Seit Januar 2014 werden im Bundeszentrum «Juch» und dem dazugehörigen Verfahrenszentrum in Zürich beschleunigte Asylverfahren erprobt. Ein von den Demokratischen Juristinnen und Juristen Schweiz (DJS) bei Martina Caroni, Professorin für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Luzern, in Auftrag gegebenes Gutachten stellt die Verfassungsmässigkeit mehrerer Aspekte des Testverfahrens in Frage – insbesondere hinsichtlich der Garantie eines fairen Verfahrens.1 Brisant ist dies auch vor dem Hintergrund der in der Herbstsession 2015 beschlossenen Überführung der Testphasenverordnung – in nochmals verschärfter Form – in das Asylgesetz.
Sonderrecht für Schutzsuchende
Mit einem beispiellosen Zug hat die Bundesversammlung am 28. September 2012 in einem dringlichen Bundesgesetz beschlossen, in Art. 112b AsylG dem Bundesrat die Kompetenz zu übertragen, zur Beurteilung neuer Verfahrensabläufe die Verfahrensordnung zum Asylrecht auf Verordnungsstufe zu regeln und zu diesem Zweck vom AsylG und AuG abzuweichen.2 Das erklärte Ziel hinter der Testphase ist eine Beschleunigung der Verfahrensabläufe, zweifellos ein berechtigtes Anliegen, dauerten Asylverfahren im Durchschnitt doch über 400 Tage.
Als Kernstück der Vorlage wurde das erstinstanzliche Asylverfahren in knappen Verfahrensschritten «getaktet» und die Beschwerdefrist um zwei Drittel gekürzt. Dieses beschleunigte Verfahren kann nur noch in Ausnahmefällen verlängert werden. Im Gegenzug soll diese erhebliche Verschlechterung der Rechtsstellung der Asylsuchenden insbesondere durch eine kostenlose Rechtsvertretung und Beratung kompensiert werden. Das beschleunigte Verfahren stiess verschiedentlich auf Kritik.3
Befürchtet wurde unter anderem eine Ökonomisierung des Asylverfahrens, die Menschen zu Objekten mache. Die Wortwahl «Taktung» sei kein rhetorisches Missgeschick, sondern wohlwissentlich gewählt: Taktung bezeichnet einen Arbeitsabschnitt bei Fliessbandarbeit oder in der Automation.4
Bundeszentrum als Versuchslabor
Seit Januar 2014 werden in Zürich in einem vom Staatssekretariat für Migration (SEM) geführten Bundeszentrum die zukünftigen Asylverfahren getestet. Nach Zufallsprinzip werden Asylsuchende dem Zentrum zugeteilt, wo sie während der Dauer des Verfahrens untergebracht sind. Im Februar 2015 zog das SEM mit der Veröffentlichung der Resultate der externen Evaluationen eine positive Zwischenbilanz und hielt fest, dass die Beschleunigung der Verfahren keine negativen Auswirkungen auf die Qualität der Entscheide habe.5
Zu einem andern Schluss kommt das umfangreiche Gutachten von Prof. Martina Caroni und Nicole Scheiber, das die DJS im November 2015 veröffentlichen. Die rund 70 Seiten starke Untersuchung befasst sich schwerpunktmässig mit der Frage, ob die massive Verkürzung der Verfahrensfristen mit der Garantie eines fairen Verfahrens vereinbar ist und ob der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsvertretung und Beratung diese Einschränkung der Verfahrensrechte auszugleichen vermag. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, dass Partei dieses Verfahrens oftmals Personen sind, die grosse psychische und physische Belastungen hinter sich haben, in der Schweiz vor einer sprachlichen Barriere stehen und nicht mit der schweizerischen Rechtsordnung vertraut sind.
Kurze Frist bis zum Entscheid
Direkt nach der Zuteilung beginnt die maximal 21 Tage dauernde Vorbereitungsphase – für sogenannte Dublin-Fälle beträgt diese maximal 10 Tage. In dieser Zeit erhebt das SEM die Personalien, erstellt Fingerabdruckbogen, Fotografien, Altersgutachten, prüft Beweismittel sowie Reise- und Identitätspapiere und führt eine Erstbefragung durch. Darauf folgt das beschleunigte acht- bis zehntägige – gemäss Art. 37 Abs. 2 des verabschiedeten AsylG nur noch achttägige – Hauptverfahren mit der Anhörung zu den Asylgründen. Eine Verlängerung um ein paar Tage ist nur beim Vorliegen triftiger Gründe möglich.
