Die Massnahmen während der Corona-Pandemie, der Milliardenrettungsschirm für den Energiekonzern Axpo und die Übernahme der Credit Suisse durch die UBS: Drei Mal machte der Bundesrat in den letzten vier Jahren von Notrecht Gebrauch – so oft, dass man fast schon von einem «Gewöhnungseffekt» sprechen könne, meint der Zürcher Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser.
Notrecht bedeutet: Regierung oder Parlament übergehen in Ausnahmesituationen demokratische Instanzen und erlassen Verordnungen und Verfügungen.
Als Rechtsgrundlage dienen die Artikel 184 und 185 der Bundesverfassung. In ersterem heisst es, dass der Bundesrat Verordnungen und Verfügungen erlassen kann, wenn die Wahrung der Interessen des Landes es erfordert. Und laut Artikel 185 darf er Massnahmen ergreifen, um eingetretenen und unmittelbar drohenden schweren Störungen der öffentlichen Ordnung oder der inneren oder äusseren Sicherheit zu begegnen.
An kritischen Wortmeldungen fehlte es nach dem mehrfachen Gebrauch des Notrechts in den vergangenen Jahren nicht. Giovanni Biaggini, Staatsrechtsprofessor an der Universität Zürich, hielt in einem Beitrag für das Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht schon im Winter 2020 fest: Die Notrechtsbestimmung der Bundesverfassung sei während der Pandemie von einer «Polizei- zur Wohlfahrtsstaats-Generalklausel» geworden.
Nach der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS im Frühjahr 2023 erachtete es Andreas Stöckli, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Freiburg, als «erklärungsbedürftig», weshalb man in dem Fall nicht die Too-big-to-fail-Gesetzgebung angewendet hatte (plädoyer 3/2023). Diese war nach der staatlichen UBS-Rettung 2008 für solche Fälle geschaffen worden.
In einem Bericht vom Juni setzte sich der Bundesrat mit den Notrechtsanwendungen in den letzten Jahrzehnten auseinander. Er reagiert damit auf verschiedene politische Vorstösse. Für den Bericht zogen Bundesrat und Bundesamt für Justiz eine externe Expertengruppe bei. Ihr gehörten fünf Staatsrechtsprofessorinnen und -professoren an.
Laut Bericht plant der Bundesrat, künftig «die Kriterien beim Erlass von Notrecht klarer aufzuzeigen». Die Rolle des Bundesamts für Justiz soll gestärkt und die Gesetzgebung krisenfester werden, damit Gesetze auch in Ausnahmesituationen angewendet werden können. Verfassungsrechtlich soll alles beim Alten bleiben: Die heutigen Artikel 184 und 185 der Bundesverfassung würden als Rechtsgrundlagen für die Notrechtsanwendung genügen.
Gemäss Bericht soll der Bundesrat immer dann notrechtlich handeln dürfen, wenn «fundamentale Rechtsgüter akut gefährdet sind, für die er eine Schutzpflicht hat». Entscheidend sei die «Systemrelevanz des Schutzgutes». Mit Notverordnungen müsse der Bundesrat auch von Verfassungsbestimmungen abweichen können, heisst es im Bericht.
Umfassende Aufarbeitung gefordert
Die Freiburger Staatsrechtsprofessorin Eva Maria Belser war Mitglied der Expertengruppe. Sie hält den Bericht des Bundesrats grundsätzlich für «wertvoll», vor allem weil das Krisenmanagement der Verwaltung verbessert und die Rolle des Bundesamts für Justiz gestärkt werden solle.
Sie bedauert aber, dass der Bericht zu stark auf die Verwaltung fokussiert. Die Auswirkungen des Notrechts auf die Rechtsordnung als Ganzes und auf die Gesamtgesellschaft seien nicht aufgearbeitet worden. Dies gelte besonders für die Pandemie: «Damals wurden die Grund- und Menschenrechte teils massiv eingeschränkt, Menschen starben einsam in Pflegeheimen. All diese Verletzungen und Traumata modern bei Betroffenen und Angehörigen weiter und kamen bislang nicht gebührend zur Sprache», sagt Belser.
