1. Das Urteil im Überblick
Dem Urteil lagen folgende Sachumstände zugrunde: Der betroffene Asylsuchende gab an, er sei aus Tibet in die Schweiz geflüchtet.2 Das Staatssekretariat für Migration (SEM) zweifelte an den Herkunftsangaben. Um herauszufinden, ob der Mann effektiv aus der angegebenen Region mehr oder weniger direkt in die Schweiz geflüchtet war, gab das SEM eine Herkunfts- und Sprachanalyse, eine sogenannte Lingua-Analyse, in Auftrag. Diese kam zum Schluss, dass der Beschwerdeführer sehr wahrscheinlich nicht in der von ihm angegebenen Region sozialisiert worden sei, sondern sehr wahrscheinlich in der exiltibetischen Gemeinschaft.3
Das Bundesverwaltungsgericht qualifizierte alle gegen die Lingua-Analyse erhobenen Einwände als nicht erheblich. Vielmehr mass es der Analyse einen erhöhten Beweiswert zu. In einer abschliessenden Abwägung und vor allem unter Hinweis auf die Analyse verneinte es in diesem Referenzurteil die Flüchtlingseigenschaft des Beschwerdeführers und lehnte seine Beschwerde ab.4
2. Bemerkungen zu Urteil und Kontext
2.1 Die beweistechnische Krux bei Asylverfahren
Um Asyl ersuchende Menschen müssen ihre Fluchtgründe nachweisen können oder glaubhaft machen.5 Bestehen Zweifel an der Darstellung, ist von nicht glaubhaft gemachten Fluchtgründen auszugehen.6 Die Deutungshoheit darüber hat die Behörde. In aller Regel werden hier behördenseits mehr oder weniger überzeugende Indizien angeführt. Über deren Gehalt kann man sich streiten und letztlich ist auch hier eine subjektiv gefärbte Bewertung unabdingbar.
Zuweilen erinnern die angeführten Tatsachen, die gegen die Glaubhaftmachung sprechen, an inquisitorische Prozessregeln.
Ein Beispiel: Das SEM hält dem Beschwerdeführer vor, es sei ihm eine auf dem Weg zur Kreishauptstadt gelegene Gemeinde unbekannt gewesen.7 Zum Vergleich: Fragen Sie einen Rapperswiler in einer vergleichbaren Drucksituation, durch welche Bezirke und Kantone er mit der S-Bahn nach Zürich reist.
Weiter wird vom SEM angeführt, die Chinesischkenntnisse des Beschwerdeführers würden darauf hindeuten, dass diese nicht im Alltag erworben worden seien.8 Dabei ist Spracherwerb stets ein Zusammenspiel von primären und sekundären Quellen. Die Argumentationslinie des SEM ist vor dem Hintergrund dieser Grunderkenntnis nicht überzeugend.
Gegen Indizien ist nichts einzuwenden. Doch sind diese eben auch wie Indizien zu bewerten. Auffallend ist die in Behördenentscheiden oft anzutreffende, fast unangenehm anmutende Bemühtheit, Argumente zu finden, die gegen Fluchtgründe sprechen. Daran zeigt sich, wie unbefriedigend ein Asylverfahren wäre, das sich nur auf Indizien stützt.
