszuweisen.89 Das ENZ stellt demnach aus Schweizer Sicht grundsätzlich ein gültiges Anerkennungsobjekt dar.90
Sofern jedoch eine Schweizer Nachlasszuständigkeit vorliegt, ist eine Anerkennung des ENZ ausgeschlossen, weil die Schweizer Behörden für die Ausstellung des Erbscheins zuständig sind. Gemäss Art. 27 Abs. 2 lit. c IPRG i.V.m. Art. 31 IPRG werden ausländische Legitimationspapiere nicht anerkannt, wenn in der Schweiz eine Zuständigkeit besteht und das Verfahren zuerst in der Schweiz eingeleitet wurde.91 Da das Nachlassverfahren nach schweizerischem Recht im Zeitpunkt des Todes als eröffnet gilt, ist kaum vorstellbar, dass eine ausländische Behörde vor der Schweizer Nachlassbehörde mit der Erbsache befasst war. Erforderlich ist folglich eine Erbenbescheinigung nach Art. 559 ZGB.92
8. Auswirkungen auf den Rechtsverkehr
8.1 Unterschiedliche Anknüpfungskriterien
Im schweizerischen internationalen Privatrecht ist der letzte Wohnsitz des Erblassers das zentrale Anknüpfungskriterium und ist als Ort zu verstehen, an dem sich der Erblasser zuletzt mit der Absicht des dauernden Verbleibs aufhielt und wo sich der Mittelpunkt der Lebensbeziehungen befindet (Art. 20 Abs. 1 lit. a IPRG).93
Dem Schweizer Wohnsitzbegriff liegt eine zukunftsbezogene Sichtweise zugrunde, wogegen dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt gemäss der EuErbVO eine vergangenheitsbezogene Sichtweise inhärent ist. In den meisten Fällen wird der letzte gewöhnliche Aufenthalt im Sinn der EuErbVO mit dem letzten Wohnsitz im Sinne des IPRG übereinstimmen.94 Im Vergleich zur bisherigen Rechtslage wird es infolge Annäherung des neuen europäischen Anknüpfungskriteriums an das schweizerische Anknüpfungskriterium inskünftig aus Schweizer Sicht zu weniger Nachlasskonflikten kommen, die bisher aufgrund der unterschiedlichen Anknüpfungskriterien häufig waren. Zur Dokumentierung des letzten gewöhnlichen Aufenthalts bzw. Wohnsitzes kann von einer confessio iuris Gebrauch gemacht werden (vgl. Ziff. 4.2.2).
Zur unterschiedlichen Beurteilung von Wohnsitz im Sinne des IPRG und gewöhnlichem Aufenthaltsort im Sinne der EuErbVO könnte es kommen, weil die EuErbVO objektiven Umständen den Vorrang gibt, während das IPRG der subjektiven Absicht grösseres Gewicht zumisst.95 Falls beispielsweise ein Schweizer mit bisherigem Wohnsitz in der Schweiz seit kurzem in Deutschland wohnt, liegt aus Schweizer Sicht aufgrund von Art. 86 IPRG kein Wohnsitz in der Schweiz vor und aus Sicht von Deutschland ist der letzte gewöhnliche Aufenthaltsort gemäss Art. 4 EuErbVO möglicherweise (noch) nicht in Deutschland, sondern noch in der Schweiz zu lokalisieren. Dieser negative Kompetenzkonflikt wird dadurch gelöst, dass die Schweiz sich aufgrund der subsidiären Heimatgerichtszuständigkeit (Art. 87 Abs. 1 IPRG) als zuständig erklärt. Auch in den erwähnten Grenzfällen (vgl. Ziff. 3.1.2 und FN22) ist eine Diskrepanz zwischen dem letzten Wohnsitz und dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt nicht auszuschliessen.96
Falls beispielsweise ein Schweizer Ehepaar, dessen Kinder und Freunde in der Schweiz leben, die meiste Zeit des Jahres in Mallorca verbringt, stellt sich die Frage, ab wann der Wohnsitz gemäss IPRG und der letzte gewöhnliche Aufenthalt gemäss EuErbVO nicht mehr deckungsgleich sind. Folge einer unterschiedlichen Beurteilung kann sein, dass sich allenfalls beide Staaten als zuständig erachten und so ein positiver Kompetenzkonflikt resultiert.