Sofern das SEM nicht beschliesst, den Fall in ein erweitertes Verfahren zuzuteilen, muss in dieser kurzen Frist vom SEM ein begründeter Entscheidentwurf verfasst, der Rechtsvertretung zur Stellungnahme vorgelegt und schliesslich ein definitiver Entscheid gefällt werden. Die zugeteilte Rechtsvertretung kann beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde führen, sofern sie nicht unwillig («nicht gewillt», Art. 25 Abs. 4 TestV; Art. 102h Abs. 4 revidiertes AsylG) ist und das Mandat wegen Aussichtslosigkeit niederlegt.
Keine wirksame Rechtsvertretung
In der dreiwöchigen Vorbereitungsphase müssen alle notwendigen Vorabklärungen (Aktenstudium, Übersetzungen, Beweismittelbeschaffung, Studium von Länderinformationen etc.) getroffen werden. Das Gutachten – wie auch die Evaluationsberichte und das Bundesverwaltungsgericht – erkennt hierin erhebliche Mängel, da innerhalb der kurzen Verfahrensfristen die Rechtsvertretung ihre Aufgaben «nicht in jedem Fall wirksam wahrnehmen kann».6
Hinsichtlich des eigentlichen Asylverfahrens bezeichnet es das Gutachten als «nur schwer vorstellbar», dass das SEM seiner Untersuchungspflicht nachkommen und in den acht bis zehn Tagen dem Anspruch der betroffenen Person auf rechtliches Gehör entsprechen kann. Verwiesen wird auf ein Urteil des BVGer, welches die nach Anhörung verbleibenden sieben Tage zur Beschaffung von Unterlagen aus dem Heimatland hinsichtlich des Untersuchungsgrundsatzes nach Art. 12 VwVG als nicht genügend erachtete (BVGer E‐1917/2014 vom 21. Mai 2014, E. 8.). Diese Feststellung, so das Gutachten, «ist wohl auf die Mehrheit der in der Testphase behandelten Asylverfahren übertragbar».7
In verschiedenen anderen Urteilen erkennt das BVGer eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, indem das SEM den rechtserheblichen Sachverhalt nur unvollständig erstellt habe.8 Die Gutachterinnen bezweifeln weiter, dass eine hinreichende Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumenten und das Verfassen einer genügenden Begründung innerhalb dieser kurzen Behandlungszeit überhaupt möglich ist.9 Nicht anders verhalte es sich auf der Seite der Rechtsvertretung, die «ihre Aufgaben in so kurzer Zeit gar nicht in einer Weise wahrnehmen kann, dass sie als effektiv und wirksam qualifiziert werden kann».10 Dass etwa für die Stellungnahme zum Entscheidentwurf lediglich 24 Stunden zur Verfügung stehen, sei eine Einschränkung, die mit einer effektiven und wirksamen Rechtsvertretung nicht in Einklang zu bringen sei.
Dass die Zustellung von Verfügungen – entgegen der verwaltungsrechtlichen Regel – zudem nicht an die asylsuchende Person oder ihre Rechtsvertretung erfolgt, sondern durch Übergabe an die mit der Erbringung der unentgeltlichen Rechtsvertretung beauftragte Leistungserbringerin – eine Bietergemeinschaft, die u.a. die Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not (RBS BE) umfasst –, bezeichnet das Gutachten als eine Überwälzung der Verantwortung, die «rechtsstaatlich nicht vertretbar» sei.11
Behinderung des Zugangs zum Gericht
Hinsichtlich der zehntägigen Beschwerdefrist12 stellt sich die Frage, ob der verfassungsmässige Anspruch auf effektiven Zugang zu einem Gericht (Art. 29a BV) in wirksamer Weise gewahrt ist. Insbesondere mit Blick auf die besonderen Umstände und Vulnerabilität der Asylsuchenden sowie die Tatsache, dass Asylsuchende oftmals nicht in der Lage sind, selbständig die notwendigen rechtlichen Schritte vorzunehmen, erachtet das Gutachten die kurze Frist als schwerwiegende Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Interessen der Asylsuchenden, die kaum durch Gewährleistung eines Anspruchs auf unentgeltliche Beratung und Rechtsvertretung aufgewogen werden könne.13 Die Frist sei als «unzumutbares Hindernis des Zugangs zu einem Gericht und als Verletzung der Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV sowie des Verbots des überspitzten Formalismus nach Art. 29 Abs. 1 BV zu qualifizieren».14 Vor diesem Hintergrund ist zweifelhaft, ob die tiefe Beschwerdequote und der relative Beschwerdeerfolg als Hinweis gewertet werden können, dass Beschwerden dank dem Rechtsschutz gezielter geführt werden15 oder dies nicht ebenso Ergebnis des beschnittenen Rechtsschutzes sein könnte.
