Rumäniens Regierung muss sich heftige Vorwürfe gefallen lassen. Kritiker beschuldigen die sozialdemokratisch-liberale Regierungskoalition, sie baue den Rechtsstaat in antidemokratischer Weise um. In der EU-Kommission und im EU-Parlament gab es bereits Erwägungen, wegen Rechtsstaatsverletzungen ein Artikel-7-Verfahren zu eröffnen – ähnlich wie im Fall von Polen und Ungarn.
Stein des Anstosses ist eine grossangelegte Justizreform der seit Ende 2016 amtierenden Regierungskoalition. Dabei geht es um Hunderte von Änderungen in der Strafgesetzgebung und der Strafprozessordnung sowie um eine Neuorganisierung des Justizwesens. Die Regierung begründet diese damit, dass es in den vergangenen Jahren einen politisch motivierten Missbrauch der Strafgesetze gegeben habe.
Die Kontroversen um diese seit zwei Jahren laufende Justizreform brachten Rumänien die längste Periode politischer und rechtlicher Instabilität seit dem EU-Beitritt 2007. Sie führten zum Rücktritt von drei Ministerpräsidenten und zu zahlreichen Regierungsumbildungen – zuletzt Ende April.
Die Reformen lösten auch massive gesellschaftliche Proteste aus, darunter Anfang 2017 einige der grössten Demonstrationen seit dem Sturz der Ceausescu-Diktatur im Dezember 1989. In den vergangenen Monaten protestierten Tausende von Richtern, Staatsanwälten und anderen Justizangestellten mehrfach mit streikartigen «Dienst-nach-Vorschrift»-Aktionen. Ausserdem entspann sich zwischen Staatspräsident Klaus Johannis und der Regierungsmehrheit ein Machtkampf, der seit längerem fast täglich mit harten gegenseitigen Beschimpfungen oder zähem Ringen vor den höchsten Instanzen der Justiz geführt wird.
Justizreformen waren stets heftig umstritten
In den westlichen Medien herrscht eine Gut-und-Böse-Darstellung vor. Ihr Tenor: Die Justizreformen der Regierung seien allesamt rechtsstaatswidrig und würden der persönlichen Dekriminalisierung ihrer Initiatoren dienen. Staatspräsident Klaus Johannis, die Parlamentsopposition und die Zivilgesellschaft erscheinen in dieser Darstellung wiederum als Instanzen, die den Rechtsstaat in Rumänien schützen.
Doch die Lage ist komplexer. Ein Blick auf die Details zeigt klar: Justizreformen gehören im postkommunistischen Rumänien seit jeher zu den am heissesten diskutierten politischen Projekten.
Die erste grosse Justizreform Rumäniens fand ab 2004 statt. Sie kam zustande, weil sie eine Vorbedingung für die EU-Integration des Landes war. Der Schwerpunkt lag dabei auf der Schaffung einer unabhängigen Justiz und dem Kampf gegen Korruption auf höchster Ebene. Die wichtigsten Punkte:
Durch mehrere Gesetze wurden ab 2004 direkte politische Eingriffsmöglichkeiten in die personelle Besetzung und Arbeit von Staatsanwaltschaft und Gerichtsbarkeit weitgehend abgeschafft und eine echte Gewaltenteilung eingeführt.
Hohe Justizbeamte konnten Verfahren nicht mehr an neue Gerichte verlegen oder die Zusammensetzung von Gerichten beeinflussen.
Der Justizgeheimdienst wurde aufgelöst und die Rolle des Obersten Rates der Magistratur (CSM) gestärkt. Der CSM ist eine Art Aufsichtsgremium und Garant der Unabhängigkeit der Justiz.
Unter dem Namen DNA (Directia Nationala Anticoruptie) wurde eine spezielle Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft gegründet. Sie sollte Korruptionsfälle von gewählten Politikern und Beamten verfolgen und vor Gericht bringen.