2.2 Die Lingua-Analyse als Ausweg aus der Beweisnot?
Die skizzierte Pattsituation verlangt nach einem beweisrechtlichen Ausweg, der diese Indiziensituation zu entschärfen vermag. Dabei greift das SEM auf eine strukturierte Basis- und Herkunftsabklärung zurück. Dafür wurde 1997 die Fachstelle Lingua installiert. Sie hat den Auftrag, die Lingua-Analysen durchzuführen. Die Fachstelle Lingua ist Teil des SEM und damit Teil der hierarchisch gegliederten Kernverwaltung des Bundes. Sie ist als Sektion ausgestaltet und der Abteilung Services und Analysen unterstellt.9
Bemerkenswert ist, dass die Lingua-Analyse über keine explizite Regelung verfügt. Sie lässt sich aus der Untersuchungsmaxime und aus der Mitwirkungspflicht herleiten. Der Hinweis auf eine langjährige Praxis ist für sich allein aber keine überzeugende Begründung für dieses Instrument, das doch einen weitreichenden Eingriff in die Persönlichkeitssphäre der betroffenen Personen darstellt.10
Das SEM hebt zwar hervor, der Lingua-Bericht bilde nur eines von mehreren Beweismitteln.11 Das ist jedoch eine sehr optimistische Sicht auf die beweisrechtliche Pattsituation, in der die um Asyl nachsuchenden Personen in aller Regel stecken. Faktisch spielt der Lingua-Bericht in einer durch Indizien beweisneutralisierten Situation das Zünglein an der Waage und ist daher das herausragende Beweismittel. Die weiteren Beweismittel, vorab die Befragungen, bilden in aller Regel nur das Trittbrett, das zur Anordnung eines Lingua-Berichts geführt hat.
Der Ablauf einer Lingua-Analyse beginnt mit einem Auftrag an die Fachstelle Lingua. Der Auftrag enthält die fallspezifischen Eckwerte und findet Eingang in die Akten.12 Basis der Lingua-Analyse bildet ein mit der asylsuchenden Person aufgezeichnetes Telefongespräch. Es dient dazu, die Sprechweise aufzuzeichnen, aber auch spezifische Kenntnisse der Person zur Region in Erfahrung zu bringen, aus der sie nach eigenen Angaben stammt.13 Nach dem Telefonat beauftragt das SEM eine externe Person mit Fachkunde, die das Gespräch auswertet und einen schriftlichen Bericht verfasst.
Die Auswertung des Telefonats stellt kein Sachverständigengutachten dar.14 Es ist daher ungenau, diesen Bericht als Lingua-Gutachten zu bezeichnen oder den Verfasser der Analyse als Lingua-Experten.15 Es handelt sich beim Lingua-Bericht beweisrechtlich nur um eine schriftliche Auskunft einer Drittperson.16 Das Schriftstück verfügt gemäss Praxis nur dann über einen erhöhten Beweiswert, wenn Qualifikation, Objektivität und Neutralität der sachkundigen Person ausgewiesen sind und die Analyse inhaltlich schlüssig und nachvollziehbar ist.17 Kurz, das Bundesverwaltungsgericht prüft die Sachkunde der Person und den Inhalt der von ihr vorgenommenen Analyse.
3. Schritte der Lingua-Analyse
3.1 Das Telefoninterview als Ausgangspunkt
Eine Analyse setzt Datensätze voraus. Diese werden bei den Lingua-Analysen durch eine telefonische Befragung der um Asyl nachsuchenden Person beschafft. Dabei ist bemerkenswert, dass diejenige Person, die das Interview führt, nicht identisch sein muss mit jener Person, die die Datensätze auswertet. Gemäss der Fachstelle Lingua sei für eine aussagekräftige Analyse in erster Linie erforderlich, dass genügend Daten erhoben würden. Das Bundesverwaltungsgericht stützt diesen Ansatz der Arbeitsteilung und verweist überdies auf die Guidelines der «language analysis for the determination of origin», kurz LADO.18
Diese würden eine solche Arbeitsteilung nicht untersagen.19 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Methodik der Telefonbefragung und deren rechtliche Einordnung lässt sich dem Urteil leider nicht entnehmen, noch weniger zur Herkunft und wissenschaftlichen Umstrittenheit der LADO-Guidelines.20
Mit der telefonischen Befragung werden die Grundlagen für die sachverständige Person geschaffen. Es handelt sich demzufolge um eine Beweiserhebung. Das SEM führt zu diesem Gespräch aus, dass die asylsuchende Person zunächst «zu einem telefonischen Interview mit einem externen Interviewer vorgeladen» werde.21 Bei diesem handle es sich entweder um «den Experten», der den Fall anschliessend analysiere. Wenn dieser nicht «will oder kann»,22 würde eine zweite Personengruppe eingesetzt.
