Das Bundesgericht geht in seiner Begründung sinngemäss davon aus, dass das Anwesenheitsrecht der Verteidigung bei forensisch-psychiatrischen Explorationsgesprächen der beschuldigten Person auch eine Frage der Teilnahmerechte von Verfahrensbteiligten im Sinne von Art. 147 der Strafprozessordnung (StPO) betrifft (Urteil 1B_522/2017 vom 4. Juli 2018).
Die Einschränkung des Anwesenheitsrechts der Verteidigung bei forensisch-psychiatrischen Explorationen betrifft aber vielmehr die Frage der Verteidigungsrechte1 und den Anspruch der beschuldigten Person bzw. des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör.2 Die beschuldigte Person ist berechtigt, in jedem Strafverfahren und auf jeder Verfahrensstufe einen Rechtsbeistand ihrer Wahl zu betrauen.3 Der Rechtsbeistand vertritt die beschuldigte Person nicht, sondern steht ihr unterstützend zur Seite.4 Der Rechtsbeistand ist weder am Verfahren «beteiligt» (Art. 105 Abs. 1 StPO) noch ist er Partei (Art. 104 StPO), weshalb ihm auch keine «Teilnahmerechte» zustehen oder gewährt werden können. Vielmehr nimmt er für die beschuldigte Person oder mit der beschuldigten Person die dieser, als dem eigentlichen Verfahrenssubjekt, zustehenden Verfahrensrechte wahr. Umso mehr gilt dies im Lichte von Art. 130 lit. b StPO für einen Fall von notwendiger Verteidigung.5
Der Verteidigung kommen somit die gleichen Rechte zu wie der beschuldigten Person.6 Deshalb ist es nur systemlogisch, dass die schweizerische Strafprozessordnung das Anwesenheitsrecht der Verteidigung bei forensisch-psychiatrischen Explorationen nicht ausdrücklich erwähnt. Dies lässt das Bundesgericht ausser Acht, wenn es erwägt, das Gesetz sehe keinen ausdrücklichen Anspruch der Verteidigung vor, die Begutachtung unmittelbar zu «kontrollieren» und zu ergänzen. Soweit das Bundesgericht für eine «ausnahmsweise Zulassung der Verteidigung beim Explorationsgespräch» im «Einzelfall stichhaltige besondere Gründe» verlangt, höhlt es den grundrechtlich verankerten Anspruch der beschuldigten Person auf ausreichende Verteidigung praktisch aus.
Die Frage des Anwesenheitsrechts der Verteidigung berührt auch nicht die Frage der Parteiöffentlichkeit und schon gar nicht die Befugnis des Sachverständigen zu selbständigen Erhebungen. Das Anwesenheitsrecht der Verteidigung, welches direkt an die Anwesenheit der beschuldigten Person anknüpft,7 führt demzufolge auch nicht zu einer «Öffnung» und Durchführung der Exploration «in Anwesenheit aller», wie das Bundesgericht mit Berufung auf das Gleichbehandlungsgebot befürchtet.
Strafprozessuale Grundsätze auch für Exploration
Soweit das Bundesgericht erwägt, dass es sich bei der fachlichen Exploration von Beschuldigten durch den psychiatrischen Gutachter nicht um Beweiserhebungen «durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte» handelt, greift dies zu kurz und lässt die praktischen Realbedingungen ausser Acht. Laut Art. 185 Abs. 5 StPO hat unter anderem die beschuldigte Person das Recht, ihre Aussage zu verweigern. Damit gilt auch im forensisch-psychiatrischen Explorationsgespräch der strafprozessuale «nemo tenetur»-Grundsatz und verdeutlicht, dass es sich bei psychiatrischen Explorationsgesprächen um eigentliche Personalbeweiserhebungen zu strafrechtserheblichen Tatsachen handelt, an denen strafprozessuale und letztlich strafrechtliche Rechtsfolgen anknüpfen.