Diese Justizreform zog sich über ein Jahrzehnt hin. Insbesondere die Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft schien zunächst politisch beeinflusst zu sein. Unter dem ehemaligen Staatspräsidenten Traian Basescu entstand häufig der Eindruck, sie sei ein Instrument, um politische Gegner zu diskreditieren, während manche dem Präsidenten nahestehende Politiker oder Geschäftsleute keine Ermittlungen befürchten mussten. Auch steht bis heute der Verdacht im Raum, dass jahrelang bestimmte Prozesse gegen hochrangige Politiker auf Bestellung stattfanden oder manche Urteile ungerechtfertigt hart ausfielen.
Ein Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung der Justiz war die rechtskräftige Verurteilung des ehemaligen Ministerpräsidenten Adrian Nastase 2012 wegen Wahlfälschung. Nastase war jahrelang das rumänische Symbol für politische Korruption schlechthin. Ein weiterer Wendepunkt war die Ernennung der Staatsanwältin Laura Codruta Kövesi zur Chefin der Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft im Mai 2013. Seit ihrem Amtsantritt wurde der Kampf gegen Korruption durch die DNA spürbar unparteiischer geführt. Unterstützt wurde das auch vom Ende 2014 gewählten Staatspräsidenten Klaus Johannis.
Von Mai 2013 bis zu Kövesis erzwungener Abberufung im Juli 2018 hatte die Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft in Tausenden Fällen ermittelt und unter anderem 68 hochrangige Politiker und hohe Beamte vor Gericht gebracht, darunter 14 ehemalige oder amtierende Minister und 53 Parlamentarier. Rechtskräftig verurteilt wurden in dieser Zeit 37 von ihnen.
Grosser Unmut über die Justiz in der Bevölkerung
Das Vorgehen der DNA hatte häufig den Charakter einer Reality-Show: Verdächtige wurden vor laufenden Kameras verhaftet, mitunter übertrugen TV-Sender live. In einem Gespräch im Frühjahr 2016 rechtfertigte Kövesi diese Praxis. Die Persönlichkeitsrechte Betroffener würden nicht verletzt, zugleich spüre die Öffentlichkeit, dass niemand mehr unantastbar sei. Die Arbeit der DNA führte in dieser Periode in der Öffentlichkeit zu einem spektakulären Anstieg des Vertrauens in die Justiz.
Dazu muss man sich den generellen Unmut der Gesellschaft über die Justiz verdeutlichen: Im postkommunistischen Rumänien hatten sich viele Politiker, Beamte und Geschäftsleute nahezu zwei Jahrzehnte lang auf kriminelle Weise am öffentlichen Vermögen bereichert – meistens ohne jegliche juristischen Konsequenzen. Zur gleichen Zeit hatten in den postkommunistischen Wirren Millionen von Rumänen ihre Arbeit oder ihr erspartes Vermögen verloren und mussten hart um ihre Existenz kämpfen. Vor diesem Hintergrund wurde das «Ende der Unantastbarkeit» in der Öffentlichkeit enthusiastisch begrüsst.
Die politische Elite reagierte auf diese Entwicklung ab 2016 mit Vorhaben zur gesetzlichen Abschwächung des Kampfs gegen Korruption. Nach einem ersten Anlauf im Frühjahr 2016 war es die Ende 2016 gewählte Regierungsmehrheit aus Sozialdemokraten (PSD) und Liberalen (ALDE), die einen Plan zur umfassenden Reform der Strafgesetzgebung und der Strafprozessordnung vorlegte.
Als Anlass für die Justizreform konnte sich die neue Regierungskoalition unter anderem auf mehrere Entscheidungen des rumänischen Verfassungsgerichts sowie auf EU-Vorschriften und Empfehlungen des Europarates berufen. So forderte die EU Rumänien auf, die Persönlichkeitsrechte von Beschuldigten und Zeugen zu stärken, sprich, die EU-Richtlinie 2016/343 zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung durchzusetzen.
