Basel-Stadt streitet seit über zwei Jahren über den Umgang mit der Bettelei. Es ist eine Diskussion, die zuerst politisch, später juristisch geführt wurde und die Bühne der Lokalpolitik längst verlassen hat. Inzwischen beschäftigt die Basler «Betteldebatte» das Bundesgericht in Lausanne. Und es ist nicht auszuschliessen, dass sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg landen wird.
Die Diskussion um den richtigen Umgang mit der Bettelei begann in Basel-Stadt im Sommer 2020. Damals trat ein neues Übertretungsstrafgesetz in Kraft. Dieses hob das generelle Bettelverbot im Kanton auf. Bestraft werden konnte fortan nur noch, wer andere zum Betteln schickte oder als Mitglied einer Bande bettelte.
Behörden und einige Lokalpolitiker schlugen Alarm. Die Kantonspolizei verzeichnete einen «markanten Anstieg» von durchreisenden Bettlern sowie mehrere Nachtlager in der Stadt. Der damalige FDP-Regierungsrat Baschi Dürr sprach von einer «massiven Sogwirkung» und ausgebuchten Flügen von Osteuropa nach Basel. Und SVP-Grossrat Joël Thüring forderte mit einer Motion die Wiedereinführung des allgemeinen Bettelverbotes und argumentierte mit «mutmasslich organisierten Bettelbanden», welche die Stadt «überrennen» würden.
Dann platzte ein wegweisender Entscheid aus Strassburg mitten in die erregt geführte Debatte. Eine junge Frau aus Rumänien war vor rund zehn Jahren in Genf wegen Bettelns zu einer Busse von 500 Franken verurteilt worden. Da sie diese nicht bezahlte, wurde die Busse in eine fünftägige Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt.
Die Betroffene wehrte sich dagegen bis vor Bundesgericht – ohne Erfolg. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kippte jedoch im Januar 2021 das bundesgerichtliche Verdikt im Entscheid Lacatus gegen die Schweiz: Die Bestrafung verletze das Recht auf Privatleben nach Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Zu diesem gehöre auch das Recht, andere Menschen öffentlich um finanzielle Hilfe zu bitten.
Eine Reglementierung der Bettelei könne unter Umständen zwar gerechtfertigt sein, etwa wenn es um aggressive, aufdringliche Formen des Bettelns gehe. Ein allgemeines, pauschales Bettelverbot, das auch das rein passive Betteln verbiete, verunmögliche jedoch eine Abwägung der Interessen, sei unverhältnismässig und verstosse gegen die Menschenrechtskonvention.
Fünfmeterradius soll Bettler fernhalten
Das Urteil aus Strassburg hatte sofort Auswirkungen auf Basel-Stadt: Die Wiedereinführung eines allgemeinen Bettelverbots war keine Option mehr.
Im überarbeiteten Übertretungsstrafgesetz sah der Regierungsrat aber zahlreiche Restriktionen sowie ein so genanntes «ausgedehntes Bettelverbot» vor: Nicht nur wird jede «organisierte Art und Weise» des Bettelns mit Busse bestraft. Das Betteln ist auch in einem Fünfmeterradius im Umfeld von mehreren Lokalitäten untersagt: vor Ein- und Ausgängen von Bahnhöfen und Haltestellen des Öffentlichen Verkehrs, im Umfeld von Bankomaten, Restaurants, Läden und öffentlichen Gebäuden. Auch auf Märkten oder in öffentlichen Parks und Unterführungen darf in Basel-Stadt nicht mehr gebettelt werden.
Das revidierte Übertretungsstrafgesetz trat am 1. September 2021 in Kraft. Doch mehrere Parteien, darunter die Demokratischen Juristinnen und Juristen Basel, erhoben beim Bundesgericht Beschwerde und verlangten eine abstrakte Normenkontrolle. Sie argumentieren, das Übertretungsstrafgesetz verbiete das Betteln in weiten Teilen des Stadtgebiets. Das verstosse gegen die Menschenrechtskonvention, da eine Auslegung des Gesetzes im Sinne der Konvention nicht möglich sei. Das Gesetz verletze mehrere Grund- und Menschenrechte: Neben dem Recht auf Achtung des Privatlebens und auf persönliche Freiheit auch die Meinungs- und die Wirtschaftsfreiheit.
