Eines der Ziele der Bologna-Reform war der Ausbau der Mobilität der Studierenden. Eine einheitliche Struktur mit Bachelor- und anschliessendem Masterstudiengang, dem System der europäischen Kreditpunkte (ECTS) und der Modularisierung sollten es vereinfachen, ein oder mehrere Semester an einer anderen Uni zu studieren.
Die Statistik zeigt ein anderes Bild: Die Zahl aller Austausch-studierenden der schweizerischen Universitäten ist seit Jahren rückläufig. Wechselten 2006/07 noch 1593 Studenten für ein Semester ins Ausland, so waren es 2008/09 noch 1519. Dass die bilateralen Abkommen den Weg für eine Teilnahme der Schweiz am europäischen Austauschprogramm Erasmus per 2011 ebneten, vermochte daran ebenso wenig zu ändern wie die Tatsache, dass sich die jährlichen Aufwendungen der Schweiz für die Mobilität gemäss dem Staatssekretariat für Bildung und Forschung von 7 Millionen Franken im Jahre 1995 auf 17 Millionen Franken im Jahre 2009 mehr als verdoppelt haben.
Zu lange Studienmodule behindern den Austausch
Oft hört man, die Mobilität werde durch Bologna eher behindert als gefördert - zum Beispiel durch die stärkere Strukturierung der Studiengänge. Diesen Zusammenhang will niemand direkt bestätigen. So sieht beispielsweise Ellen Krause, Leiterin des internationalen Büros der Universität Bern, keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Bologna-Umstellung und der Entwicklung der Mobilitätszahlen an der Universität Bern - weder negativ noch positiv: «Wir haben seit Jahren eine insgesamt steigende Nachfrage», sagt sie. Beim Austausch innerhalb Europas nach dem Erasmus-Programm (siehe Seite 30) flache das Interesse etwas ab. Der weltweite Austausch hingegen könne mit zusätzlichen Partnerschaften oder höheren bilateralen Kontingenten noch gesteigert werden. Zudem hätten nicht alle Fächer ein Mobilitätsfenster in einer der Studienphasen vorgesehen.
Die Aufteilung des Studiums in verschiedene Module, die eigentlich die Mobilität vereinfachen sollte, kann zudem ein Hindernis sein: So bietet die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Zürich auch mehrsemestrige Module an - laut der Mobilitätsbeauftragten Fabienne Hirt keine optimale Voraussetzung für die Mobilität. Die Folge davon: Die Zahl der Zürcher Studierenden, die ein oder mehrere Semester an einer Universität im Ausland absolvieren, nimmt leicht ab (siehe Grafik Seite 30).
Jus-Studierende wechseln die Uni in der Schweiz
Anders in umgekehrter Richtung: Die Zahl der ausländischen Studierenden, die nach Zürich kommen, hat sich seit Einführung des Bologna-Systems deutlich erhöht. Ein wichtiger Grund dafür ist die Einführung von Vorlesungen in englischer Sprache auf Masterebene im Herbstsemester 2009. Zudem umfasst das Modulangebot auf Masterebene vorwiegend einsemestrige Kurse. Die Studierenden können so die Veranstaltungen, die sie während ihres Mobilitätsaufenthaltes in Zürich besuchen, gut auf ihr Studium an der Heimfakultät abstimmen. Wie viele Credits sie in Zürich ernten können, sehen sie bereits beim Blick ins Vorlesungsverzeichnis.
In der ersten nationalen Befragung zu den Studienbedingungen an den Schweizer Universitäten im Jahr 2008, an der rund 5000 Studierende teilnahmen, gaben 26 Prozent an, einen Aufenthalt an einer anderen Hochschule machen zu wollen. 6 Prozent hatten einen solchen schon absolviert oder waren gerade daran, als sie den Fragebogen ausfüllten. 37 Prozent sagten, sie möchten nicht weggehen, und 31 Prozent zögerten noch. Mehr als 80 Prozent der mobilitätsfreudigen Studierenden bevorzugten eine ausländische Universität für das Austauschsemester.