Die Koalition nutzte diese Mahnungen, um ein umfangreiches Paket neuer Gesetze vorzulegen, die das Justizwesen erneut umorganisieren sollten. Die wichtigsten Neuregelungen:
Der Generalstaatsanwalt sowie der Leiter der Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft DNA und der Behörde zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens und des Terrorismus können vom Justizminister ernannt und abberufen werden, Vetorechte des Staatspräsidenten und des Obersten Rates der Magistratur werden abgeschafft.
Neuschaffung einer «Sonderabteilung zur Untersuchung von Justizverbrechen», obwohl das Gesetz bereits Möglichkeiten zur Kontrolle von Richtern und Staatsanwälten vorsah.
Ermittlungen können von übergeordneten Staatsanwälten beendet werden, wenn sie «nicht legal oder unbegründet» sind.
Staatsanwälte und Richter dürfen sich nicht mehr «verleumderisch» über Exekutive und Legislative äussern.
Verjährungsfristen wurden verringert, die Bedingungen zur Wertung von mildernden Umständen in Strafprozessen sowie über vorzeitige Haftentlassung ausgeweitet.
Schmiergeldzahlungen bleiben straffrei, wenn der Betreffende innerhalb einer bestimmten Frist Selbstanzeige erstattet.
In der rumänischen Öffentlichkeit steht bei dieser Justizreform vor allem PSD-Chef Liviu Dragnea im Zentrum. Er gilt als faktischer Herrscher des Landes, obwohl er kein Regierungsamt innehat. Dragnea ist wegen Wahlmanipulation rechtskräftig zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden. Infolge noch laufender Verfahren – unter anderem wegen Amtsmissbrauchs und Veruntreuung von EU-Geldern – drohen ihm mehrjährige Gefängnisstrafen.
Der Vorwurf: Einige Bestimmungen der Justizreform seien speziell auf Dragnea zugeschnitten. So wurden etwa im Sommer vergangenen Jahres die Regeln für das Auswahlverfahren von Richtersenaten am Obersten Kassations- und Justizgerichtshof geändert. In der Folge erklärte das Verfassungsgericht die Zusammensetzung mehrerer Kammern für rechtswidrig. Darunter auch eine Kammer, vor der ein Berufungsverfahren Liviu Dragneas verhandelt werden sollte. Bei diesem Verfahren geht es um Anstiftung zum Amtsmissbrauch. Erstinstanzlich wurde Dragnea im vergangenen Jahr zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Nun wird sich das Berufungsverfahren verzögern, mit etwas Glück für Dragnea findet es vor einer Abteilung statt, die als weniger streng gilt als die ursprüngliche.
Schwere Vorwürfe an den Staatspräsidenten
Auch Parteifreunde von Dragnea, die bis vor kurzem Haftstrafen im Gefängnis verbüssten, profitierten von der Gesetzesänderung: Kurz vor Weihnachten 2018 musste der Oberste Justizgerichtshof die vorläufige Freilassung zweier ehemaliger PSD-Minister anordnen, weil sie von den rechtswidrig zusammengesetzten Kammern verurteilt worden waren.
Die Regierungskoalition ihrerseits begründet den Reformbedarf der Justiz mit schweren Vorwürfen: In Rumänien habe sich in den vergangenen Jahren ein «paralleler und illegitimer Staat» etabliert, der versuche, der gewählten Regierung die politische Macht zu entreissen. Liviu Dragnea behauptet, dieser «Parallelstaat» werde durch den Staatspräsidenten Klaus Johannis angeführt und gedeckt. Weitere Hautptakteure dieses Parallelstaats seien der Inlandgeheimdienst und die Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft DNA. Laut Dragnea werden wichtige Institutionen und Behörden durch den Inlandgemeindienst gesteuert. Ermittler, Staatsanwälte und Richter gingen missbräuchlich vor, um politische Gegner aus dem Weg zu räumen. Ausserdem würde politischer Druck auf Richter und Staatsanwälte ausgeübt.
