Anfang März hat der Bundesrat seinen Vorentwurf für eine revidierte Zivilprozessordnung (VE-ZPO) in die Vernehmlassung geschickt. Bis am 11. Juni können sich interessierte Kreise dazu äussern. In den vergangenen Jahren waren insbesondere die Themen Prozesskosten und kollektiver Rechtsschutz von verschiedenen Seiten kritisiert worden (plädoyer 6/2017). Insgesamt schlägt der Bundesrat über ein Dutzend Änderungen vor – darunter einige Überraschungen.
Sieben Jahre nach Inkrafttreten der ersten eidgenössischen ZPO herrscht grundsätzlich die Meinung vor, das Regelwerk habe sich bewährt. Erste parlamentarische Vorstösse für punktuelle Nachbesserungen wurden allerdings bereits wenige Monate nach Inkrafttreten eingereicht. Um zu verhindern, dass ständig an der ZPO herumgeflickt wird, entschieden sich die eidgenössischen Räte im Einvernehmen mit dem Bundesrat für eine Gesamtschau mit vorhergehender Evaluation. Das Bundesamt für Justiz führte unter anderem 2017 ein Round- Table-Gespräch mit Experten durch und verschickte Fragebogen an die kantonalen Gerichte.
Einige interessierte Organisationen – etwa Konsumentenschützer oder die Wirtschaftsverbände – waren im Vorfeld der Revision nicht eingeladen. Diese melden sich jetzt. Die ersten Reaktionen auf den Vorentwurf stellen einen Mix aus Lob, Tadel, Enttäuschung und Warnung dar – besonders was die Neuerungen in der Kostenfrage und im kollektiven Rechtsschutz betrifft.
Prozesskosten: Weit über die juristischen Fachkreise hinaus wurde in den vergangenen Jahren das Problem des Kostenrisikos diskutiert. In einzelnen Kantonen sind die Prozesskosten derart hoch, dass vor allem dem Mittelstand und den KMU der Zugang zum Zivilgericht faktisch verwehrt wird. Der Bundesrat anerkennt das Problem und schlägt vor, dass die Gerichte neu von der klagenden Partei einen Vorschuss von höchstens der Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten verlangen dürfen (Art. 98 Abs. 1 VE-ZPO). Gestrichen wird die vielkritisierte Regelung, wonach der obsiegenden klagenden Partei das Inkassorisiko für die Gerichtskosten übertragen wird (Art. 111 VE-ZPO). Der emeritierte Professor Isaak Meier hatte diese Regelung als «dem Gerechtigkeitsgedanken widerstrebend und eines modernen Rechtsstaats unwürdig» bezeichnet.
Zu den Kritikern der geltenden Prozesskostenordnung gehört auch der Zürcher Titularprofessor und ehemalige Schaffhauser Oberrichter Arnold Marti. In einer ersten Reaktion äussert er sich zufrieden mit der Beschränkung des Vorschusses auf die Hälfte der mutmasslichen Gerichtskosten. Enttäuscht ist Marti jedoch vom Entscheid des Bundesrats, von einem bundesrechtlich geregelten Rahmentarif abzusehen. Die kantonalen Gerichtskosten wiesen enorme und intransparente Unterschiede auf. Laut Marti könne das nach der Vereinheitlichung des Prozessrechts nicht mehr hingenommen werden.
Kollektiver Rechtsschutz: Die Möglichkeit einer Verbandsklage ist bereits im geltenden Recht geregelt – allerdings nur für Klagen aus Persönlichkeitsrecht (Art. 89 ZPO). Der Bundesrat stellt fest, dass sich dieses Instrument als «kaum funktionsfähig» erwiesen habe. Seit Inkrafttreten der ZPO sei keine einzige Verbandsklage gestützt auf diesen Artikel erhoben worden. Die neue Norm hebt die Beschränkung auf Persönlichkeitsverletzungen auf und öffnet die Verbandsklage für das gesamte Privatrecht. Neu können auch finanzielle Ansprüche geltend gemacht werden. In Artikel 89a VE-ZPO wird die Verbandsklage auf Schadenersatz oder Gewinnherausgabe eingeführt. Eine klagende Organisation ist zur Prozessführung befugt und kann dabei eigene und fremde Ansprüche geltend machen. Allerdings wird die Geltendmachung von Genugtuungsansprüchen weiterhin ausgeschlossen.