Angesichts der besonderen Stellung der beschuldigten Person, ihres besonderen Schutzbedürfnisses und der einschneidenden Konsequenzen eines Strafverfahrens wird von einem Teil der neueren Lehre das Recht auf Anwesenheit der Verteidigung auch bei psychiatrischen Explorationsgesprächen bejaht.8 Donatsch betont ausdrücklich, dass die beschuldigte Person durch die Delegation der Einvernahmekompetenz an den Sachverständigen nicht schlechter gestellt werden soll als bei Befragungen durch die Strafbehörde.9
Verteidigungsrechte bei Beweiserhebung wahren
Die Anwesenheit des Rechtsbeistands bei Beweiserhebungen, insbesondere bei Einvernahmen und Explorationen mit der beschuldigten Person, ermöglicht es, den Entstehungsprozess des Gutachtens und damit auch die später im Gutachten enthaltenen Schlussfolgerungen auf ihre Stichhaltigkeit und Vollständigkeit hin zu überprüfen (Art. 189 StPO). Denn der Exploration der beschuldigten Person durch den Gutachter kommt im gesamten Strafverfahren praktisch die gleiche Stellung und Bedeutung zu wie den Einvernahmen der beschuldigten Person durch die Staatsanwaltschaft. Während aber bei letzteren sehr genau und konsequent auf die Einhaltung der Verteidigungsrechte bis hin zum Recht der Konfrontation selbst mit Opfern geachtet wird (dort allenfalls per Videosimultanübertragung), will die Staatsanwaltschaft diese rechtstaatliche Kontrollfunktion der Verteidigung bei der Exploration durch den Gutachter aushebeln.
Diese Haltung ermöglicht eine Befragung der beschuldigten Person durch den Gutachter in einer «Blackbox» und verletzt damit das Recht auf einen Rechtsbeistand, welcher den Gang der Befragung und damit die Entstehung des Gutachtens auf seine rechtsstaatliche Richtigkeit überwacht. Damit wird die Möglichkeit geschaffen, dass Aussagen oder Verhaltensweisen des Exploranden im Gutachten verzerrt und falsch wiedergegeben werden, was später weder die Verteidigung noch das Gericht kontrollieren, geschweige denn korrigieren können.
Gleiches gilt für nicht mehr rekonstruierbare Missverständnisse zwischen dem Gutachter und dem Exploranden. Die Verteidigung kann folglich einzig das Resultat des Experten – das Gutachten als Gesamtpaket – auf Fehler und innere Kohärenz überprüfen, nicht jedoch dessen Entstehungsprozess.10
Kontroll- und Schutzfunktion der Verteidigung
Die Interaktion zwischen der begutachtenden und der zu begutachtenden Person möglichst ohne äussere Einflussnahme ist im Strafverfahren sodann bereits gesetzlich gewährleistet. So stellt das Bundesgericht in seinem Entscheid 1B_404/2012 vom 22. Mai 2012 selbst klar, dass «während der Einvernahme» – und damit auch während des Explorationsgesprächs – keine vertraulichen Instruktionsgespräche stattfinden. Dies hat zur Folge, dass die Anwesenheit der Verteidigung den Gang des Begutachtungsgesprächs nicht stören kann und darf. Die Anwesenheit des Rechtsbeistands garantiert jedoch die Erfüllung der Kontroll- und Schutzfunktionen zugunsten der beschuldigten Person. Somit rechtfertigt sich der Ausschluss der Verteidigung gerade bei einer solchen einschneidenden Personalbeweiserhebung wie dem forensisch-psychiatrischen Begutachtungsgespräch nicht.
Inwiefern die blosse Anwesenheit der Verteidigung die «Wissenschaftlichkeit» der Exploration beeinflussen könnte, ist nicht ersichtlich und wird auch vom Bundesgericht nicht überzeugend dargelegt.11 Unter diesen Umständen ist es zwar zu begrüssen, wenn das Bundesgericht bestimmt, dass die Strafbehörden Äusserungen des Beschuldigten bei einem psychiatrischen Explorationsgespräch diesem nicht wie Beweisaussagen zum inkriminierten Sachverhalt im Verhör vorhalten dürfen (Art. 157 StPO). Es steht aber ausser Frage, dass solche Aussagen unter den praktischen Realbedingungen von den Gerichten zur Kenntnis genommen und in die Beweiswürdigung Eingang finden werden.
Die Anwesenheit der Verteidigung bei forensisch-psychiatrischen Explorationsgesprächen ist schliesslich auch deshalb von Bedeutung, weil es dem Sachrichter verwehrt bleibt, ohne Not vom Ergebnis eines bereits im Vorverfahren angeordneten Gutachtens abzuweichen. Der Justizförmigkeit des Entstehungsprozesses kommt mithin eine nicht mehr umkehrbare präjudizielle Bedeutung für den gesamten Gang und schliesslich Ausgang des Strafverfahrens zu.