Zur Anwendung von Notrecht würde auch eine nachträgliche Analyse des Geschehens und seiner Auswirkungen gehören. So hätten sich die Behörden bislang zu wenig mit den Folgen einzelner Massnahmen auseinandergesetzt: «Gibt es etwa Schülerinnen und Schüler, die aufgrund der Schulschliessungen einen Bildungsrückstand haben?» Den Wunsch nach einer Aufarbeitung der Pandemie und anderer Krisen habe sie in der Expertengruppe zum Ausdruck gebracht – damit aber kaum Gehör gefunden.
Auch der Basler Staatsrechtler Markus Schefer vermisst im bundesrätlichen Bericht eine umfassende Auseinandersetzung mit der Pandemie. «Es herrscht bei den Verantwortlichen die Haltung vor, dass man es eigentlich ganz gut gemacht habe.» Schefer verweist auf die Pflegeheime, die während der Pandemie teils Gefängnissen geglichen hätten. «Wie viele Personen waren damals von den sehr drastischen Einschränkungen betroffen?» Solche Fragen müssten noch geklärt werden. Es sei der falsche Ansatz gewesen, für eine Aufarbeitung nur Experten für Verfassungsfragen beizuziehen. «Man müsste sich Zugang zu den Lebensrealitäten Betroffener schaffen, zum Beispiel von Heimbewohnern», sagt Schefer.
«Befugnisse des Bundesrats umstritten»
Auch an den verfassungsrechtlichen Schlussfolgerungen des Bundesrats im Bericht gibt es Kritik. So zeigt sich Staatsrechtsprofessor Andreas Glaser «erstaunt» über das Fazit, dass der Bundesrat mit Notverordnungen auch die Verfassung übersteuern könne. «Diese Frage ist staatsrechtlich höchst umstritten», sagt Glaser. Der Wortlaut der Bundesverfassung sehe das nicht vor. «In der alten Bundesverfassung war der Bruch von Verfassungsrecht durch Notrecht gar ausdrücklich nicht möglich.»
Und selbst im Zweiten Weltkrieg habe der Bundesrat für sogenannte extrakonstitutionelle Notrechtsbefugnisse eine Vollmacht des Parlaments benötigt. Im Gegensatz dazu seien während der Pandemie grundlegende politische Rechte wie die Demonstrationsfreiheit und das Initiativrecht weitgehend ausser Kraft gesetzt worden – unter Androhung von Strafen.
Glaser kritisiert, dass sich der bundesrätliche Bericht kaum mit der heiklen Frage des extrakonstitutionellen Notrechts auseinandersetze. «Es ist nicht klar, ob es überhaupt eine Diskussion darüber gab. Allfällige Minderheitenmeinungen kommen nicht zur Sprache.» Glaser fragt sich deshalb, ob die beigezogenen Staatsrechtsexperten «kritisch genug» waren.
So etwas wie eine Minderheitenmeinung kommt in dem Bericht derweil zum Ausdruck, als es um die Artikel 184 und 185 der Bundesverfassung geht. Dort heisst es, dass der Wortlaut dieser Bestimmungen «grossmehrheitlich als nicht zeitgemäss betrachtet» wird. Der Bundesrat war allerdings anderer Auffassung und will auf eine Änderung verzichten
Belser wiederholt gegenüber plädoyer ihren Standpunkt, den sie in der Expertengruppe vertrat: «Die Unterscheidung zwischen äusserer und innerer Sicherheit, die in Artikel 185 gemacht wird, ist nicht mehr sinnvoll.»