Diese zweite Kategorie von Interviewer würde in der Regel aus den Regionen stammen, in denen die Gesuchstellenden gemäss ihren Angaben gelebt hätten. Die Fachstelle Lingua – so das Handbuch des SEM – schule diese zweite Gruppe, damit sie diese «heikle Aufgabe» erfolgreich erfüllen könne. Das Handbuch bezeichnet auch diese zweite Gruppe als externe Interviewer.23 Dem stehen die Ausführung im bereits erwähnten Urteil gegenüber. Zumindest im vorliegenden Fall handelte es sich offenbar um eine Angestellte des SEM und damit des Bundes,24 also keine externe Interviewerin.
Der Beschwerdeführer kritisierte nicht nur den Lingua-Bericht, sondern bereits die Telefonbefragung. Er machte geltend, er habe sich mit einer seit längerem in der Schweiz wohnhaften Zentraltibeterin unterhalten. Er dagegen stamme aus einer 1500 Kilometer von Zentraltibet entfernten ländlichen Gebirgsgegend. Darum habe er sich nur durch Akkommodation an ihre Sprachvarietät verständlich machen können. Das Gespräch habe sich nur am Rand mit der Lebenswirklichkeit befasst.25 Zudem sei ihm nicht eröffnet worden, dass auf der Basis dieses Gesprächs eine linguistische Analyse vorgenommen werde.26
Das Bundesverwaltungsgericht hält dazu lediglich fest, es müsse sich beim Ersteller des Lingua-Berichts nicht um dieselbe Person handeln, die bereits das Interview geführt habe.27 Das SEM führt dazu aus, dass für eine aussagekräftige Analyse in erster Linie erforderlich sei, dass genügend Daten erhoben würden, und das sei vorliegend der Fall.28 Das Bundesverwaltungsgericht schützt dies ohne weitere Begründung.
Im Umkehrschluss könnte man meinen, der Person des Interviewers komme demzufolge keinerlei Bedeutung zu. Dies wiederum stünde im Widerspruch zu den Ausführungen im Handbuch des SEM und den LADO-Guidelines.
Im vorliegenden Fall kann zumindest nicht mehr davon die Rede sein, dass die Interviewerin aus der vom Beschwerdeführer behaupteten Region stamme. Die Interviewerin im besagten Urteil lebt überdies seit längerem in der Schweiz. Der Beschwerdeführer machte Verständigungsschwierigkeiten beim Lingua-Gespräch geltend.29
Er führte dazu aus, gemäss Lingua-Bericht seien die Verständigungsschwierigkeiten durch Nachfragen gelöst worden.30 Das Bundesverwaltungsgericht beseitigt diese Einwände mit einem Satz, indem es ausführt, dem Lingua-Bericht liessen sich «auch keine wesentlichen Verständigungsschwierigkeiten» entnehmen.31
Dies wirft Fragen auf. Der Lingua-Bericht stützt sich auf die Aufzeichnung des Lingua-Gesprächs. Bei den Aufnahmen handelt es sich zweifellos um einen Teil der Akten, und die Tonaufnahmen müssen daher auch dem Bundesverwaltungsgericht zugänglich sein.32 Es ist daher nicht nachvollziehbar, dass sich das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Offizialmaxime offenbar nicht selbst ein Bild von den geltend gemachten Verständigungsschwierigkeiten machte, obwohl Lingua-Gespräche mit Verständigungsschwierigkeiten ein allseits bekannter Umstand sind.33
Das Gericht stützt sich in seiner Begründung nur auf den Lingua-Bericht und damit auf eine sekundäre Quelle, ohne sich mit dessen Datenbasis auseinandergesetzt zu haben.34
