Eine Burkaträgerin wird hinter ihrem Rücken als «Pinguin» bezeichnet, eine andere Frau als «fette Schlampe». Hilfesuchende werden abgekanzelt, unter Druck gesetzt, überwacht. Die Missstände auf dem Sozialamt der Stadt Dübendorf, mit knapp 30 000 Einwohnern die viertgrösste Stadt im Kanton Zürich, sorgen seit Jahren für Schlagzeilen. Und sie waren jüngst die Ursache für ein lokalpolitisches Erdbeben: Der Dübendorfer SVP-Sozialvorsteherin wurde im Herbst von ihren Stadtratskollegen die Zuständigkeit für die Sozialhilfe entzogen. Eine externe Untersuchung läuft.
Ein derart schikanöser Umgang wie in Dübendorf mag die Ausnahme darstellen. Gänzlich isoliert betrachtet werden kann er indes nicht. Das Klima, dem Sozialhilfebezüger hierzulande ausgesetzt sind, ist allgemein rau. Medial wird das Thema Sozialhilfe vor allem dann behandelt, wenn es um angebliche Missbrauchsfälle geht, wie zuletzt auch eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zutage förderte. Und was den Rechtsschutz betrifft, so sind Sozialhilfebezüger in mehreren Bereichen schlechtergestellt als andere Rechtsuchende. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV). Sie wurde von der Universität Basel und der Luzerner Hochschule für soziale Arbeit durchgeführt. In der Projektgruppe waren unter anderem Mitglieder kantonaler und kommunaler Sozialbehörden sowie von Hilfsorganisationen vertreten. Beigezogen wurden auch Experten von Beratungs- und Ombudsstellen. Befragungen und Fallstudien gab es in vier Kantonen: in Genf, Freiburg, St. Gallen und Zürich. Der Schlussbericht ortet Defizite und Aufholbedarf in mehreren Bereichen. Ein Problemfeld ist das Verfahrensrecht. Einsprachefristen sind von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt – und gemäss BSV-Bericht mancherorts zu kurz. Im Kanton St. Gallen zum Beispiel betragen sie gerade einmal 14 Tage, in Basel-Landschaft gar nur 10 Tage. Und auch in Kantonen, die die Studie nicht vertieft unter die Lupe nahm, ist das Problem virulent: Im Aargau zum Beispiel würden die Fristen in der Regel zwar 30 Tage betragen, sagt Annick Grand, Co-Bereichsleiterin des Kirchlich Regionalen Sozialdienstes Kanton Aargau (Caritas Aargau): «Einige Gemeinden kennen jedoch Zwischenfristen von zehn Tagen für Stellungnahmen. Diese zu wahren ist für rechtsunkundige Personen oft ein Ding der Unmöglichkeit.»
Anwälte häufig unentbehrlich, aber rar
Rechtsanwalt Tobias Hobi, der Hilfesuchende für die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS) in Zürich berät, weist darauf hin, dass für Betroffene häufig nicht einmal die Gerichtsferien gelten. «Geraten sie während dieser Zeit in Not, haben sie Pech. Sie selbst müssen die Fristen auch zu diesen Zeiten einhalten.»
Der Bericht ortet zudem ein allzu hohes Mass an Zurückhaltung seitens der Behörden, wenn es um die unentgeltliche Rechtsverbeiständung geht – gerade vor dem Hintergrund, dass die Fragen im Sozialhilferecht oft komplex sind und die Betroffenheit existenziell ist. Gefordert wird, dass auch im verwaltungsinternen Verfahren vermehrt Vertretungen zugelassen werden. Auf dieser Stufe würden nämlich die Weichen für den Ausgang eines Falles gestellt. Gerade für den Rechtsschutz seien Anwälte unentbehrlich, konstatiert der BSV-Bericht. Das Problem: Spezialisten im Sozialhilferecht sind rar. Grund dafür ist die prekäre Finanzierung im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege. Sie wird zurückhaltend gewährt, gilt der Sozialhilfebereich für das Bundesgericht doch als «einfaches Rechtsgebiet», weil häufig die Untersuchungsmaxime zum Tragen komme. «Diese Sichtweise trägt der Komplexität des Sozialhilferechts und den besonderen Umständen von Armen keine Rechnung», sagt Rechtsanwalt Hobi. Im Sozialhilferecht spiele das behördliche oder richterliche Ermessen eine grosse Rolle. «Und Ermessensfehler anzufechten ist ohne besondere Rechtskenntnisse sehr schwierig.»