Dragnea stützt seine Behauptungen in erster Linie auf die Existenz von rund 70 geheimen Kooperationsprotokollen zwischen dem Inlandgeheimdienst und zahlreichen Justizbehörden sowie Gerichten. Die Existenz dieser Protokolle kam im Frühjahr 2018 ans Tageslicht. Inzwischen wurden sie vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft. Das wichtigste Kooperationsprotokoll schloss der Geheimdienst mit der Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft ab, ein Protokoll gab es aber auch mit dem Obersten Kassations- und Justizgerichtshof.
Auf der Basis dieser Kooperation hörte der Inlandgeheimdienst die Elite aus Politik und Wirtschaft im Auftrag der Anti-Korruptionsstaatsanwaltschaft jahrelang flächendeckend ab. Von 2005 bis 2014 beantragte der Inlandgeheimdienst nach Angaben aus den Tätigkeitsberichten 250 000 Abhörmandate. Anfang 2016 erklärte das Verfassungsgericht diese Praxis für rechtswidrig.
Experten: Justiz war in den letzten Jahren effizient
Wie sehen Praktiker die Justizreform? plädoyer hat mit zwei Experten gesprochen – dem prominenten rumänischen Richter Cristi Danilet aus der siebenbürgischen Stadt Cluj sowie einem hochrangigen Staatsanwalt, der ungenannt bleiben möchte. Für beide ist klar, dass die jetzige Justizreform in erster Linie das Ziel verfolgt, den Kampf gegen die Korruption abzuschwächen, da die rumänische Justiz in den vergangenen Jahren sehr effizient dabei gewesen sei, korrupte Politiker und Beamte zu verurteilen.
Für Danilet ist der teilweise repressive Charakter der Anti-Korruptionsjustiz gerechtfertigt. Er verteidigt auch die Zusammenarbeit der Anti-Korruptionsbehörde mit dem Inlandgeheimdienst. Er sagt: «Die Korruption ist endemisch, deshalb muss auch die Justiz mit entsprechenden Mitteln antworten.» Danilet kritisiert gleichzeitig, dass im Bereich der Prävention von Korruption zu wenig getan worden sei. So erkläre sich auch, dass trotz einer Rekordzahl an Verurteilungen in den letzten Jahren die Korruption nicht spürbar gesunken sei.
Der Staatsanwalt sieht die fachliche Eignung mancher Staatsanwälte der Anti-Korruptionsbehörde als problematisch an. Obwohl es um die komplexesten Ermittlungen gehe, könnten dort sogar Berufsanfänger beginnen. Das Auswahlverfahren sollte hier geändert werden. Übereinstimmend bezeichnen sowohl Danilet als auch der Staatsanwalt die neuen Ernennungsbefugnisse des Justizministers und die letztes Jahr eingeführte «Sonderabteilung zur Untersuchung von Justizverbrechen» als schwerwiegendste Massnahmen der Justizreform. Die Sonderabteilung bedeute eine Rückkehr zur Zeit vor 2004, als der Justizgeheimdienst ein Instrument des politischen Drucks auf Richter und Staatsanwälte war.
Die rumänische Politologin Alina Mungiu-Pippidi ist eine der führenden europäischen Anti-Korruptionsforscherinnen. Sie zieht in einem aktuellen Debattenbeitrag eine kritische Bilanz: «Der rumänischen Anti-Korruptionspolitik ist es nicht gelungen, einen leistungsorientierten staatlichen und öffentlichen Dienst zu schaffen. Dieser ist weiterhin stark politisiert und häufig inkompetent. Die rumänischen Staatsanwälte für Korruptionsbekämpfung haben daran gearbeitet, die Institutionen von Korruption zu säubern. In Ermangelung substanzieller Reformen in den Institutionen konnten sie allein die Korruption jedoch nicht von der Norm zur Ausnahme machen. Nicht einmal die Justiz selbst wurde während der Korruptionsbekämpfung ordnungsgemäss reformiert, geschweige denn der Rest des Staates.»