Offenbar werden die Lingua-Gespräche nicht transkribiert. Der Sache nach handelt es sich um eine telefonische Befragung. Das ist bereits ein kritischer Punkt. Telefonische Befragungen sind zwar nicht ausgeschlossen. Laut bundesgerichtlicher Rechtsprechung sind sie jedoch nur zur Feststellung von Nebenpunkten zulässig.35 Das telefonische Lingua-Gespräch bildet die Datenbasis für die spätere Lingua-Analyse. Beweisrechtlich handelt es sich daher um mündlich eingeholte Auskünfte der Parteien im Sinn von Artikel 12 litera b VwVG. Für mündliche Auskünfte besteht eine Pflicht, diese zu protokollieren.36
Ein Protokoll enthält sämtliche wesentlichen Inhalte der Auskunft. Dazu zählen auch allfällige Verständigungsschwierigkeiten. Sodann wäre in dieses Befragungsprotokoll Einsicht zu gewähren, genauso wie in die ordentlichen Asylbefragungen Einblick zu gewähren ist. Dies wäre umso mehr geboten, da das SEM sehr häufig Antworten aus der Asylbefragung mit Antworten aus dem Lingua-Gespräch miteinander verknüpft und als Argumente gegen die Glaubhaftmachung verwendet.37
Es erschiene stossend, wenn die Behörde sich der telefonischen Befragung punktuell bedient, deren Einsichtnahme aber erschwert. Soweit ersichtlich, verlangt das Bundesverwaltungsgericht, dass das SEM den um Asyl nachsuchenden Personen Zugang zu den Tonaufzeichnungen verschafft. Aus den Urteilen des Gerichts ergibt sich aber nicht, dass es sich im Einzelfall durch Anhören ein Bild von den betreffenden Gesprächen verschafft hat.
Das Lingua-Gespräch zielt in aller Regel nicht nur darauf ab, Daten für eine linguistische Analyse zu sammeln, sondern zusätzlich landeskundlich-kulturelles Wissen abzurufen. Dieses Wissen soll dann weitere Rückschlüsse auf die Herkunft zulassen. Dieser Ansatz hat methodische Schwächen. Bei den rasanten gesellschaftlichen Entwicklungstempi in den vergangenen Jahrzehnten liegt es auf der Hand, dass früher vielleicht noch zutreffende Länderkenntnisse rasch veraltet sind. Aktuelle Kenntnisse sind aber für eine fundierte Befragung unerlässlich.
Doch selbst aktuelle Kenntnisse vermögen diese methodische Schwäche nicht zu beseitigen. Gerade in alpin geprägten Kulturen können kulturelle Prägungen bereits von Tal zu Tal stark variieren. Die Gebiete Osttibets zeigten über Jahrhunderte einen extremen Lokalismus.38
Die Annahme, es gebe klar zuordenbare regionale Gepflogenheiten, ist aufgrund der ethnologischen Forschungsergebnisse zu hinterfragen.39 Vielmehr sind viele ethnische Minderheiten eines der auffälligsten Merkmale von Amdo und Kham, ganz im Gegensatz zu Zentraltibet.40
Diese Diversität widerspiegelt sich auch im Reichtum der Dialekte, die in Tibet gesprochen werden. Eine anschauliche, aktuelle Darstellung findet sich bei Nicolas Tournadre/Hiroyuki Suzuki.41
Es sind daher mehrere Aspekte auszumachen, die in der Summe zu Schwierigkeiten führen, vom Wissen und von der Sprechweise einer Person auf einen bestimmten Ort zu schliessen. Es gibt nur wenig Forschung, die überdies durch eine kulturelle Vielfalt überlagert ist, die sich insbesondere durch die unterteilende Gebirgslandschaft ergeben hat.
Das ist auch in der Schweiz so. Die Lötschentaler Bevölkerung etwa unterschied sich in ihren Lebensformen fundamental von denen des Urserentals, nicht nur sprachlich.42
Die beiden Täler liegen jedoch weniger als 100 Kilometer auseinander. Die Fläche von Tibet beträgt dagegen rund das Dreissigfache der Schweiz und damit potenzieren sich regionale Differenzierungen. Schliesslich, und das wird aus einer linguistischen Optik zu Recht kritisiert, werden die Adaptionsbestrebungen in Gesprächssituationen unterschätzt. Der Mensch will sich verständlich machen. Das gilt vor allem dann, wenn sein Fortkommen davon abhängig ist.