Gruppenvergleiche als Neuerung
Ganz neue Wege – was die Schweiz betrifft – beschreitet der Bundesrat, indem er die ZPO mit einem Verfahren für Gruppenvergleiche ergänzen will. Die Idee: Schädiger und Geschädigte, die durch eine oder mehrere Organisationen vertreten werden, sollen sich darauf einigen, ihre Auseinandersetzung beziehungsweise Forderungen in einem Gruppenvergleich zu regeln. Der einvernehmlich beschlossene Gruppenvergleich wird dem zuständigen kantonalen Gericht zur Genehmigung und Verbindlicherklärung vorgelegt. Er ist für sämtliche betroffenen Personen bindend – mit der Option, innerhalb einer festgelegten Frist austreten zu können.
Eine Verbesserung des kollektiven Rechtsschutzes war vor allem von Konsumentenseite gefordert worden. Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS), spricht von einer kleinen, aber überfälligen Verbesserung der Rechtslage. R
Rechtsanwalt Alexander Amann, der in die Massenklage der SKS gegen den VW-Konzern und die Amag involviert ist (plädoyer 1/2018), wäre froh, er könnte heute schon auf das geplante Instrumentarium zurückgreifen. Denn was den Dieselskandal von Volkswagen betreffe, machten in der Schweiz nur rund 6000 von 180 000 Betroffenen ihre Ansprüche geltend. Effizientere Instrumente müssten zwingend eingeführt werden, so Amann, damit rechtswidrig handelnde Unternehmen den Verletzergewinn nicht grösstenteils behalten dürften: «Andernfalls würde das geltende materielle Recht ad absurdum geführt, weil sich insbesondere Grossunternehmen schlichtweg darüber hinwegsetzen könnten.»
Der Zürcher Rechtsanwalt Philipp Haberbeck vermisst bei der reparatorischen Verbandsklage eine Substanziierungs- und Beweislasterleichterung für die klagende Partei. Und was das nach niederländischem Muster ausgestaltete Gruppenvergleichsverfahren betrifft, weist er darauf hin, dass dieses im Ursprungsland wenig erfolgreich wirke. In den Niederlanden steht deshalb laut Haberbeck bereits die Einführung einer Sammelklage nach dem Muster der USA zur Diskussion.
Ein solches Szenario käme den Wirtschaftsvertretern ungelegen. Economiesuisse schreibt in einer ersten Stellungnahme unmissverständlich, der Bundesrat schiesse mit seinen Vorschlägen für einen kollektiven Rechtsschutz über das Ziel hinaus. Es gebe im bestehenden Recht keine Lücken, die gefüllt werden müssten. Der Verband spricht von einer gefährlichen Entwicklung und befürchtet falsche Anreize.
Schlichtungsverfahren: Gemäss Bundesrat sind die Schlichtungsverfahren nach Art. 197 ff. ZPO ein «Erfolgsmodell»: Die Auswertung zeige Erledigungsquoten von 50 bis 80 Prozent. Er plant, das Verfahren auszuweiten. Neu soll die Schlichtungsbehörde in den übrigen vermögensrechtlichen Streitigkeiten einen Urteilsvorschlag bis zu einem Streitwert von 10 000 Franken unterbreiten können. Bisher liegt die Grenze bei 5000 Franken. Unverändert bei 2000 Franken soll die Streitwertgrenze bei vermögensrechtlichen Streitfällen liegen. Was auffällt: Im Vorentwurf zur ZPO-Revision bleibt die Norm zum Urteilsvorschlag der Schlichtungsstelle als Kann-Regelung bestehen – es drängt sich die Frage auf, warum die offenbar erfolgreich agierenden Schlichter nicht zum Urteilen verpflichtet werden sollen.
Nach den Vorschlägen des Bundesrats sollen klagende Parteien künftig auch bei Streitigkeiten nach Art. 5 (u.a. geistiges Eigentum, Kartellrecht, Kernenergiehaftpflichtgesetz) und 6 ZPO (Handelsgerichtsbarkeit) eine Schlichtung verlangen dürfen (Art. 198 Abs. 2 VE-ZPO). Dies sei nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der effizienten Verjährungsunterbrechung sinnvoll. Und neu soll den Schlichtungsbehörden die Möglichkeit geschaffen werden, eine nicht persönlich erscheinende Partei, die sich auch nicht gehörig vertreten lässt, mit einer Ordnungsbusse bis zu 1000 Franken zu bestrafen (Art. 206 Abs. 4 VE-ZPO).