Die Zurückhaltung bei der unentgeltlichen Rechtspflege schafft für Anwälte einen Negativanreiz. «Lehnt ein Gericht die unentgeltliche Rechtspflege ab, zahlt niemand. Selbst wenn Entschädigungen gutgeheissen werden, sind sie meist nicht kostendeckend», sagt Hobi. Die Folge: «In keinem Kanton wird Sozialhilferecht in den Suchhilfen der Anwaltsverbände als Rechtsbereich aufgeführt.»
Gemäss BSV-Bericht kommt den Sozialdiensten eine heikle Doppelrolle zu: Auf der einen Seite seien sie die «Bösen» und müssten sanktionieren. Auf der anderen Seite versuchten sie, die Sozialhilfeempfänger zu unterstützen. Diese Unterstützungsaufgabe hätten die meisten Dienste allerdings noch wenig verinnerlicht. Unterstützung gebe es vor allem dann, wenn sich die Interessen der Sozialdienste mit jenen der Klienten decken – zum Beispiel wenn Ansprüche gegenüber anderen Einrichtungen wie der IV geltend gemacht werden. «Es hat sich gezeigt, dass der Auftrag zu Hilfe und Betreuung notwendigerweise auch von Sozialdiensten wahrgenommen werden muss. Sie könnten diesen Auftrag nicht an Beratungsstellen oder Anwälte delegieren», heisst es im Bericht.
Die schwierige Doppelrolle der Ämter hat auch Alexander Suter ausgemacht, der im Fachbereich Recht und Beratung der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) tätig ist. Er erachtet es als zielführender, auf eine Auslagerung der Beratungstätigkeit hinzuwirken.
Dass sich die Sozialdienste gerade auch mit juristischer Unterstützung schwertun, liegt auch am Personal: Rechtsanwalt Hobi bemängelt, dass dieses häufig nicht juristisch ausgebildet ist. Das wirke sich vor allem auch auf die Qualität der Entscheide aus: «Die Behördenmitarbeiter verfügen oft nicht über die rudimentärsten Kenntisse über Grundrechte oder von Verwaltungs- oder Verfahrensrecht. Dabei fällen sie Entscheide, die für die Betroffenen einschneidend sind.» Caritas-Mitarbeiterin Grand machte im Kanton Aargau denselben Missstand aus: «Es werden viele Entscheide gefällt, die materiell einfach nicht richtig sind. Das geschieht nicht unbedingt willentlich, sondern weil auf den Sozialdiensten juristische Laien arbeiten.»
Viel zu wenig Ressourcen für die Beratung
Tobias Hobi sagt allerdings auch: «Das fehlende juristische Wissen ist nur ein Teil des Problems. Wir stellen fest, dass auch dort, wo Juristen am Werk sind, teilweise aus einem moralisierenden Sozialhilfeverständnis heraus, unhaltbare Entscheide gefällt werden.»
Die zentrale Forderung der Studie, die sich wie ein roter Faden auch durch die Analysen der Themenfelder zieht: Es müssen mehr Beratungsstellen für Arme geschaffen werden. Und diese sollten in erster Linie staatlich finanziert werden. Tobias Hobi stimmt zu: «Der Zugang zu Beratung ist sehr, sehr schwierig.» Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilfe in Zürich berate pro Jahr um die 1200 Klienten. «Und etwa 1000 Anrufe können wir nicht entgegennehmen», so Hobi.
Noch prekärer ist die Situation im Kanton Aargau. Dort gibt es nur eine Auskunftstelle: die örtliche Caritas. «Bei uns aber sind lediglich Sozialarbeiterinnen tätig, keine Juristen», erklärt Annick Grand. Die Caritas versuche trotzdem, Verfügungen auch auf ihre juristische Korrektheit zu überprüfen. Stellen sie gravierende Mängel fest, könne sich die Caritas vom kantonalen Sozialdienst beraten lassen. «Dieser teilt uns aber nur mit, ob unsere Einschätzungen stimmen oder nicht. Sollte eine Beschwerde angezeigt sein, müssen wir eine solche selbst einreichen.» Eine qualifizierte juristische Beratung bieten im Aargau nur Rechtsanwälte an. Einen Vorstoss der SP für die kantonale Finanzierung einer Rechtsberatungsstelle für Armutsbetroffene lehnte der Grosse Rat im letzten August ab.
