Karin Scherrer Reber ist Präsidentin des Verwaltungsgerichts Solothurn. Sie spricht Klartext: «Das Niveau der Studienabgänger hat sich mit der Bologna-Reform nach meiner Erfahrung verschlechtert, weil den Abgängern die Gesamtperspektive fehlt.» Das liege an der strikten Unterteilung der Prüfungen in einzelne Teilfächer, wie es die Bologna-Reform vorsieht. Für Scherrer Reber ist das ein Fehler: «Gerade im Jus-Studium ist eine Gesamtsicht unabdingbar, haben wir doch ein gesamtheitliches Rechtssystem, dessen Wertvorstellungen und Systematik fächerübergreifend sind.»
Die Solothurner Richterin nennt ein Beispiel: Eine Praktikantin habe ihr gesagt, sie könne eine Rechtsfrage nicht klären, weil es um Sachenrecht gehe – damit habe sie sich während des Studiums nicht befasst. Scherrer Reber: «Eine solche Aussage finde ich mehr als bedenklich, da die Grundzüge des Sachenrechts zum Rucksack eines jeden Juristen gehören.»
Karin Scherrer Reber ist nicht die Einzige, die mit dem Bildungsresultat der Bologna-Reform nicht zufrieden ist. Auch beim Obergericht Aargau ist der Befund eindeutig: «Die strikte Unterteilung von Fächern läuft vernetztem und Disziplinen übergreifendem Denken entgegen. Der Blick für die Zusammenhänge geht häufig verloren.» Im Masterstudium könnten sich die Studierenden ihr Fächerangebot selbst zusammenstellen und Fächer wählen, in denen sie gute Noten erhalten oder mit wenig Aufwand zu guten Noten kommen würden.
Gemäss dem Bezirksgericht Baden fehlt so – je nach Fächerauswahl im Masterstudiengang – das Grundlagenwissen. Beim Bezirksgericht sorgt man sich, dass auf diese Weise wichtige Grundlagenfächer durch praxisferne Nebenfächer ausgetauscht werden können und die Studenten dennoch gleich viele Credits erhalten. Zudem gebe es zu viele Teilfächer und Multiple-Choice-Prüfungen, teilweise würden fächerübergreifende Prüfungen wie beim Lizenziat fehlen.
“Prüfungsfächer werden abgehakt”
Gleicht sieht das die Berner Oberrichterin Danièle Wüthrich-Meyer, die auch Präsidentin der kantonalen Anwaltsprüfungskommission ist. Den Grund für die Verschlechterung des Niveaus sieht sie vor allem darin, dass gewisse Fächer im Bachelorstudium abgeschlossen und im Masterstudium nicht notwendigerweise vertieft werden müssten: «Die Bologna-Studenten schliessen die einzelnen Prüfungsfächer während des Studiums der Reihe nach ab und haken sie dann auch ab.» Damit drohe ein Verlust an Grundwissen und ein Unvermögen, spezifische Fragen und Sachverhalte in einen grösseren Zusammenhang zu stellen.
Wahlmöglichkeiten führen zu weniger Vertiefung
Auch bei Anwälten stösst die Bologna-Reform auf Kritik. Marcel Amrein, Chief Operating Officer der Anwaltskanzlei Niederer Kraft & Frey, sagt zum Beispiel: «Früher lag der Fokus klar auf Kernfächern wie zum Beispiel dem ZGB und dem OR.» Bologna räume dagegen vor allem im Masterstudium viel mehr Wahlmöglichkeiten im Vergleich zum früheren Lizenziatssystem ein. Amrein: «Das kann dazu führen, dass man heute eine weniger vertiefte Ausbildung in diesen zentralen Fächern als noch zu Lizenziatszeiten hat.»
Marianne Heer, Kantonsrichterin und Präsidentin der Luzerner Anwaltsprüfungskommission, kritisiert: «Die heute mögliche Rosinenpickerei im Studium führt zu einer Senkung des Niveaus.» Zudem führe das Internet dazu, dass man sich nicht mehr ein grosses Wissen aneigne, sondern einfach bei Bedarf punktuell schnell etwas abrufe. Heer schlägt vor, dass man «Fächer, die zum Grundwissen eines Anwalts gehören, wieder zur Pflicht macht». Im Masterstudiengang sollten diese Fächer auch geprüft werden.
Auch Karin Scherrer Reber hat einen Lösungsvorschlag: «Das Grundlagenstudium müsste wieder stärker gewichtet werden. Und es sollte nicht in erster Linie um das möglichst einfache Sammeln von Credits gehen.» Laut Bezirksgericht Baden sollten wichtige Grundlagenfächer und Fächer, die zusammengehören, in einer umfassenden schriftlichen Prüfung geprüft werden.