Doch gibt es auch fundamentale kulturelle Unterschiede, die für die landkartenaffine schweizerische Bevölkerung nur schwer nachvollziehbar sind. In vom Bundesverwaltungsgericht zu beurteilenden Fällen von tibetischen Flüchtlingen finden sich immer wieder seitenlange Schlagabtausche zwischen dem SEM und den Beschwerdeführenden, die sich um die Bezeichnung und die Lage von Ortschaften drehen.43
Die geografische Einordnung des eigenen Lebensraums scheint für die Menschen in Tibet nicht ein derart vordergründiges Bedürfnis zu sein. Anschaulich äussern sich dazu in Osttibet erhobene Forschungsergebnisse aus den 1960er-Jahren: «While a few of the informants did apparently recognize a major city or two by name, they were unable to place their own localities in geographic relationship to these cities. Compounding the problem was the fact that after the Chinese take-over in Tibet, most of the towns and villages were renamed in Chinese.»44
Das Telefoninterview arbeitet in diesem Punkt mit westlichen Massstäben. Es erscheint daher unumgänglich, dass die Fragestellungen für das Lingua-Gespräch zu reflektieren sind. Richtigerweise müsste, wenn schon behauptet wird, es handle sich bei den die Telefoninterviews durchführenden Personen um Sprachexperten, deren besondere Sprach- und Sachkunde offengelegt werden.45
3.2 Die Erstellung der Lingua-Analyse
Wie bereits ausgeführt, werden die auf der Grundlage des Lingua-Gesprächs erhobenen Daten einer sachkundigen Person übermittelt.46 Diese erstellt damit einen Sachbericht, die Lingua-Analyse. Danach wird der Entwurf zusammen mit einem Linguisten der Fachstelle bearbeitet.47
Diese Analysen stehen jedoch gemäss Praxis des Bundesverwaltungsgerichts unter Verschluss.48 Das Gericht hat die bereits von der damaligen Asylrekurskommission begründete Rechtsprechungslinie übernommen.49 Der davon betroffenen Partei wird daher lediglich das eigentliche Fazit mitgeteilt.50
Geheim bleibt auch der Name der Person, die die Lingua-Analyse vornimmt. Hingegen sind der asylsuchenden Person Herkunft, Dauer und Zeitraum des Aufenthalts im umstrittenen Herkunftsland sowie der Werdegang der sachkundigen Person offenzulegen.51
Beweistechnisch wirkt sich diese Analyse faktisch wie ein Sachverständigengutachten aus, obwohl das Bundesverwaltungsgericht nicht müde wird zu betonen, es handle sich nur um eine schriftliche Auskunft einer Drittperson.52 Dennoch bezeichnet das Bundesverwaltungsgericht die Verfasserin beziehungsweise den Verfasser der Analyse als eine sachverständige Person. Der erhöhte Beweiswert ist jedoch gemäss konstanter gerichtlicher Praxis der Lingua-Analyse nur dann beizumessen, wenn gewisse Anforderungen an die fachkundige Person sowie an die Analyse erfüllt sind. Es ist daher entscheidend, wie vertieft die Prüfung dieser Analysen durch die gerichtliche Instanz ausfällt.