In der Stadt Zürich ist man diesbezüglich weiter: Im Rahmen eines Pilotprojekts unterstützt die Stadt die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilfe für die nächsten drei Jahre mit einem Betrag von total 225 000 Franken.
Kein “Akt der Barmherzigkeit”
«Zentral war für uns die Erkenntnis, dass wir im Sozialhilfebereich die rechtliche Position der Hilfesuchenden stärken müssen», erklärt Sozialvorsteher Raphael Golta (SP). «Vielerorts dominiert die Meinung, dass Sozialhilfe ein Akt der Barmherzigkeit darstellt – sie ist aber ein Recht», sagt er.
Der Zürcher Gemeindepräsidentenverband äussert nach wie vor die Befürchtung, dass eine staatliche Unterstützung von Beratungsstellen die «Prozesswut» der Betroffenen fördere. Das lässt Golta nicht gelten: «Am Ende sind es die behördlichen Instanzen, die über Sozialhilfefragen entscheiden. Wird vermehrt juristische Expertise in die Verfahren einbezogen, hilft das, die Qualität der Entscheide zu stärken.»
Skos-Mitarbeiter Alexander Suter bezeichnet das Zürcher Modell als «Königsweg». Auch Caritas-Mitarbeiterin Grand blickt vom Aargau aus etwas neidisch auf die Hauptstadt des Nachbarkantons. Gerade im Zusammenhang mit staatlich finanzierten Beratungsstellen ertönt deshalb immer wieder der Ruf nach einer Vereinheitlichung des Sozialhilferechts und damit auch des Rechtsschutzes für Arme. Die Vorteile eines solchen Rahmenabkommens sind auch in der BSV-Studie ein Thema.
Annick Grand würde eine Vereinheitlichung auch deshalb begrüssen, weil die Regelungen – etwa beim Verfahrensrecht – nicht nur unter den Kantonen, sondern innerhalb eines Kantons auch unter den Gemeinden stark divergieren. Im Aargau nähmen die kommunalen Unterschiede fast «willkürliche» Ausmasse an.
«Es wäre eine grosse Erleichterung, wenn es einheitlichere Regeln und eine einheitliche Rechtsprechung gäbe», meint auch Anwalt Hobi. Stadtrat Golta bezeichnet den «Flickenteppich» als Problem, äussert gegenüber einer Vereinheitlichung und einem Rahmengesetz aber leise Vorbehalte: Der Zugang des Bundes zum Thema Sozialhilfe sei «bislang ein ziemlich repressiver». Im Wesentlichen habe er bisher einzig die Strafbarkeit des Missbrauches und den Datenabtausch mit Migrationsbehörden geregelt.
Sozialhilfe im Fokus der Migrationsbehörden
Das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) sieht gerade auch im Umgang mit Sozialhilfe beziehenden Ausländern weitreichende Änderungen vor. Konnte früher zum Beispiel eine Niederlassungsbewilligung nach 15 Jahren praktisch nicht mehr widerrufen werden, so gilt das heute nicht mehr. Gemäss Artikel 63 Absatz 2 kann sie in eine Aufenthaltsbewilligung zurückgestuft werden, wenn die im neuen Artikel 58a verankerten Integrationskriterien nicht erfüllt sind. Dazu gehört unter anderem die «Teilnahme am Wirtschaftsleben». Auch andere Bewilligungen und Verfügungen sind gemäss Artikel 62 Absatz 1 litera e widerrufbar, wenn eine Person, für die sie zu sorgen hat, auf Sozialhilfe angewiesen ist. Dies führt dazu, dass Ausländer wegen Sozialhilfebezug aus der Schweiz weggewiesen werden können, auch wenn sie seit Jahrzehnten in der Schweiz leben und Steuern zahlen. Die von Nationalrätin Samira Marti (SP) eingereichte parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» fordert eine Anpassung des AIG. Nach zehn Jahren in der Schweiz soll eine Wegweisung ausschliesslich aus dem Grund des Sozialhilfebezugs nicht mehr möglich sein, es sei denn, die Person habe die Bedürftigkeit mutwillig herbeigeführt oder mutwillig so belassen. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichts soll eine entsprechende Schutzfrist bei zehn Jahren angesetzt werden (BGE 144 I 266).