Es ist kein Hauptprozess, sondern nur eine Einvernahme, die Anfang Juni vor dem Appellationsgericht Basel-Stadt stattfindet. Doch um einen ganz gewöhnlichen Verfahrensschritt handelt es sich nicht. Das belegt auch die stattliche Anzahl Anwälte: Sieben Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger finden sich im Saal des Appellationsgerichts ein. Dazu kommen ein Vertreter der Staatsanwaltschaft und zwei weitere Verfahrensbeteiligte.
Es geht um die «Basel nazifrei»-Prozesse. Im November 2018 hatte die rechtsextreme Partei national orientierter Schweizer in Basel eine Kundgebung abgehalten. Zirka 2000 Personen versammelten sich zur Gegendemonstration. Es kam zu Ausschreitungen. Das Strafgericht Basel-Stadt hatte sich mit über 40 Verfahren gegen Gegendemonstranten zu befassen. Die Strafen in den bereits entschiedenen Fällen waren zum Teil sehr hart.
An der Anhörung im Juni soll unter anderem René Ernst (SP), 62, Präsident am Strafgericht Basel-Stadt, einvernommen werden. Ernst hatte im September 2020 ein hartes Urteil gegen eine junge Frau gefällt, die an der «Basel nazifrei»-Demonstration teilgenommen hatte: Acht Monate unbedingt – obwohl der Frau selbst keine aktive Gewalt vorgeworfen wurde und sie nicht vorbestraft war.
Verdacht der Absprache unter Richtern
Das Urteil wurde in verschiedenen Medien kritisiert. Ernst reagierte in einem Interview in der «Basler Zeitung» auf die Kritik. Pikant: Damals war erst ein Bruchteil der über 40 getrennt geführten Verfahren vor dem Strafgericht verhandelt worden. Ernst machte im Interview aber allgemeine Aussagen zum Verfahrenskomplex. Der Verdacht von Absprachen unter den zuständigen Richtern stand im Raum.
Die Verteidiger von Beschuldigten, deren Fälle damals noch nicht behandelt worden waren, machten die Befangenheit des Basler Strafgerichts geltend. Sie erhielten wenig später weitere Argumente, als ein E-Mail eines Richters des Basler Strafgerichts an seine Kollegen auftauchte. Der Richter zeigte sich erschreckt darüber, «dass es am Strafgericht Basel-Stadt anscheinend eine Absprache unter den Präsidien gegeben hat, mit linksextremen Demonstrantinnen eine gewisse Schiene zu fahren».
Das Appellationsgericht wies trotzdem verschiedene Ausstandsgesuche gegen Ernst und weitere Richter ab. Das Bundesgericht dagegen hiess im vergangenen Winter eine Beschwerde gegen diese Entscheide gut: Das Appellationsgericht müsse eine mögliche Befangenheit besser abklären, so das Bundesgericht. Das war der Hintergrund, vor welchem sich die Einvernahme von Anfang Juni abspielte.
Keine «bindenden Absprachen» gemacht
Ernst betritt den Saal, locker gekleidet im Polo-Shirt. Die erste Frage des vorsitzenden Richters Christian Hoenen betrifft Ernsts umstrittenes Interview in der «Basler Zeitung»: Wie es dazu gekommen sei? Das Interview sei eine Reaktion auf die Kritik an seinem Urteil und dem Strafgericht gewesen, sagt Ernst. «Ich sprach mit meinen Kollegen ab, ob ich das Interview geben soll. Mir war klar, dass es Wellen schlagen wird.»
Als es in der Befragung dann um mögliche Absprachen unter den Strafrichtern geht, sagt Ernst, dass es für die Richter eine Pflicht gebe, für eine einheitliche Rechtsprechung zu sorgen. Deshalb hätten sie sich über organisatorische, aber auch rechtliche Fragen ausgetauscht. «Wir trafen aber nie bindende Abmachungen.»