4. Überprüfung der Lingua-Analysen
Das Gericht überprüft die Lingua-Berichte unter zwei Gesichtspunkten: Erstens prüft es, ob es sich beim Verfasser um eine zuverlässige, objektive und neutrale Person handelt. Zweitens prüft es, ob die Analyse inhaltlich schlüssig und nachvollziehbar ist.53
4.1 Prüfung der Verfasser von Lingua-Berichten
Das Gericht muss die Zuverlässigkeit und Objektivität der betreffenden Person prüfen. Im hier zu besprechenden Urteil lag dem Gericht ein vom SEM unterbreiteter Lebenslauf vor, der den Werdegang, die professionelle und die wissenschaftliche Tätigkeit der betreffenden Person enthielt. Das SEM legte überdies gegenüber dem Gericht die vom Verfasser der Lingua-Analyse verwendeten Quellen offen.54
Weitere Erhebungen seitens des Gerichts sind nicht ersichtlich, obwohl die Beschwerde einige, zum Teil schwerwiegende Vorwürfe erhob, darunter mangelhafte berufliche Qualifikationen, fehlende Unabhängigkeit vom SEM und vermutete Nähe zum chinesischen Regime.55 Diese werden jedoch mit einem Satz vom Tisch gewischt, indem ausgeführt wird, in der «bestehenden Aktenlage» würde sich für diese Vorwürfe keine Stütze finden. Sofern unter der Aktenlage eine Aktenlage verstanden wird, die nur vom SEM erhoben wird, dürfte diese Begründung nicht falsch sein. Sie ist aber einseitig. Denn der Verweis auf eine bestehende Aktenlage ist eine Art Zirkelschluss und setzt voraus, dass die Akten vollständig sind.
Das Bundesverwaltungsgericht hätte durchaus eigene, die Akten erweiternde Beweiserhebungen tätigen können, um die vom Beschwerdeführer vermutete fehlende Unabhängigkeit sowie vermutete Nähe zum chinesischen Regime vertieft abzuklären. Vor allem blieb unklar, in welchem Umfang die betreffende Person für das SEM tätig ist und auf welcher rechtlichen Grundlage sie das tut. Handelt es sich um ein Dauerauftragsverhältnis, das sogar in die Nähe eines Arbeitsvertrags rückt? Es könnte sich herausstellen, dass die betreffende Person wirtschaftlich von den Aufträgen des SEM abhängig sein könnte.56 Das Bundesverwaltungsgericht verneint dies, ohne nähere Begründung.
Kritisch zu dieser Geheimhaltung von Lingua-Berichten äussert sich in genereller Weise Adrien Ramelet. Er kritisiert die systematische Geheimhaltung eines in das Verfahren eingreifenden Intervenienten. Dies verunmögliche eine fallbezogene Prüfung in Form einer Interessenabwägung.57
Dieser fixe Lösungsansatz hebelt das Prinzip der Verhältnismässigkeit aus.58 Eine solche Praxis ist daher auch aus verfassungsrechtlicher Sicht höchst problematisch, da von vornherein keine Interessenabwägungen vorgenommen werden. Eine solche für die Justiz einzigartige Geheimniskrämerei bedarf einer besonderen Rechtfertigung. Diese liegt für das Bundesverwaltungsgericht im Schutz der fachkundigen Person. «Eine gänzliche Offenlegung der Identität würde eine erhebliche Gefährdung bedeuten, zumal Druck- und Retorsionsversuche gegen sachverständige Personen notorisch sind.»59 Selbstverständlich sind Druckversuche nie auszuschliessen. Damit muss aber jeder Richter, aber auch Zeugen oder Anwälte rechnen.
Ramelet macht einen bedenkenswerten Vorschlag. Er regt an, die Behörden oder das Gericht könnte die fachkundige Person anfragen, ob ihre Identität geheim bleiben müsse und warum.60 Dies hätte das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Verfahren ohne weiteres tun können. Der Beschwerdeführer machte wiederholt geltend, bei der für die Analyse beigezogenen Person handle es sich um jemanden aus Westeuropa.61 Wenn dies effektiv zutrifft, dürfte es gerichtsnotorisch sein, dass eine solche Person wohl kaum Druckversuchen ausgesetzt sein dürfte.