8.2 EU-Zuständigkeit am Ort der belegenen Vermögenswerte
Weiter können in der Praxis aufgrund der weiten Zuständigkeitsregelung der EuErbVO (Art. 10 EuErbVO) positive Kompetenzkonflikte auftreten, wenn sich beispielsweise der letzte Wohnsitz des Erblassers in der Schweiz befindet und dieser Nachlasswerte (bewegliche oder unbewegliche) in einem Mitgliedstaat hinterlässt (vgl. Ziff. 3.2).97 Die Koordination der Zuständigkeit, d.h. der Zeitpunkt der Rechtshängigkeit (Art. 14 EuErbVO) und die Folgen der Rechtshängigkeit (Art. 17 EuErbVO), ist in der EuErbVO nur für parallele Verfahren zwischen Mitgliedstaaten, jedoch nicht zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten wie z.B. der Schweiz geregelt.
Aus Sicht der Schweiz wird die Rechtshängigkeit in Art. 9 IPRG geregelt, welcher auf Art. 25, Art. 26 sowie Art. 96 IPRG verweist.98 Die Schweiz und die Mitgliedstaaten lösen allfällige Kompetenzkonflikte unterschiedlich, wenn die Rechtshängigkeit unterschiedlich definiert wird (vgl. Ziff. 3.3.1). Unklar ist diesbezüglich auch, wie die Beschränkung des Verfahrens gemäss Art. 12 EuErbVO durch die Mitgliedstaaten gehandhabt wird (vgl. Ziff. 3.3.2).
Aus Schweizer Sicht kann ein Kompetenzkonflikt bei einem Ausländer mit Wohnsitz in der Schweiz allenfalls durch die Rechtswahl zugunsten des Heimatrechts verbunden mit einer Gerichtsstandswahl zugunsten der Heimatbehörden verhindert werden.99 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass aus Sicht der Mitgliedstaaten keine Gerichtsstandswahl durch den Erblasser zulässig ist. Gerichtsstandsvereinbarungen sind möglich, aber nur nach dem Erbfall durch die Verfahrensparteien (vgl. Art. 5 EuErbVO). Eine Gerichtsstandsvereinbarung kann zudem nur zugunsten von Mitgliedstaatengerichten, nicht aber zugunsten von Drittstaatengerichten, wie z.B. Schweizer Gerichten, erfolgen (Art. 5 Abs. 1 EuErbVO).
Das Schweizer Ehepaar im vorerwähnten Beispiel (vgl. Ziff. 8.1) könnte zwar Schweizer Recht als anwendbares Recht wählen, jedoch ist post mortem durch die Verfahrensparteien keine Gerichtsstandsverschiebung (forum legis) zugunsten von Schweizer Gerichten möglich. Folge davon ist, dass Deutschland das (fremde) Schweizer Erbrecht anwenden wird (Art. 20 EuErbVO). Wie jedoch die ausländischen Gerichte (z.B. mallorquinische Gerichte) dieses Drittstaatenrecht (z.B. das Schweizer Erbrecht) ermitteln und feststellen, ist in der EuErbVO nicht geregelt.
8.3 Rechtswahlmöglichkeit
Eine weitere Auswirkung auf den Rechtsverkehr mit der Schweiz hat die Rechtswahlmöglichkeit. Sie ist ein wichtiges Nachlassplanungsinstrument, das mit der EuErbVO eingeführt worden ist (vgl. Ziff. 4.2). Dieses neue Gestaltungsinstrument der EuErbVO wird im Hinblick auf die Schaffung von Rechtssicherheit betreffend des anwendbaren Rechts eine Zunahme von Rechtswahlklauseln bewirken. Selbst bei (vermeintlichen) Schweizer Fällen sollte der Rechtswahlmöglichkeit Beachtung geschenkt werden, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass in Zukunft ein Anknüpfungspunkt gemäss EuErbVO zu einem Mitgliedstaat geschaffen wird.
8.4 Errichtungs- und Erbvertragsstatut
Da die EuErbVO eine separate Anknüpfung für das Erbstatut und das Errichtungs- bzw. Erbvertragsstatut vorsieht, ist inskünftig in letztwilligen Verfügungen klarzustellen, welches Recht (Recht des gewöhnlichen Aufenthalts oder Heimatstaatsrecht) auf die verschiedenen Rechtsfragen anwendbar sein soll (vgl. Ziff. 5.1 und 5.2).100 Auch bei (vermeintlichen) Schweizer Nachlässen ist dies empfehlenswert.
