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Plädoyer 2/11
04.04.2011
Letzte Aktualisierung:
04.10.2013
Brief nach Schanghai
Das Wort «Überraschung» beschreibt für mich das Leben und das Studium hier in Freiburg am besten. Als ich in Schanghai ein Stipendium und damit die Chance erhalten habe, während sechs Monaten an der Universität Freiburg mein Masterstudium in Jus fortzusetzen, hatte ich riesige Freude. Vorbereitet fühlte ich mich gut: Ich hatte westliche Bücher gelesen, westliche Filme gesehen und westliche...
Brief nach Schanghai
Das Wort «Überraschung» beschreibt für mich das Leben und das Studium hier in Freiburg am besten. Als ich in Schanghai ein Stipendium und damit die Chance erhalten habe, während sechs Monaten an der Universität Freiburg mein Masterstudium in Jus fortzusetzen, hatte ich riesige Freude. Vorbereitet fühlte ich mich gut: Ich hatte westliche Bücher gelesen, westliche Filme gesehen und westliche Musik gehört - und das europäische Rechtssystem war mir nicht unbekannt, da das chinesische viel davon übernommen hat. Dennoch ist vieles ganz anders hier, als ich dachte!
Die Vorlesungen sind zwar ähnlich wie in China, allerdings gibt es dort weder Seminare noch Übungen. Zu Hause beantworten die Professoren die Fragen während der Vorlesung, nur so viele halt, wie bei den vielen Studierenden in China möglich ist. In Freiburg lernt man Professoren bei geselligen Anlässen (zum Beispiel im Skilex-Seminar) auch etwas näher kennen. In China haben wir keine solchen Möglichkeiten: Die Professoren sind distanziert und werden viel mehr verehrt; man sagt, dein Professor ist wie dein strenger Vater.
Juristisch beschäftige ich mich hier mit dem gutgläubigen Rechtserwerb nach schweizerischem Zivilrecht. Zwischen der chinesischen und der schweizerischen Rechtsordnung gibt es zahlreiche Unterschiede: In China gibt es zum Beispiel keine Kodifikationen wie im ZGB oder OR. Wir haben nur einzelne Bestimmungen, etwa mit vertragsrechtlichem Inhalt, die kein kohärentes System bilden. Ein Kollege hier findet es unmöglich, dass in China lediglich der Staat und das Bauernkollektiv Grundeigentum haben und alle anderen nur über zeitlich befristete Nutzungsrechte verfügen.
Auch die umfangreiche Jus-Bibliothek war eine Überraschung für mich. Sie ist praktisch und bequem und frei zugänglich für die Studierenden. Mir fällt auf, dass man hier im Studium die ganze Zeit schreibt; bei uns wird immer nur gelesen, gelesen, gelesen ... Ist dies vielleicht ein Zeichen, dass die Studierenden hier kritischer sind? Eines aber ist gleich: Vor Prüfungen findet man in der Bibliothek weder hier noch in China Platz!
Als Nächstes werde ich das Bundesgericht in Lausanne besuchen. In der verbleibenden Zeit werde ich bestimmt auf weitere Überraschungen stossen, von denen ich euch später, nach meiner Rückkehr nach Schanghai, berichten werde.
Junke Liang, 25, studiert Jus im Master an der East China University in Schanghai. Von November 2010 bis Mai 2011 hält er sich mit einem von der Sino Swiss Science and Technology Cooperation finanzierten Stipendium am Lehrstuhl für Zivil- und Handelsrecht der Universität Freiburg auf.