plädoyer: Der Bundesrat schlägt vor, für Klagen einer grossen Zahl von Geschädigten einige neue prozessuale Mittel einzuführen. Ist die Vorlage mit den Sammelklagen anderer europäischer Länder vergleichbar?
Claudia Biedermann: Die Europäische Union (EU) hat eine Richtlinie zum Umgang mit Verbandsklagen erlassen. Diese Richtlinie räumt den einzelnen Staaten viel Freiheit ein, wie sie den kollektiven Rechtsschutz gestalten wollen. Der bundesrätliche Vorschlag geht in einigen Bereichen deutlich weiter, als es die EU-Richtlinie vorsieht. Zum Beispiel soll es in der neuen Zivilprozessordnung (ZPO) die Möglichkeit zum Abschluss sogenannter Opt-out-Vergleiche geben. Also von Vergleichen, die für alle Leute wirksam sind, die nicht ausdrücklich erklären, dass das Ergebnis für sie nicht gelten soll. Die EU-Richtlinie schreibt dies nicht vor. Auch soll die Schweizer Verbandsklage in sämtlichen Rechtsgebieten möglich sein. Einige EU-Mitgliedstaaten sehen hier Beschränkungen vor, zum Beispiel, dass lediglich Konsumenten, nicht aber Aktionäre klageberechtigt sind. In der Schweiz fehlt eine solche Einschränkung.
Simon Fricker: Ich sehe das anders. Es trifft zwar zu, dass die EU-Richtlinie den Staaten eine Art Mustervorgabe macht und diese in der konkreten Ausgestaltung frei sind. Viele Staaten sind aber weitergegangen, als es die EU-Richtlinie vorsieht, zum Beispiel die skandinavischen Länder und die Niederlande. Diese Staaten sind auch weitergegangen als die Schweiz im vorliegenden ZPO-Entwurf: Dort gibt es für die Geschädigten von Streu- oder Massenschäden prozessuale Beweiserleichterungen, die Verfahren sind effektiver, die Rechte der Geschädigten besser geschützt als durch die Schweizer Vorlage. In einigen EU-Ländern sind anders als in der Schweiz auch Gruppenklagen möglich. Die klageberechtigten Verbände werden zum Teil staatlich unterstützt, und bei Schadenersatzklagen ist es in einigen Fällen Sache des Schädigers, die vermutete Höhe des Schadens zu widerlegen.
plädoyer: Kritiker eines verbesserten kollektiven Rechtsschutzes befürchten «US-amerikanische Zustände», also bei Massenschäden eine eigentliche Klageindustrie. Ist die Skepsis begründet?
Biedermann: Ja. Wie erwähnt sollen gemäss Bundesrat neu auch Opt-out-Vergleiche möglich sein, die alle potenziell Geschädigten einschliessen, ohne dass diese aktiv etwas dafür tun müssen. Auf diese Weise können sich extrem hohe angebliche Schadenbeträge ergeben. Solche Summen setzen Unternehmen unter einen enormen Druck – egal, ob die Forderungen berechtigt sind oder nicht. Die Unternehmen werden aus Angst um ihre Reputation dazu tendieren, einen Vergleich abzuschliessen. Mit Wahrheitsfindung oder Rechtsanwendung hat das nichts mehr zu tun – aber viel mit Geld. Denn solche Fälle sind für Prozessfinanzierer ein verlockendes Geschäftsmodell. Diese Vorlage steht quer zu unserem Rechtssystem und öffnet Zuständen wie in den USA Tür und Tor.
Fricker: Die neue ZPO sieht einerseits eine erweiterte Verbandsklage vor. Diese hat mit US- Verhältnissen nichts zu tun. Es soll in der Schweiz weiterhin keine «punitive damages» geben – also Zahlungen, die über die tatsächlich erlittenen Schäden hinausgehen und einen Strafcharakter haben. Und die revidierte ZPO sieht weder Erfolgshonorare für Anwälte noch Beweiserleichterungen vor. Andererseits gibt es die erwähnten Opt-out-Vergleiche. Für diese sind die Anforderungen gemäss Vorschlag des Bundesrats derart hoch, dass solche Vergleiche kaum je abgeschlossen werden dürften. Grund: Die Ersatzansprüche der Betroffenen zum Beispiel müssen so gering sein, dass sich eine individuelle Klage nicht lohnt. Solche Klagen werden auch deshalb kein Geschäftsmodell werden, weil der Aufwand für solche Verfahren extrem gross ist.
Biedermann: Ich erachte die Anforderungen nicht als hoch. Im Gegenteil: Ein kollektiver Vergleich wäre zum Beispiel schon für zehn betroffene Personen möglich. Und bis sich eine individuelle Klage nicht lohnen würde, kann sich der Betrag auf einige Tausend Franken belaufen.
Fricker: Ich glaube trotzdem nicht, dass diese kollektiven Vergleiche in der Praxis häufig zur Anwendung kommen werden. So etwas wie die Klage gegen den Automobilkonzern Volkswagen im Abgasskandal ist höchst selten. Etwas Ähnliches hatte es in der Schweiz zuvor eigentlich nie gegeben.