Einen Kritikpunkt immerhin lässt sich dem Urteil im Zusammenhang mit der Geheimhaltung entnehmen: Es schätzt die Praxis des SEM, die Analyse durch die fachkundige Person unter Verwendung eines falschen Namens unterschreiben zu lassen «als problematisch» ein.62
4.2 Prüfung der Schlüssig- und Nachvollziehbarkeit
Diese Geheimniskrämerei in den Asylverfahren führt letztlich auch dazu, dass keine fachliche Diskussion über die inhaltliche Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit solcher Analysen stattfinden kann, obwohl das SEM und das Bundesverwaltungsgericht die erhöhte Legitimität auf das Argument der Fachlichkeit und Wissenschaftlichkeit abstützen. Insbesondere ist die gesuchstellende Person von diesem Prüfungsvorgang ausgeschlossen.
Im vorliegenden Urteil war dies jedoch aufgrund des Fauxpas des SEM anders, und diese Diskussion konnte teilweise stattfinden. Vier international renommierte Tibetologen kritisierten in einem mehrseitigen Schreiben die Ergebnisse der Lingua-Analyse. Sie gelangten unter Beilage einer detaillierten linguistischen Analyse unter anderem zu folgendem Fazit: «The evaluation processes we have examined in the received Lingua Report, have so many shortcomings and errors that a neutral and objective evaluation is not possible.»63
Dies war der Anfang einer grösseren fachlichen Kontroverse. Auf die Gegenanalyse der vier Tibetologen sowie eine Stellungnahme zur Herkunftsanalyse folgte eine zusammenfassende Replik des Autors des Lingua-Berichts und der Fachstelle Lingua. Die Fachstelle veranlasste überdies eine Stellungnahme unter Beizug zweier externer Wissenschaftler.
Eine weitere von SEM eingeholte Einschätzung hält fest, die Lingua-Analyse «scheine mit Präzision und Sorgfalt erstellt worden zu sein und die unterschiedlichen Schlussfolgerungen würden wohl eher eine blosse Meinungsverschiedenheit von Fachpersonen, nicht aber Verfahrensmängel darstellen.»64 Das Bundesverwaltungsgericht verwendet diese in den Konjunktiv gesetzte Passage gegen den Beschwerdeführer.65 Zu bedauern ist, dass mit diesem Urteil keine grundsätzliche Auseinandersetzung der forensischen LADOMethode stattgefunden hat. Auf dieser Methode hat die Fachstelle Lingua ihr System aufgebaut.
4.3 Unkritischer Umgang mit der Lingua-Methodik
Darob geht vergessen, dass es starke Gegenstimmen gibt, die zweifeln, ob damit überhaupt eine Herkunft plausibilisiert werden könne. Abgesehen von einer linguistischen Einordnung enthielt der vorliegende Lingua-Bericht zusätzlich eine Analyse zum landeskundlich-kulturellen Wissensstand des Beschwerdeführers. Auch bezogen auf diesen zweiten Punkt erheben die von ihm angefragten Tibetologen massive Kritik.
Mit dem linguistischen Teil der Analyse setzte sich das Gericht trotz fundamentaler wissenschaftlicher Differenzen, an denen rund zehn Personen beteiligt waren, darunter renommierte Tibetologen, eher ausweichend auseinander. Es verweist in seiner Begründung schliesslich auf Forschungsprojekte, die Lingua-Analysen analysiert hätten und zum Schluss gekommen seien, Lingua sei Best Practice im Bereich von LADO.66
Zur Zuverlässigkeit der Methode an sich macht es keine Ausführungen.67
Eine Durchsicht der vom Bundesverwaltungsgericht zitierten Abhandlung von McNamara/Schüpbach ergibt, dass die beiden Autoren zwischen 2009 und 2012 für Lingua eine Studie durchgeführt haben, aus der zwei verwaltungsinterne Dokumente hervorgingen. Das eine, datierend von Mai 2012, trägt den Titel «Validating language and country knowledge analyses in asylum cases» sowie ein «Handbook for Lingua analyses for the training of experts» vom Februar 2014.68
Für sich allein genommen ist dieser Beitrag wissenschaftlich nicht geeignet, die Lingua-Analysen zu validieren. Er bezieht sich ausserdem auf eine Ausgangslage und Datensätze vor über zehn Jahren. McNamara ist einer der Unterzeichner der LADO-Guidelines. Es ist mit nichts anderem zu rechnen, als dass er seine eigenen Guidelines positiv bewertet.