Weitere vorgeschlagene Neuerungen
Neben diesen drei zentralen Themenkomplexen schlägt der Bundesrat eine Vielzahl von weiteren Änderungen vor. Dabei übernimmt er zum Teil die Rechtsprechung des Bundesgerichts oder reagiert auf sie. Teilweise schlägt er Neuerungen vor, welche die bestehende ZPO präzisieren oder «praxis- und anwenderfreundlicher» machen sollen. Hier eine Auswahl der interessantesten oder überraschendsten Vorschläge:
Handelsgericht: Ein nicht im Handelsregister eingetragener Kläger soll das Handelsgericht nicht mehr wählen können bei arbeits- oder mietrechtlichen Streitigkeiten – er muss dann stets beim ordentlichen Gericht klagen. Und neu soll in der ZPO ausdrücklich stehen, dass das Handelsgericht nicht für Streitigkeiten im vereinfachten Verfahren zuständig ist.
Prozessleitung: Das Gericht muss eine Klage, für die es unzuständig ist, an das zuständige Gericht weiterleiten, wenn der Kläger dies beantragt und das zuständige Gericht bezeichnet.
Parteien/Klagen: Für die einfache Streitgenossenschaft, die Streitverkündungsklage, die Klagehäufung und die Widerklage braucht es nicht mehr die gleiche Verfahrensart.
Unterhaltsklagen von Kindern: Für sie gilt immer das vereinfachte Verfahren, unabhängig davon, ob sie minder- oder volljährig sind.
Unentgeltliche Rechtspflege: Sie soll neu auch für die vorsorgliche Beweisführung möglich sein.
Fristwahrung: Eine Frist gilt auch für Eingaben als gewahrt, die irrtümlich bei einem offensichtlich unzuständigen schweizerischen Gericht eingereicht werden. Das Gericht muss dann die Eingabe von Amtes wegen an das zuständige Gericht weiterleiten.
Fristwiederherstellung: Ein vom Gericht abgelehntes Gesuch um Fristwiederherstellung kann neu angefochten werden, falls der Ablehnungsentscheid den definitiven Verlust einer Klage oder eines Angriffsmittels bewirkt.
Mitwirkungsverweigerungsrecht: Das bisher nur für Anwälte geltende Mitwirkungsverweigerungsrecht wird auf Unternehmensjuristen ausgedehnt, wenn der Leiter des internen Rechtsdienstes ein Anwaltspatent besitzt.
Parteigutachten: Sie gelten neu als Urkunden und können daher als zulässiges Beweismittel im Prozess verwendet werden.
Urteilsbegründung: Ein Entscheid ohne Begründung muss vom Gericht neu innert vier Monaten begründet werden, falls eine Partei dies verlangt.
Superprovisorische Massnahmen: Lehnt das Gericht die Anordnung einer superprovisorischen Massnahme ab, teilt es auf Antrag den Entscheid der Gegenpartei nicht mehr mit, bis über die Beschwerde der gesuchstellenden Partei entschieden ist.
Abschreibungsentscheid: Wird ein Verfahren mit Vergleich, Klageanerkennung oder Klagerückzug beendigt, kann der Abschreibungsentscheid neu mit Beschwerde angefochten werden.
Berufung: Bei familienrechtlichen Streitigkeiten, die dem summarischen Verfahren unterstehen (z.B. Eheschutz), beträgt die Frist für die Berufung und die Berufungsantwort neu 30 Tage. Und bei Verfahren, in denen die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt von Amtes wegen erforschen muss, hat sie neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung zu berücksichtigen.
Zivilprozessrechtsstatistik: Bei der Ermittlung der Praxistauglichkeit der heutigen ZPO stellte das Bundesamt für Justiz fest, dass fast keine Geschäftszahlen und Statistiken zur Anwendung der ZPO verfügbar sind. Das soll sich ändern. Der Bundesrat schlägt eine Gesetzesbestimmung vor, die es ihm in Zukunft erlaubt, zusammen mit den Kantonen die massgeblichen Daten für eine gesamtschweizerische «Zivilprozessrechtsstatistik» zu erheben.