Die Jus-Studierenden zieht es weniger häufig ins Ausland. Sie weisen den grössten Anteil inländischer Mobilität auf: Im akademischen Jahr 2009/10 waren laut der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten über ein Drittel aller Studenten, die in der Schweiz an einer anderen Hochschule ein Semester absolvierten, Juristen.
Auslandstudium zeugt von Offenheit und Flexibilität
Karrieretechnisch ist dieser Entscheid der angehenden Juristen nicht besonders weise. Auslanderfahrung wird in einer Bewerbungsmappe höher gewichtet als ein inländischer Austausch, so lautet der Grundtenor von Personalverantwortlichen in angefragten Anwaltskanzleien, die Substitutenplätze anbieten. Für Rechtsanwalt Peter Burckhardt, Partner bei Schellenberg Wittmer Rechtsanwälte in Zürich, hat eine Auslanderfahrung immer Gewicht. Einerseits wegen der Sprachkenntnisse (primär Englisch), aber auch wegen des dabei gewachsenen Verständnisses für andere Kulturen. Gemäss Burckhardt helfen Ausland-semester nicht nur, die erwähnten Kompetenzen aufzubauen, sondern «zeugen auch von einem gewissen Mindset, das eine Bewerbung attraktiv macht - offen für anderes, initiativ, flexibel, ohne Berührungsängste». Primär ist also in einer Bewerbung massgebend, nicht wo, sondern ob ein Auslandsemester absolviert wurde.
Kleinere und mittelgrosse Kanzleien schätzen den Wert der Lehrjahre im Ausland ähnlich ein. So hebt Thomas Loher, Partner in der Wirtschaftskanzlei Thouvenin Rechtsanwälte in Zürich, nebst der Sprache auch die unterschiedlichen Arbeitsmethoden und Lösungsansätze hervor, die ein Student im Ausland kennen und anwenden lernt: «Sie schärfen das Verständnis für das eigene bekannte System und erweitern das eigene Repertoire mit neuen Ideen.» Stephan Bernard, Partner in der Advokatur Aussersihl Zürich, schätzt den Nutzwert eines Austauschsemesters vor allem für die Persönlichkeitsentwicklung und den Spracherwerb als hoch ein. Fachlich gesehen bringe es meist nur insofern etwas, «als man feststellt, dass man es auch anders machen kann als wir in Zürich».
Anerkennung der Leistung trotz Bologna ein Problem
Weshalb dennoch viele Studierende auf ein Austauschsemester verzichten, zeigt die Studierendenbefragung 2008: Den ersten Rang erreichen die persönlichen Gründe, gefolgt von den administrativen Schritten, dem zu hohen persönlichen Aufwand und den Kosten. Von den Studierenden, die im Ausland waren, gab ein Viertel an, bei ihrer Rückkehr auf Probleme bei der Anerkennung von Creditpunkten gestossen zu sein.
Um die Anerkennung der Studienleistungen während des Mobilitätsaufenthalts zu erleichtern, wurde im Rahmen der Bologna-Reform das Learning Agreement entwickelt. 57 Prozent der Austauschstudierenden hatten dies laut der Befragung vor ihrer Abreise unterschrieben, 26 Prozent hatten es nicht unterschrieben und 17 Prozent wussten nicht mehr, ob sie ein solches unterschrieben hatten. Die Zahlen zeigen, dass trotz Bemühungen um Gleichwertigkeit der Studienleistungen auch unter Bologna die Anerkennung der Studienleistungen Probleme macht. Diese Hürden schrecken Austauschwillige zusätzlich ab.
Fabienne Hirt von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich weist noch auf einen weiteren Punkt hin: «Die aktuellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen fördern die Angst der Studierenden, nach Abschluss des Studiums für den Arbeitsmarkt zu alt zu sein.» Aus diesem Grund wird oft auf eine «zeitraubende» Mobilität verzichtet. Dabei gehe vergessen, welche wertvollen Kompetenzen und Qualifikationen durch einen Mobilitätsaufenthalt erworben werden können.