Die Aufnahme der Explorationsgespräche und die Teilnahme der Verteidigung an Explorationsgesprächen erfüllen somit nichts weniger als die rechtsstaatliche Kontrollfunktion, welche es angesichts der immer grösseren Bedeutung psychiatrischer Erkenntnisse zu stärken und keineswegs zu schwächen oder auszuschalten gilt. Dies muss insbesondere zwingend dort gelten, wo Fragen zum Sachverhalt gestellt werden. Dem Gutachter wird es namentlich regelmässig nicht möglich sein, seine fachspezifischen Abklärungen strikte von den prozessualen Untersuchungshandlungen zu trennen.12 Während des Untersuchungsgesprächs kann und muss der Explorand oft auch Aussagen zum Tatgeschehen machen, die dann in der Folge in das Gutachten und somit in die Strafakten einfliessen.13
Fazit und Lösungsansatz – Videoaufzeichnung
Im Ergebnis verweigert das Bundesgericht ohne Not und nachvollziehbare Begründung den gestützt auf Art. 6 Ziffer 3 EMRK, Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 107 Abs. 1 lit. b und c, sowie Art. 127 ff., insbesondere Art. 130 StPO gewährleisteten Anspruch der beschuldigten Person auf Beizug und Anwesenheit eines Rechtsbeistands bei Beweiserhebungen.
Licht in die vom Bundesgericht geschaffene Dunkelkammer könnte eine umfassende Videoaufzeichnung der forensisch-psychiatrischen Explorationsgespräche bringen. Dann hätte der Richter die Möglichkeit, bei Bedarf die Aufnahme der originären Aussage und die Befragungssituation zu überprüfen. Die gesetzliche Grundlage hierfür besteht bereits (Art. 76 Abs. 4 StPO in Verbindung mit Art. 184 StPO).
Kenad Melunovic Marini, Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Strafrecht, Aarau/Zürich
Vgl. Art. 127 ff. StPO, hier
insb. Art. 130 StPO.
Vgl. Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO;
Art. 107 und 108 StPO.
Vgl. Art. 129 Abs. 1 StPO; BGE 139 IV 113 E. 4.
Vgl. Viktor Lieber, «Art. 128», in: Andreas Donatsch / Thomas Hansjakob / Viktor Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Auflage, Zürich 2014; vgl. Niklaus Schmid, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich/St. Gallen 2013, vgl. da vor allem: Rz. 718, S. 283; Rz. 726, S. 286 f. und insb. Rz. 756 ff., S 301.
Lieber, a.a.O., N 1 ff. zu Art. 130.
Wolfgang Wohlers, «Die Pflicht
der Verteidigung zur Wahrung
der Interessen der beschuldigten Person», in: ZStrR, Band 130 (2012), S. 55 ff.; vgl. Hans Vest /
Salome Horber, «Art. 168–176»,
in: Alexander Marcel Niggli /
Marianne Heer / Hans Wiprächtiger (Hrsg.), Basler Kommentar zur Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Auflage, Basel 2014, N 25
zu Art. 107; vgl. Mettler, ebenda N 7 und N 8 zu Art. 147.
Lieber, a.a.O., N 2 zu Art. 128; Schmid, a.a.O., S. 301.
Vgl. insb. Alain Saner, «Das Teilnahmerecht der Verteidigung bei der psychiatrischen Exploration der beschuldigten Person», in: ZStrR, Band 132 (2014 ), S. 121 ff.; vgl. Stephan Bernard / Rafael Studer, «Psychiatrische Gutachter ohne strafprozessuale Kontrolle», in ZStrR, Band 133 (2015), S. 76 ff.; Niklaus Oberholzer, «Feststellung des Sachverhalts im Zusammenhang mit der Begutachtung aus Perspektive der Justiz», in: Marianne Heer /
Elmar Habermeyer / Stephan Bernard (Hrsg.), Feststellung des Sachverhalts im Zusammenhang mit der Begutachtung, Forum Justiz & Psychiatrie, Bern 2016, S. 43 ff.
Andreas Donatsch, «Art. 185», in: Andreas Donatsch / Thomas Hansjakob / Viktor Lieber (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Auflage, Zürich 2014, N 38.
Vgl. Stephan Bernard / Anja Martina Binder, «Neue StPO: Nach wie vor keine Kontrolle der sogenannten Erhebung bei [psychiatrischen] Begutachtungen?», in: Anwaltsrevue 1/2011, S. 13.
Vgl. Bernard / Studer, a.a.O.,
S. 76 ff und S. 86 f.
Matthias Brunner, «Psychiatrische Gutachter agieren im rechtsfreien Raum», in: plädoyer 3/2005, S. 38 ff.
Vgl. Marianne Heer, Psychiatrische Gutachten im Strafverfahren,
eine Herausforderung für Gerichte, in: Liber amicorum für Marcel Alexander Niggli, Basel 2010, S. 114.