Biedermann: Wenn die Anwendungsfälle so selten sind, müssen wir auch keine neuen gesetzlichen Bestimmungen dafür schaffen.
plädoyer: Ist die Vorlage griffig genug, um die Rechte von Geschädigten tatsächlich zu stärken?
Fricker: Die Vorlage ist ein Schritt in die richtige Richtung, von einer griffigen Lösung aber weit entfernt. Selbst wenn die Kläger recht erhalten, werden die Prozesskosten im Verhältnis zu den Beträgen, die sie erstreiten, auch künftig viel zu hoch sein. Deshalb stellt sich die Frage, wer sich solche Prozesse überhaupt leisten kann. Die Anforderungen an die klageberechtigten Verbände erachte ich als zu hoch. Diese dürfen zum Beispiel nicht gewinnorientiert sein – und werden somit kaum über die finanziellen Ressourcen verfügen, die für solche aufwendigen Verfahren notwendig sind. Die Vorlage droht zum toten Buchstaben zu verkommen.
Biedermann: Auch da bin ich anderer Meinung. Die Anforderungen an die klageberechtigten Verbände sind zu tief. Im ursprünglichen ZPO-Entwurf gab es noch das Erfordernis, dass der klageberechtigte Verband oder die Organisation von «gesamtschweizerischer Bedeutung» sein muss. Dieses Kriterium ist weggefallen. Das bedeutet: Auch ausländische Organisationen wären zu Klagen in der Schweiz zugelassen. Hinzu kommt, dass die Prozessfinanzierung in der Schweiz nicht reguliert ist. Es gibt im Ausland zahlreiche Unternehmen, die auf Prozessfinanzierung spezialisiert sind, die im IT-Bereich top aufgestellt sind und über eine enorme Datenpower und viel Know-how verfügen. Fazit: Wir öffnen dem Ausland die Tür für grosse Klagen, finanziert durch professionelle Organisationen. Ich sehe da ein grosses Potenzial, um unsere Wirtschaft zu erpressen.
Fricker: Auf Prozessfinanzierung spezialisierte Unternehmen sollte man sicher stärker unter die Lupe nehmen. Da entsteht ein neuer Wirtschaftszweig, der reguliert werden muss. Mit der ZPO-Vorlage hat dies aber wenig zu tun. Auch wenn die klageberechtigten Verbände dem Kriterium «gesamtschweizerische Bedeutung» gerecht werden müssten, würde sich an dieser Problematik kaum etwas ändern.
plädoyer: Simon Fricker, Sie kritisieren die Regelung der Prozesskosten. Dabei sieht die Vorlage vor, dass das Gericht von den Verteilungsgrundsätzen der ZPO abweichen und die Prozesskosten nach Ermessen verteilen kann.
Fricker: Diese Möglichkeit gibt es in der ZPO im Zusammenhang mit anderen Verfahren schon heute, es wird aber selten davon Gebrauch gemacht. Die Frage, wie viel Geld die obsiegende von der unterlegenen Partei effektiv erhält, wird vom kantonalen Recht geregelt. Dort sind die jeweiligen Pauschalen festgelegt – die mit den realen Kosten eines Verfahrens oft wenig zu tun haben. Das Anwaltshonorar für eine Stunde wird zum Beispiel gerne auf rund 200 Franken veranschlagt. In den meisten Fällen ist es höher. Geht es um Streitwerte von weniger als 20 000 Franken, resultiert für die Betroffenen am Ende eines Prozesses deshalb oft ein Verlust – selbst wenn sie recht erhalten. Diese Problematik wird durch die Vorlage nicht behoben.
Biedermann: Es lässt sich wohl immer ein Fall finden, in welchem die Kostenverteilung noch etwas fairer hätte sein können. Aber grundsätzlich halte ich das System der geltenden ZPO für bewährt: Kosten werden nach Obsiegen und Unterliegen verteilt, es gilt die Dispositionsmaxime. Im Entwurf zu den kollektiven Verfahren soll nun an verschiedenen Orten von dieser Maxime abgewichen werden. Nicht nur bei der Kostenverteilung wird dem Richter ein Ermessen eingeräumt. Er soll auch die Angemessenheit eines Vergleichs überprüfen und selbst Experten oder Sachverständige bestellen können. Auch da steht die Vorlage völlig quer zu unserem Rechtssystem – was letztlich dem Wirtschaftsstandort Schweiz schaden wird. Denn die Schweiz ist auch aufgrund der Rechtssicherheit für Unternehmen attraktiv.
plädoyer: Claudia Biedermann, besteht Ihrer Meinung nach also kein Bedarf für eine Stärkung der Position der Geschädigten bei Massenschäden?
Biedermann: Aktuell läuft im Parlament die Debatte über eine erste Revision der ZPO. Die Vorlage sieht auch abseits des Abschnitts über den kollektiven Rechtsschutz an verschiedenen Stellen Klageerleichterungen vor. Es soll neu die Möglichkeit von Testklagen geben, Kläger sollen von Kautionspflichten befreit werden können, neue Ombudsstellen werden eingeführt. Ich bin der Meinung, dass man mit diesen neuen Instrumenten erst Erfahrungen sammeln und nicht gleich mehrere grosse Schritte auf einmal nehmen sollte.