Im Lauf der Befragung reicht Ernst Protokolle ein – «von Besprechungen im Präsidium», wie er sagt. Andreas Noll, einer der anwesenden Anwälte, die Beschuldigte im «Basel nazifrei»-Komplex vertreten, stellt umgehend den Antrag, das Verfahren auszusetzen, damit sich die Anwälte die Protokolle in Ruhe ansehen können. Der Antrag wird abgewiesen. Doch es wird eine Pause zur Sichtung der Protokolle angesetzt.
Von den Protokollen gibt es zwei Versionen: Eine längere, ausführlichere und eine kürzere. Beide tragen die Überschrift «Interner Meinungsaustausch». Es handelt sich um Sitzungsprotokolle. Teilgenommen haben sechs Präsidentinnen und Präsidenten des Strafgerichts Basel-Stadt und der Protokollführer. Die längere Version ist im Bearbeitungsmodus abgefasst, einige Ausführungen sind unterstrichen, viele durchgestrichen. Behandelt werden sieben Traktanden. In einer Randnotiz ist einleitend von «Beschlüssen» die Rede.
«Da wurde quasi eine Urteilsberatung geführt»
Brisant ist die in einem Traktandum aufgeworfene Frage, ob für Betroffene, die nicht wegen versuchter einfacher Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand verurteilt werden, das Strafmass im Rahmen der Gewalt und Drohung «entsprechend zu erhöhen» sei. Die Haltung sämtlicher Anwesenden gemäss Protokoll: Ja.
Behandelt wird auch das Thema Geheimdienstinformationen, die für die vermeintliche Identifizierung von Beschuldigten ausschlaggebend waren (plädoyer 2/2023). Dabei diskutieren die Richter auch, wie allfällige Einwände der Anwälte widerlegt werden könnten.
Als nach der Unterbrechung die Einvernahme am Appellationsgericht wieder aufgenommen wird, scheint unter den Anwälten Fassungslosigkeit zu herrschen. Zwar wird deutlich, dass sie mit der Existenz solcher Protokolle ein Stück weit gerechnet haben.
Dennoch zeigt sich Noll «schockiert» über das, was er in den Protokollen gesehen hat. «Da wurde quasi eine Urteilsberatung geführt, ohne dass die Anwälte vorher angehört wurden.» Und Kollege Christian von Wartburg, der ebenfalls Beschuldigte in den «Basel nazifrei»-Verfahren vertritt, sagt, man habe es hier mit einem «Ausnahmefall» zu tun.
Edition aller Protokolle der Konferenz gefordert
Dann wird René Ernst mit der Sache konfrontiert. Ihm ist sichtlich unwohl. Noll und von Wartburg bemerken, dass in den Protokollen von «Beschlüssen» die Rede sei. Ernst beteuert erneut, dass die Absprachen unter den Richtern «nicht bindend waren». Und: «Die Formulierung ‹Beschlüsse› war idiotisch, ich nahm das nicht ernst. Aber wenn wir uns als Richter in solchen Verfahren nicht austauschen dürfen, wird es schwierig.»
Abschliessend werden die Fragen aufgeworfen, weshalb es Unterschiede zwischen der langen und der kurzen Protokollversion gibt und ob es Tonaufnahmen der richterlichen Besprechung gibt.
Beides kann Ernst nicht schlüssig beantworten. Der Vorsitzende sagt, dass der Entscheid über eine Befangenheit von Ernst und dem Strafgericht schriftlich ergehen werde. Dann ist die Einvernahme vorbei.
Rechtsanwalt Noll hat seither weitere Anträge gestellt. Unter anderem beantragt er, alle Protokolle der Präsidentenkonferenzen zwischen 2019 und 2021 seien zu edieren. Zudem fordert er die Edition des Audioprotokolls über den «internen Meinungsaustausch» vom 31. August 2020. Ein solches müsse es geben, da die schriftlichen Protokolle sehr detailliert seien. Auch sei die «lange Version» in elektronischer Form beizuziehen, sodass die angebrachten Korrekturen von den Verteidigern nachvollzogen werden können.