8.5 Rechtswahlfiktion
Die Rechtswahlfiktion gemäss Art. 83 Abs. 4 EuErbVO kann unbeabsichtigte Rechtsfolgen mit sich bringen. Wurde eine Verfügung von Todes wegen vor dem 17. August 2015 errichtet, greift die Rechtswahlfiktion zugunsten des Staatsangehörigkeitsrechts, wenn die Verfügung von Todes wegen nach einem Recht, das der Erblasser hätte wählen können (Heimatrecht) errichtet worden ist (vgl. Ziff. 4.2.1). Falls somit ein Schweizer z.B. im Jahr 2012 vor einem schweizerischen Notar ein öffentliches Testament ohne Rechtswahlklausel errichtet hat, im Jahr 2014 nach Deutschland zieht und im Jahr 2017 dort verstirbt, wird von der EuErbVO eine Wahl des Schweizer Heimatrechts fingiert.
8.6 Annahme- und Ausschlagungserklärung
Grundsätzlich kann die Annahme- oder Ausschlagungserklärung vor dem gemäss der EuErbVO für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht abgegeben werden (Art. 13 EuErbVO). Für Erben und (dingliche) Vermächtnisnehmer in einem EU-Mitgliedstaat sind ebenfalls die Mitgliedstaatsgerichte am gewöhnlichen Aufenthaltsort zuständig, sofern nach dem Recht dieses Mitgliedstaates eine solche Erklärung vor einem Gericht abgegeben werden kann.101
Es ist darauf hinzuweisen, dass Erben mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem Drittstaat wie z.B. der Schweiz, eine Annahme- oder Ausschlagungserklärung aber nur beim für das Nachlassverfahren zuständigen Mitgliedstaatsgericht abgeben können.
8.7 Staatsverträge
Internationale Abkommen im Erbrecht gehen der Anwendung der EuErbVO vor, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten vor Annahme der Verordnung Vertragsstaaten waren (Art. 75 EuErbVO, vgl. Ziff. 2.2). Dieser Grundsatz wirkt sich auch auf die Schweiz aus, da einige Mitgliedstaaten bilaterale Staatsverträge mit Drittstaaten, wie der Schweiz, geschlossen haben. Beispielsweise ist demnach das Abkommen mit Italien102 weiterhin beachtlich.
Diesbezüglich wäre es im Sinne der Rechtssicherheit wünschenswert, dass diese Staatsverträge gekündigt werden. Zum einen wird die EuErbVO aufgrund nicht abschliessender Regelung der Materie ohnehin zu berücksichtigen sein und zum anderen ist es inkonsistent, wenn bezüglich einzelner Mitgliedstaaten ausschliesslich die EuErbVO und bezüglich anderer zusätzlich bilaterale Staatsverträge aus dem 19. Jahrhundert Anwendung finden.103
9. Fazit
Aus Sicht der Schweiz sind die Ähnlichkeiten in der Anknüpfungstechnik und in der Auswahl der Anknüpfungskriterien sowie das liberale Rechtswahlrecht zu begrüssen.104 Die EuErbVO wird die Bearbeitung von grenzüberschreitenden Erbfällen innerhalb der EU durch die einheitlichen Regeln wesentlich erleichtern und die Rechtssicherheit verbessern.
Alle Probleme werden jedoch nicht gelöst. Im Verhältnis zu Drittstaaten führt die EuErbVO teilweise zu Anwendungsproblemen und schafft neue Unsicherheiten und Konflikte, die es zu antizipieren und in der Nachlassplanung zu berücksichtigen gilt, um unerwünschte Ergebnisse zu vermeiden. Zuständigkeitskonflikte, die aufgrund der weitreichenden Zuständigkeitsregelung infolge Belegenheit von Nachlassgegenständen in einem Mitgliedstaat (Art. 10 EuErbVO) entstehen, können z.B. durch lebzeitige Umstrukturierung des Vermögens vermieden werden. Weiter ist empfehlenswert, in einer Verfügung von Todes wegen – falls keine Rechtswahl zugunsten des Heimatrechts gewünscht ist – von einer confessio iuris Gebrauch zu machen, um so den zukünftigen Rechtsanwendern Anhaltspunkte zur Lokalisierung des letzten gewöhnlichen Aufenthalts zu liefern. Mit Blick auf die Unsicherheiten, die dem Begriff des letzten gewöhnlichen Aufenthalts im Einzelfall anhaften können, ist der Rechtswahlmöglichkeit besondere Bedeutung zu schenken. Eine Koordination von Güter- und Erbrecht bleibt empfehlenswert, damit das Ehe- und das Erbstatut nicht