Weiter machen die Beschwerdeführer eine Verletzung des in der Bundesverfassung und der Menschenrechtskonvention festgehaltenen Diskriminierungsverbots geltend. Grund dafür ist, dass die Bestimmungen des Basler Übertretungsstrafgesetzes gemäss den Beschwerdeführern explizit die Gruppe der Roma anvisieren würden. Dies habe die politische Debatte im Vorfeld der Gesetzesrevision gezeigt, heisst es in der Beschwerde ans Bundesgericht.
So sei in der politischen Diskussion immer wieder eine Unterscheidung zwischen Roma und «einheimischen Randständigen» gemacht worden – verbunden mit dem impliziten und manchmal gar expliziten Hinweis, dass letztere auch unter der neuen Regelung «mit Augenmass» behandelt werden sollen.
Das umfangreiche Bettelverbot sei zwar neutral formuliert, heisst es in der Beschwerde. «Es wurde aber ausschliesslich eingeführt, um das Betteln von (sichtbar) osteuropäischen Bettlern und Roma zu unterbinden.» Im Resultat liege damit eine indirekte Diskriminierung vor. «Bei der abstrakten Normenkontrolle wird jeweils auch geprüft, wie wahrscheinlich eine verfassungstreue Anwendung ist», sagt der Luzerner Rechtsanwalt Markus Husmann, der die bundesgerichtliche Beschwerde gegen das Basler Bettelverbot verfasst hat. «In Basel deuten verschiedene Umstände darauf hin, dass es mit dem neuen Gesetz zu Diskriminierungen kommen könnte: die politische Erwartungshaltung, die schwammigen Gesetzesbestimmungen und das grosse Ermessen der Polizistinnen und Polizisten an der Front.»
Schwere Eingriffe in die Grundrechte
Verschärft werde die Problematik dadurch, dass die anvisierte Gruppe der Roma häufig nicht in der Lage sei, sich wirksam zu verteidigen und im Fall einer Verurteilung den Bussenbetrag zu zahlen. Regelmässig würden in der Praxis deshalb Ersatzfreiheitsstrafen ausgesprochen. Vor diesem Hintergrund stufte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Lacatus gegen die Schweiz ein Bettelverbot deshalb auch als schweren Grundrechtseingriff ein.
Nach dem Strassburger Urteil nahm auch Genf vom absoluten Bettelverbot Abstand und erliess ein differenziertes Bettelverbot. Es ähnelt dem Bettelverbot des Basler Übertretungsstrafgesetzes. Die Genfer Version sehe allerdings keinen Radius von fünf Metern um die genannten Lokalitäten vor und rücke die Roma nicht gleichermassen in den Fokus, sagt Rechtsanwalt Husmann.
Das Genfer Verfassungsgericht erklärte das Bettelverbot im August für rechtmässig. Es entspreche dem öffentlichen Interesse und verletze die Grundrechte der Bettler nicht. Ausserdem könne einer Bestrafung entgehen, wer eine Notlage geltend macht.
Eine Genfer Anwältin war mit dieser Argumentation nicht einverstanden. Sie verpasste jedoch die Frist für eine Beschwerde ans Bundesgericht um einen Tag, weshalb eine abstrakte Normenkontrolle des Gesetzes nicht mehr möglich ist.
Auch der Kanton Luzern, der eine Bewilligungspflicht kennt, will den Umgang mit Bettlern neu regeln – nach dem Strassburger Urteil allerdings anders als Genf und Basel: Eine Bewilligung soll nur noch dann verweigert werden, wenn jemand für seinen Lebensunterhalt in «organisierter Form» bettelt oder andere Leute zum Betteln schicken will.
In Zug soll nur noch bestraft werden, wer bettelt und so die öffentliche Ordnung stört. Und in Schwyz wurde das Verbot nach dem Entscheid aus Strassburg auf das «belästigende Betteln» beschränkt, wobei als «belästigend» auch das Betteln an Orten mit Publikumsverkehr gilt wie etwa vor Banken oder Restaurants.
