Der Satz des früheren Politikers, Arztes und Schriftstellers Jacob Michael Nay prangt noch heute gross und in romanischer Sprache an einer Hausfassade im Bündner Dorf Trun: «Nur der, der für Recht und Wahrheit kämpft, verdient Sieg und Lorbeeren.» Für den Enkel Giusep Nay hat der Spruch auch nach über 100 Jahren nichts an Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Er ist das Fundament seiner Handlungen. Nur so ist sein kompromissloser Einsatz für den Rechtsstaat, die Schwachen und aktuell die grosse Unterstützung für den Whistleblower Adam Quadroni zu begreifen. Dieser hatte das Baukartell im Unterengadin aufgedeckt.
Nay mischt sich in politische Debatten ein
Nachdem der Bauunternehmer an die Öffentlichkeit gelangte, fand er beim ehemaligen Bundesrichter Nay sofort Unterstützung. «Ich begleite ihn persönlich, koordiniere Medienanfragen und habe ihm geholfen, neue Anwälte zu verpflichten.»
Der Fall sei derart vielschichtig, dass kein Rechtsvertreter das alleine stemmen wolle, sagt Nay. Er wirke als Verbindung zwischen Quadroni und seinen Anwälten. Für den Whistleblower ist das ein Jackpot. Denn wenn Giusep Nay etwas beherrscht, dann ist es das: Juristenlatein in Alltagssprache zu übersetzen. Dutzende Beiträge in den Medien belegen das.
Es gibt wenige Bundesrichter, die sich so konsequent und kämpferisch in politische Debatten einmischen. Nach Ansicht des französischen Denkers und Juristen Montesquieu sollte ein Richter nicht mehr sein als der «Mund des Gesetzes». Nay hingegen glaubt: Wenn der Rechtsstaat angegriffen werde, müsse ihn ein Bundesrichter – ob noch im Amt oder nicht – «bedingungslos verteidigen».
Es gab auch schon Morddrohungen
Beinahe alle Initiativen der SVP – von der Minarett-, Einwanderungs-, Ausschaffungs- bis zur Selbstbestimmungsinitiative – wertet Nay als Angriff auf die Grund- und Menschenrechte. Doch diese würden die unabdingbare Grundlage der Demokratie bilden, «und zwar auch der direkten Demokratie gemäss unserer Bundesverfassung». Der Mythos, das Volk habe immer recht, müsse entmythologisiert werden, sagt der 76-Jährige. Wenn Demokratie bedeute, dass das Volk auch willkürliche und diskriminierende Gesetze machen könne, unterscheide sie sich nicht von einer Diktatur.
In Gesprächen wird Nay häufig mit dem Argument konfrontiert: «Die Rechtspopulisten haben Erfolg und werden bewundert.» Der ehemalige Bundesrichter sieht darin das grosse Problem unserer heutigen Zeit. «Man sieht nicht, dass dies gefährliche und keinesfalls zu bewundernde Erfolge sind. Denn das Volk – worunter eine rechtskonservative Gruppe ohnehin nur sich selber versteht – über das Recht zu stellen, dient den Rechtspopulisten einzig zur eigenen Machtentfaltung.» Nay fordert von den anderen Parteien, solchen Tendenzen in ihrem politischen Programm entschieden entgegenzutreten. Sie sollten sich den Schutz des Rechtsstaats auf die Fahne schreiben. Er nimmt auch das Bundesgericht und alle Richter in die Pflicht: Diese und allen voran der Bundesgerichtspräsident müssten ihre Zurückhaltung ablegen und sich gegen Angriffe auf den Rechtsstaat wehren: «Also auch öffentlich Stellung beziehen.»
Giusep Nay nannte Probleme schon immer beim Namen. So erklärte er 2003 als miturteilender Richter der Öffentlichkeit, weshalb ein Einbürgerungsentscheid an der Urne ohne Begründung verfassungswidrig sei. «Die Legitimität unseres Rechts ist zwar in der Demokratie begründet. Aber auch die Demokratie ist nur legitim, wenn sie im Recht begründet ist.» Und als Mitglied des «Club Helvétique» bezeichnete er die Ausschaffungsinitiative als «Demokratieverluderung». Sein starkes Engagement gegen die Initiative brachte ihm damals auch Morddrohungen ein. Doch beim fast zwei Meter grossen Juristen prallen sie wirkungslos ab. «Nay lässt sich nicht beeinflussen. Er geht konsequent seinen Weg», heisst es von ehemaligen Weggefährten.
Eigentlich hätte er Priester werden sollen
Das muss schon als Kind so gewesen sein: Als elftes von zwölf Kindern im Jahr 1942 in Trun GR in der Surselva zur Welt gekommen, hätte er eigentlich Priester werden sollen. Doch Nay entschied sich für ein Jus-Studium in Freiburg und schloss in Zürich mit einer Dissertation zum Thema «Das Jugendstrafverfahren im bündnerischen Recht» ab. Es folgte eine Karriere als Anwalt in Chur und als nebenamtlicher Richter am Bezirksgericht Plessur. Später wurde er Kantonsrichter in Graubünden und ausserordentlicher Ersatzrichter am Bundesgericht. 1989 bis 2006 war Nay auf Vorschlag der CVP Bundesrichter, 2005/2006 Präsident des Bundesgerichts. Seit seinem Ruhestand engagiert er sich weiterhin als Verfechter der rechtsstaatlichen direkten Demokratie und schreibt unermüdlich juristische Stellungnahmen und Rechtsexpertisen.
Als ihn etwa der Intendant Giovanni Netzer um Rat und Hilfe für den Aufbau seines Musiktheaters «Origen Festival Cultural» auf dem Julierpass bat, packte Nay sofort mit an und stellte ihm die «juristische Infrastruktur» bereit. Zahlreiche weitere gemeinnützige Institutionen und Stiftungen beriet er seit seiner Pensionierung juristisch. Nach einem Herzinfarkt vor ein paar Jahren verlangsamte er den Arbeitstakt. Heute verbringe er vermehrt Zeit mit den Familien seiner drei Töchter und den sieben Enkelkindern. Nay freut sich auf den Winter: «Ich habe allen – bis zum Jüngsten – das Skifahren beigebracht.» Kein Wunder: Bei Nay fängt die Piste schon vor der Haustür an. Sein Haus oberhalb von Valbella GR ist umringt von Skigebieten. Mit etwas Glück trifft er dort auch seinen Nachbarn Roger Federer auf Skiern. «Das freut die Enkelkinder.»