Auch exotische Länder können punkten
Wer ins Ausland geht, bevorzugt den angelsächsischen Raum. Das Erlernen und Vertiefen der englischen Rechtssprache und der Einblick in das angloamerikanische Rechtssystem erscheint den Studierenden im Hinblick auf die Berufschancen besonders attraktiv. Laut Fabienne Hirt wechseln sehr viel mehr Studenten aus der Schweiz an eine Universität im englischsprachigen Raum als umgekehrt.
Trotz zahlreicher Abkommen mit namhaften Hochschulen verläuft demgegenüber der Austausch mit Osteuropa unter umgekehrten Vorzeichen. Zürcher Studierende zieht es kaum in den Osten, während an der Universität Zürich sehr häufig osteuropäische Studenten anzutreffen sind.
Ein eigentliches Ranking der besten Studiendestinationen gibt es für die befragten Personalverantwortlichen nicht. Dennoch scheint es so, als ob die angehenden Juristinnen und Juristen auch in diesem Punkt die Vorlieben des Arbeitsmarkts nicht immer erkennen. Nebst englischsprachigen Ländern können bei manchen Kanzleien auch andere Destinationen punkten.
Für Stephan Bernard sind aussergewöhnlichere Destinationen spannender, weil sie meist mehr über eine Person aussagen. Die Advokatur Aussersihl fände eine Bewerbung mit Sprachkenntnissen in Türkisch, Albanisch oder Serbokroatisch hilfreich: «Ein Austausch in einem dieser Sprachräume wäre ausgezeichnet. Leider hatten wir bisher noch keine solchen Bewerber», bedauert er.
Schwierigkeiten beseitigt und durch neue ersetzt
Die Bologna-Reform hat also die Mobilität bis heute nicht im versprochenen Ausmass gefördert. Einige Schwierigkeiten konnten wohl beseitigt werden, dafür kamen neue dazu. Doch gerade die Erfahrung, dass bei einem Auslandsemester nicht alles pfannenfertig serviert wird und der persönliche Einsatz bei unvorhergesehenen Schwierigkeiten gefragt ist, zeichnet den Mobilitätsstudenten aus.
Wer sich von diesen organisatorischen Schwierigkeiten abschrecken lässt, ist schlicht zu wenig flexibel und vergibt die Chance auf eine unvergleichliche persönliche Erfahrung, die in der Berufswelt als klares Plus bewertet würde.
Bologna-Reform
Mit der Bologna-Reform soll ein europäischer Hochschulraum aufgebaut werden. Sie wurde 1999 von 29 europäischen Ländern (darunter auch die Schweiz) lanciert und umfasst aktuell 47 teilnehmende Länder. Die Einführung des neu zweistufigen Studiums anstelle der traditionellen Lizentiats- und Diplomstudiengänge ist der augenfälligste Aspekt der Reform. Der Bachelor-
studiengang bietet eine wissenschaftliche Grundausbildung an, die anschliessend im Masterstudium vervollständigt und vertieft werden kann, was dem früheren Lizenziat entspricht. In einem bis zwei Jahren werden praktisch alle Studierenden in der Schweiz in den neuen Studiengängen immatrikuliert sein.
Erasmus soll den Austausch in Europa fördern
Erasmus ist ein Programm der Europäischen Union, das den europäischen Austausch von Studierenden und Dozierenden koordiniert. Es ist Teil des EU-Programms für Lebenslanges Lernen (bis 2006 als Sokrates-Programm bezeichnet), das neben Hochschulbildung auch die Schul-, Berufs- und Erwachsenenbildung fördert. Zentrale Bestandteile sind die Anerkennung von Studienleistungen im Ausland anhand des European Credit Transfer Systems (ECTS) und die finanzielle Unterstützung von Austauschstudenten (für Studierende aus der oder in die Schweiz in der Regel monatlich 250 Franken). Bis zum akademischen Jahr 2009/10 konnten nur Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten voll an Erasmus teilnehmen. Der Schweiz stand nur eine indirekte Teilnahme offen. Ab 2010/11 ist das Programm für alle offen, die regulär an einer der teilnehmenden Hochschulen studieren. Die Schweiz hat die notwendigen Abkommen ratifiziert, um ab diesem Jahr voll teilnehmen zu können.