Bedenklicherweise wurde diese Frist im Rahmen der Überführung ins AsylG sogar noch auf sieben Tage gekürzt (Art. 108 Abs. 1 revidiertes AsylG). Es ist offensichtlich, dass die wenigen Tage, die durch die Verkürzung der Beschwerdefrist gewonnen werden, einen äusserst geringen Beitrag zu einer Beschleunigung der Verfahren ausmachen. Das Verfahren selbst hat sich um durchschnittlich 259 Tage verkürzt.16 Dies wirft die Frage auf, ob die Beschränkung des Rechtsweges nicht doch eigentliches Motiv der Revision ist, um die Schweiz für Flüchtlinge unattraktiv zu machen.
Fehlende Unabhängigkeit
Der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung nach Art. 29 BV und Art. 13 EMRK ist nur dann rechtsgenügend erfüllt, wenn Beratung und Rechtsvertretung unabhängig von anderen Akteuren agieren können.17 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Rechtsvertretung ausdrücklich im Rahmen der Berufsregeln gemäss BGFA zu erfolgen hat.18 Das Gutachten stellt diese Unabhängigkeit in mehrfacher Hinsicht in Frage: Das SEM hat gestützt auf die Vereinbarung mit der Leistungserbringerin die Kompetenz zum Ersatz der für die Beratung und Rechtsvertretung eingesetzten Personen. Somit hat das SEM als Beschwerdegegnerin der asylsuchenden Person eine Letztentscheidungsbefugnis in Bezug auf personelle Entscheide der Rechtsvertretung, was mit den «Anforderungen, die an eine unabhängige Beratung und Rechtsvertretung gestellt werden, nicht zu vereinbaren» ist.19
Scharf kritisieren die Gutachterinnen auch die Möglichkeit der Rechtsvertretung selbst, das Mandatsverhältnis wegen Aussichtslosigkeit einer Beschwerde in einem autonomen, nicht anfechtbaren Entscheid20 zu beendigen (Art. 25 Abs. 4 TestV). Damit würde eine Aufgabe, die nach verfassungsmässigem Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung nach Art. 29 Abs. 3 BV dem Bundesverwaltungsgericht zukommen würde, auf die Rechtsvertretung übertragen, was «nicht mit der Stellung der Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter als Interessenvertretung der asylsuchenden Personen vereinbar» sei.21
Die Frage, ob eine solche Mandatsniederlegung nicht generell als Niederlegung zur Unzeit zu qualifizieren ist, sei nicht unberechtigt.22 Ferner hält das Gutachten insbesondere die pauschale Entschädigung der Vertretungstätigkeit «ohne Berücksichtigung der getätigten Verfahrensschritte» als mit dem Grundsatz der Unabhängigkeit unvereinbar.23
Problematisiert wird ausserdem, dass aus organisatorischen Gründen in mehr als der Hälfte der Fälle mindestens einmal ein Handwechsel vorgenommen wird. Das heisst, mehrere Rechtsvertreter teilen sich ein Mandat, zu diesem Zweck wurden ein Online-Journal geschaffen und «Zweierteams von RV gebildet, die zusammen jeden Arbeitstag der Woche abdecken und sich über die Fälle gegenseitig auf dem Laufenden halten».24 Das Gutachten bemängelt zu Recht, dass dadurch das – in einem Vertretungsverhältnis unabdingbare – Vertrauensverhältnis stark erschüttert oder gar zerstört werden kann.25 Auch an der räumlichen Unabhängigkeit müsse gezweifelt werden – aufgrund der Nähe der Mitarbeitenden von Beratung und Rechtsvertretung zu jenen des SEM, die sich u.a. die Cafeteria teilen und sich untereinander informell austauschen.26
Verfahren weiter prekarisiert
In der Herbstsession 2015 wurde dieses Testverfahren ins AsylG überführt – bevor überhaupt eine definitive Evaluation vorlag. Die Resultate der Zwischenberichte wurden – soweit ersichtlich – nicht berücksichtigt, im Gegenteil wurde gerade bei besonders kritischen Punkten das Verfahren weiter prekarisiert.
Dass einzig von rechtspopulistischer Seite Kritik an der Asylreform geübt wird («Gratisanwälte»), mag ein Zeichen politischer Ohnmacht und juristischer Hilflosigkeit sein. Es darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die «Gratisanwälte» als Kompensation der kurzen Frist nichts Geringeres als den Zugang zum Recht und ein justizförmiges Verfahren wahren sollen. Es ist zu hoffen, dass sie einzig diesem Zwecke dienen und ihr Mandat niederlegen werden, wenn dies nicht mehr möglich ist. Andernfalls werden sie zu einem blossen Feigenblatt inszenierter Rechtsstaatlichkeit.
Melanie Aebli
Juristin, Geschäftsführerin Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz
Markus Husmann
Jurist, Diplomassistent Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Universität Freiburg i.Ue.