Fricker: Aktuell können Betroffene von Kleinschäden ihre Ersatzansprüche nicht effektiv durchsetzen – siehe VW-Verfahren. Da herrscht in der Schweiz ein rechtsstaatliches Manko: Der Staat wird nämlich seiner Aufgabe nicht gerecht, den Geschädigten zum Recht zu verhelfen. Die Vorlage nimmt sich dieses Problems an. Sie geht aber viel zu wenig weit, um das Problem zu lösen. Letztlich können die Betroffenen ihre Rechte neu auch einem Verband abtreten. Eine effektive Verbesserung ist das nicht. Denn es ist offen, ob es Verbände gibt, die solche Massenklagen finanzieren und bewältigen können. Eine Verbesserung ist nur mit einer echten Systemänderung möglich. Griffig wären zum Beispiel Gruppenklagen, wie man sie aus Italien, Dänemark oder Schweden kennt. Dort kann jemand für eine ganze Gruppe klagen, ohne dass jeder Betroffene am Verfahren teilnehmen muss – und ohne dass es die Einschränkungen der Verbandsklage gibt, welche die bundesrätliche Vorlage vorsieht.
Biedermann: Mittels Streitgenossenschaften können Betroffene von Massen- oder Streuschäden heute schon ihre Ersatzansprüche geltend machen, auch bei kleinen Schäden. Zudem erlauben neue technische Möglichkeiten wie die sozialen Medien eine viel leichtere Abstimmung unter möglichen Klägern. Ich sehe das Bedürfnis für diese Vorlage oder andere weitreichende Änderungen in diesem Bereich nicht.
plädoyer: Der Bundesrat erhofft sich durch die neue Verbandsklage auch positive Effekte auf die Umwelt, weil vermehrt ökologische Ansprüche durchgesetzt werden könnten. Tatsächlich wurden zum Beispiel in den Niederlanden Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes bei Umweltstreitigkeiten eingesetzt. Sind die Hoffnungen des Bundesrats berechtigt?
Fricker: Ich vermute, dass der Bundesrat mit diesen Ausführungen in der Botschaft auf den Klima-Zug aufspringen wollte. Das grosse Problem bei Umweltstreitigkeiten oder Prozessen, bei denen es um Klimaschutz geht, liegt beim Schadennachweis. Es wird in vielen Fällen kaum möglich sein, den Verursacher eines konkreten Umweltschadens ins Recht zu fassen und den Schaden zu beweisen.
Biedermann: Ich befürworte einen griffigen Umweltschutz. Aber dafür soll bitte der Gesetzgeber im Umweltrecht sorgen – nicht im Prozessrecht.
Claudia Biedermann, 49, ist Rechtsanwältin, Leiterin des Rechtsdiensts der Versicherung Zurich Schweiz und Präsidentin der Vereinigung Schweizerischer Unternehmensjuristen.
Simon Fricker, 37, ist Rechtsanwalt in Zug. Er wirkte für die Stiftung für Konsumentenschutz bei der Massenklage gegen den Volkswagen-Konzern und die VW-Importeurin Amag mit.
Verbandsklage und kollektiver Vergleich
Die geltende Zivilprozessordnung (ZPO) von 2011 kennt keine Sammelklagen. 2018 schickte der Bundesrat einen Entwurf zur Änderung der Prozessordnung in die Vernehmlassung. Es zeigte sich: Die Vorschläge zum kollektiven Rechtsschutz sind stark umstritten. Deshalb wurden sie 2020 von den übrigen Anträgen zur Änderung der Zivilprozessordnung abgespalten.
Im Dezember 2021 verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zum kollektiven Rechtsschutz zuhanden des Parlaments. Die Regierung schlägt vor, in die Zivilprozessordnung einen Titel 8a «Kollektive Verfahren» einzufügen. Dieser sieht vor, dass Ersatzansprüche bei Massen- und Streuschäden durch Verbände und andere Organisationen stellvertretend für eine Vielzahl von Geschädigten eingeklagt werden können. Die Organisationen dürfen nicht gewinnorientiert sein und müssen seit mindestens zwölf Jahren bestehen. Es gilt das Opt-in-Konzept. Das heisst: Die Verbände können nur dann für die betroffenen Personen klagen, wenn diese sich der Klage ausdrücklich anschliessen.
In einem weiteren Abschnitt der Revisionsvorlage ist das Instrument des kollektiven Vergleichs bei Massen- oder Streuschäden vorgesehen. Unter bestimmten Bedingungen (also bei geringen Ersatzansprüchen) soll ein Opt-out-Vergleich möglich sein, der auch für sämtliche betroffenen Personen wirksam ist, die sich nicht ausdrücklich ausschliessen. Das Gericht hat einen Vergleich zu prüfen, zu genehmigen und für verbindlich zu erklären.