Rechtsanwalt Husmann steht all diesen Anpassungen kritisch gegenüber. Die Luzerner Bewilligungspflicht sei einerseits schwer praktikabel. Andererseits könne eine damit verbundene behördliche Registrierung abschreckend wirken und so die Notlage der Betroffenen verschärfen. Auch räume der Begriff «organisiert» den Behörden zu viel Ermessen ein und begünstige eine missbräuchliche Anwendung. Eine (Selbst-)Organisation der Bettler sei für sich betrachtet nicht problematisch. «Auch Strassenkünstler organisieren sich», so Husmann. Der Fokus sollte darauf liegen, ob jemand unter Zwang bettle oder ob bandenmässig vorgegangen und eine Notlage vorgeschoben werde.
Der Begriff der öffentlichen Ordnung, den der Kanton Zug erwähnt, dürfte dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot laut Husmann nicht standhalten. «Es geht am Ende um Bussen, die in Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden können – also um strafrechtliche Sanktionen.»
Und was das im Kanton Schwyz geltende Verbot des «belästigenden Bettelns» betreffe, so sei dessen Vereinbarkeit mit der Menschenrechtskonvention fraglich: «Der Europäische Gerichtshof hat zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Verbot von aufdringlichem oder aggressivem Betteln konventionskonform sein könnte, und Ähnliches könnte für belästigendes Betteln gelten», so Husmann. Dass aber das Betteln etwa vor Restaurants als «belästigend» gelten solle, bedeute eine zusätzliche Ausweitung, die von der Strassburger Rechtsprechung nicht abgedeckt sei.
Kantone gehen auf Warteposition
Viele Kantone haben nach dem Entscheid aus Strassburg noch nicht reagiert. Dazu gehört Zürich. Gemäss dem kantonalen Straf- und Justizvollzugsgesetz wird mit Busse bestraft, wer bettelt oder Personen, die von ihm abhängig sind, zum Betteln schickt – ein Verbot, das in dieser Allgemeinheit gegen die Menschenrechtskonvention verstösst. Die Direktion der Justiz und des Innern will laut Medienstelle dem Zürcher Kantonsrat eine Anpassung der Bestimmung vorschlagen, «welche die aktuellste Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Basler Bettelverbot berücksichtigt». Mit einer Überarbeitung wolle man zuwarten, bis das Bundesgericht einen Entscheid wgefällt hat.
Bettelverbote tangieren auch die Wirtschaftsfreiheit
Das Bundesgericht schützt das Betteln gemäss dem Grundrecht der persönlichen Freiheit nach Artikel 10 Absatz 2 der Bundesverfassung. In einem Beitrag für das «Schweizerische Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht» (Nr. 6/2022) sprach sich der Basler Advokat Lukas Schaub dafür aus, das Betteln auch dem Schutz der Wirtschaftsfreiheit nach Artikel 27 BV zu unterstellen. Er kritisiert die höchstgerichtliche Rechtsprechung, wonach dem Betteln «kein wirtschaftliches Austauschverhältnis» zugrundeliege und es deshalb nicht in den Schutzbereich der Wirtschaftsfreiheit fällt. Folge man der Linie des Bundesgerichts, liege auch bei Spenden an gemeinnützige Organisationen kein Austausch von Leistung und Gegenleistung vor. Gewichtigen Lehrmeinungen zufolge fielen solche Spenden aber in den Schutzbereich der Wirtschaftsfreiheit. Eine unterschiedliche Behandlung von Bettlern hält Schaub für nicht gerechtfertigt.
Die Diskussion ist nicht theoretischer Natur: Anders als die persönliche Freiheit nach Artikel 10 Absatz 2 BV vermittelt die Wirtschaftsfreiheit nach Artikel 27 BV nämlich einen bedingten Anspruch auf die Nutzung des öffentlichen Grundes für wirtschaft- liche Tätigkeiten in Form des gesteigerten Gemeingebrauchs. Ein allgemeines Bettelverbot kommt einem faktischen Verbot dieser Tätigkeit gleich. Hätte das Bundesgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung die Bettelei in den Schutzbereich der Wirtschaftsfreiheit miteinbezogen, wäre die Verhältnismässigkeitsprüfung wohl strenger ausgefallen und eine Verurteilung der Schweiz durch den Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg erspart geblieben, so Schaub.
Der ehemalige Bundesrichter Hans Georg Seiler bezweifelt, dass es zu einer strengeren Verhältnismässigkeitsprüfung gekommen wäre: Einschränkungen der Wirtschaftsfreiheit seien von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung grosszügiger zugelassen worden als die Einschränkung anderer Grundrechte.