Die meisten Anwendungsfälle von Notrecht zeichneten sich genau dadurch aus, dass sie nationenübergreifende Phänomene beträfen. Das habe sich bei der CS-Übernahme gezeigt, wo es stark um den international verflochtenen Finanzmarkt gegangen sei. Andreas Glaser erachtet die Trennung zwischen äusserer und innerer Sicherheit als «willkürlich». Eine Verfassungsbestimmung zum Thema Notrecht müsste festlegen, wo dessen Grenzen liegen.
Begriff «Systemrelevanz» wird überstrapaziert
Laut Bundesratsbericht soll bei der Anwendung von Notrecht die «Systemrelevanz des Schutzgutes» massgeblich sein. Diese Formulierung steht nicht in der Verfassung und überzeugt Glaser nicht: «Systemrelevanz ist ein Modebegriff. Es gibt zum Beispiel Service-public-Berichte, in denen die Postauto AG als systemrelevant bezeichnet wird.» Der Bundesrat schaffe sich mit dieser Formulierung einen sehr weiten Spielraum für die Anwendung von Notrecht.
Eva Maria Belser fände das Abstellen auf «individuelle oder kollektive Rechtsgüter, für die der Staat eine Schutzpflicht hat» ein tauglicheres Kriterium für die Notrechtsanwendung. «Eine Bank mit Notrecht zu retten, weil sie systemrelevant sein soll – diese Argumentation gefällt mir nicht.» Lege man aber konkret dar, dass durch den Zusammenbruch einer Bank etwa auch die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern gefährdet sei, präsentiere sich die Lage anders.
Neben dem Bundesrat traf auch das Parlament Vorkehrungen zum Umgang mit Notrecht. So passte es etwa das Parlamentsgesetz an. Neu sollen zum Beispiel die Räte und Organe des Parlaments in einer Notlage schneller einberufen und Sitzungen notfalls auch virtuell durchgeführt werden können.
Den Staatsrechtsexperten geht dies nicht weit genug. Markus Schefer sagt: «Das Problem ist, dass die parlamentarischen Kommissionen in Notsituationen in der Regel deutlich schlechter informiert sind als der Bundesrat.
Dieses Gefälle müsste man so weit wie möglich beheben.» Er befürwortet eine ständige Notrechtskommission des Parlaments, die über die entsprechende Erfahrung und Kompetenz im Umgang mit Notsituationen verfügt. Dieser Idee kann auch Eva Maria Belser etwas abgewinnen. Eine Kommission sollte ihrer Meinung nach auch die Kompetenz haben, den Bundesrat überhaupt erst zu einer Anwendung von Notrecht zu berechtigen oder zu verpflichten. «Es sind ja auch Konstellationen denkbar, in denen das Parlament ein entschiedenes Handeln in einer Notsituation befürwortet – der Bundesrat sich aber vor dieser Verantwortung drückt.»
Mehr direktdemokratische Mitwirkung
Belser schlägt vor, künftig die neu geschaffene Schweizerische Menschenrechtsinstitution zu konsultieren, wenn es bei der Notrechtsanwendung um Grund- und Menschenrechte geht.
Ihr Zürcher Kollege Andreas Glaser regt an, in Notrechtsfällen vermehrt über direktdemokratische Mitwirkung nachzudenken. «Man muss nach neuen Wegen suchen, um die Stimmbevölkerung besser einzubeziehen.» Zu denken sei etwa an ein Referendum gegen Notverordnungen. Auf diese Weise könne auch der Staatsskepsis begegnet werden. Sie sei durch die Notrechtsanwendungen in den vergangenen Jahren grösser geworden.
Mitglieder der Expertengruppe
Die wissenschaftliche Begleitgruppe zum Bericht über die Notrechtspraxis bestand aus fünf Professorinnen und Professoren für Staatsrecht: Eva Maria Belser (Freiburg), Maya Hertig (Genf), Andreas Kley (Zürich), Jörg Künzli (Bern) und Urs Saxer (Zürich).