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Plädoyer 6/12
18.11.2012
Letzte Aktualisierung:
04.10.2013
Das französische Recht sei doch nahe mit dem schweizerischen verwandt und sicher bestünden viele Parallelen. Das sagt man mir immer wieder, und im Grundsatz ist es sicher richtig. In den Einzelheiten liegen aber die beiden Rechtssysteme doch erstaunlich weit auseinander. Das französische Recht leidet vor allem an einem überholten, oft nicht mehr gerechtfertigten Formalismus, der mit den Realitäten des Wirtschaftslebens schwer vereinbar ist. Vo...
Das französische Recht sei doch nahe mit dem schweizerischen verwandt und sicher bestünden viele Parallelen. Das sagt man mir immer wieder, und im Grundsatz ist es sicher richtig. In den Einzelheiten liegen aber die beiden Rechtssysteme doch erstaunlich weit auseinander. Das französische Recht leidet vor allem an einem überholten, oft nicht mehr gerechtfertigten Formalismus, der mit den Realitäten des Wirtschaftslebens schwer vereinbar ist. Vor allem trägt aber die Kurzlebigkeit der Gesetze zu einer wachsenden Rechtsunsicherheit bei, die gerade von Schweizer Akteuren zu Recht stark kritisiert wird.
Das französische Zivilprozessrecht unterscheidet sich stark vom schweizerischen. Zum Beispiel können im Gerichtsverfahren über Monate hinweg Schriftsätze ausgetauscht werden, ohne dass sich der Richter zur Sache äussert oder die Schriftsätze inhaltlich zur Kenntnis nimmt. Er beschränkt sich auf eine formelle Überwachung des Austauschs der Schriftsätze und Beweismittel und konfrontiert sich erst am mündlichen Haupttermin mit den Argumenten der Parteien. Diese Konfrontation beschränkt sich oft auf eine stumme Anhörung der beiden von den französischen Anwälten so geschätzten Plädoyers. Eine echte Auseinandersetzung mit der Argumentation und Rückfragen während der Verhandlung gibt es nur selten. Böse Zungen behaupten, das sei so, weil der Richter an diesem Haupttermin vom Fall erst Kenntnis erhalte und somit gar nicht in der Lage sei, die richtigen Fragen zu stellen.
Da die Handels- und Arbeitsgerichte in erster Instanz mit Laienrichtern besetzt sind, besteht eine Tendenz, mehr nach Gerechtigkeit als nach Recht zu urteilen, was eine Häufung der Rekurse an die zweite, mit Berufsrichtern besetzte Instanz zur Folge hat. Gerade in international ausgerichteten Fällen können die erstinstanzlichen Gerichte kleinerer Städte überfordert sein. Das Streben der Laienrichter nach Gerechtigkeit hat aber zuweilen auch positive Folgen, indem gordische Knoten durchhauen und komplexe Verfahren mit einem salomonischen Urteil rasch abgeschlossen werden können.
Marco Itin ist seit vierzehn Jahren in Paris als Rechtsanwalt tätig, seit rund zehn Jahren in seinem eigenen Büro. Davor hat er das Zürcher Anwaltspatent erworben und in Zürcher und Basler Anwaltsbüros gearbeitet. Er berät und vertritt Schweizer Firmen und deren Tochtergesellschaften in ganz Frankreich vor Gericht.