Es ist aber gut möglich, dass Bewegung in dieses System gerät. Bemerkenswert ist eine kürzlich durch das Kantonsgericht Luzern ergangene strafrechtliche Erkenntnis. Das Gericht hatte zweitinstanzlich darüber zu befinden, ob ein in einem Asylverfahren rechtskräftig abgewiesener Mann aus Tibet sich des rechtswidrigen Aufenthalts laut Artikel 15 Absatz 1 lit. b AIG schuldig gemacht hatte. Das Kantonsgericht erachtete es als unerlässlich, Einsicht in die Akten des Asylverfahrens zu nehmen. Das SEM leistete diesem Begehren nur teilweise Folge und hielt die Lingua-Analyse unter Verschluss. Das darauf gestützt auf Artikel 194 Absatz 3 StPO angerufene Bundesstrafgericht schützte das SEM.69
Das Kantonsgericht sprach den Beschuldigten frei mit der Begründung, dieser dürfe ohne Einsicht in die wesentlichen Beweismittel, zu denen im vorliegenden Fall der Lingua-Bericht zählt, nicht schuldig gesprochen werden.70
5. Erkenntnisse
Eine gute Justiz ist ein Pfeiler freier Gesellschaften. Sie lebt von einer offenen fachlichen Auseinandersetzung. Die besprochene bundesverwaltungsgerichtliche Erkenntnis hinterlässt in dieser Hinsicht einen unguten Eindruck. Die asylsuchende Person ist ihrer Mitwirkungspflicht vollumfänglich nachgekommen, indem sie an der Telefonbefragung teilnahm. Wenn die Auswertung zu keinem schlüssigen Ergebnis führt, kann dies nicht gegen den Beschwerdeführer verwendet werden.71 Dies muss in einem besonderen Mass gelten, wenn fundamentale Einwände gegen den Lingua-Bericht erhoben werden. In dem Fall fehlt es an einem annehmbaren sachlichen Fundament.
Die Lingua-Analyse beabsichtigt, Transparenz herzustellen. Sie leidet aber an einem systemischen Mangel: Weder der Entstehungsprozess noch die Resultate erfolgen in einer für ein justizförmiges Verfahren ausreichend transparenten Art und Weise. Das Paradox ist im Instrument selbst angelegt und führt daher zu unbefriedigenden Resultaten. Es erstaunt denn auch nicht, dass Lingua-Analysen seit Jahren stark kritisiert werden.72
Das Spezielle an asylrechtlichen Verfahren ist die existenzielle Beweisnot der Gesuchsteller und nicht der politisch aufgeladene Kontext, wie viele meinen. Dieser Umstand sollte dazu führen, einen prozessual annehmbaren Umgang mit dieser Beweisnot zu finden. Dies würde sich auch auf die Gewissensnot vieler Menschen, die sich beruflich mit Asylverfahren beschäftigen, positiv auswirken.
6. Schlussbemerkung
Der Autor wuchs in der deutschsprachig-protestantischen Diaspora in der damals streng katholischen und heute noch mehrheitlich französischsprachigen Stadt Freiburg auf. Er spricht einen mehr oder weniger ausgeprägten Berner Dialekt und wird zuweilen irrtümlicherweise im Kanton Solothurn verortet. Bei einer Lingua-Analyse würde er wohl im Berner Seeland angesiedelt. Seit über 20 Jahren wohnt der Autor im Kanton Zürich und ist nicht in der Lage, alle umliegenden Gemeinden der Stadt aufzuzählen, ohne nachzudenken. Unter Anwendung einer Lingua-Analyse würde er kein Asyl in der Schweiz erhalten.
Fussnoten siehe PDF.