plädoyer: Herr Landmann, in einem Beitrag für «Die letzte Pendenz», die Zeitschrift der Zürcher Staatsanwaltschaft, kritisieren Sie, viele Verteidiger würden beim ersten Kontakt ihren Mandanten «beinahe schon als Ideologie» zur Aussageverweigerung raten. Warum dieser Vorwurf?
Valentin Landmann: Das ist kein Vorwurf. Die Aussage zu verweigern kann richtig oder falsch sein. Man sollte die Aussageverweigerung aber nicht zum Prinzip machen. An einer Podiumsdiskussion des Piketts Strafverteidigung in Zürich propagierten Anwälte, am Anfang sei es wichtig, dem Mandanten klarzumachen, dass er die Aussage besser verweigere.
plädoyer: Wie wurde dies begründet?
Landmann: Man müsse zuerst einmal wissen, was die Grundlage der Anschuldigungen sei und was der Staatsanwalt in den Händen habe. Ich bin klar nicht der Auffassung, dass man dem Klienten aus Prinzip raten muss, die Aussage zu verweigern. Es kommt auf den Klienten, die Situation und darauf an, was man über die Beschuldigung bereits weiss oder annehmen kann und ob der Klient eine Aussage machen möchte.
plädoyer: Ist der in der Regel prozessunerfahrene Klient unmittelbar nach der Verhaftung überhaupt fähig, dies selbst zu entscheiden?
Landmann: Das ist eine interessante Frage. Wenn ein Klient über einen Sachverhalt die Wahrheit sagen will, fühle ich mich nicht berechtigt, ihm zu sagen, die Wahrheit gehöre nicht vor den Staatsanwalt. Das muss er selbst entscheiden. Wenn der Mandant mich hingegen fragt, was er am besten sagen soll, dann sieht es anders aus. Es fragt sich dann, wie weit ich berechtigt bin, auf die Aussagen meines Mandanten einzuwirken. Man kann eine Abwägung präsentieren und ihm sagen, hier ist es sinnvoll zu bestreiten und hier nicht. Es gibt aber auch Klienten, die sagen: Ich weiss, worum es geht, ich möchte aussagen.
plädoyer: Der Vorwurf steht im Raum, es gebe Anwälte, die ihren Klienten am Anfang des Strafverfahrens aus Prinzip zur Aussageverweigerung raten. Herr Zarro, entspricht dies Ihrer Erfahrung?
Dario Zarro: Am Podiumsgespräch, das Herr Landmann erwähnte, wurde die Empfehlung abgegeben, sich am Anfang auf das Aussageverweigerungsrecht zu stützen. Ich bezweifle, dass dies aus Prinzip so gemacht wird. Meiner Meinung nach kommt diese Empfehlung daher, dass Verteidiger Sorgfaltspflichten haben. Sieht man einen gerade verhafteten Beschuldigten erstmals in der Abstandszelle, steht dieser stark unter Stress. Er will möglichst schnell aus der Haft entlassen werden. In diesem Fall ist es dem Beschuldigten nicht möglich, die Situation richtig einzuschätzen. Er ist vielleicht nicht einmal fähig, seinem Anwalt zu sagen, was genau abgelaufen ist. Und er weiss vor allem nicht, was konkret läuft. In diesem Moment die Empfehlung abzugeben, momentan nichts zu sagen, bevor die Gesamtsituation klar ist, ist für mich nicht eine Prinzipiensache – sie gehört zur Sorgfaltspflicht des Anwalts.
plädoyer: Kommt es innerhalb der ersten 48 Stunden nach der Verhaftung vor, dass Beschuldigte Unzutreffendes erzählen, nur um aus der Haft entlassen zu werden?
Zarro: Ja, ich habe das schon erlebt. Das Druckmittel, jemanden in Haft zu behalten, ist stark. Zudem sind die Leute in dieser Ausnahmesituation total gestresst. Ich weiss nicht, was zwischen dem polizeilichen Sachbearbeiter und dem Beschuldigten besprochen wird. Der Polizist macht vielleicht Äusserungen, die vom Beschuldigten falsch verstanden werden. Er kann das Gefühl bekommen, sich mit einer Aussage freikaufen zu können. Ich kann dies jedoch nicht belegen, es ist mein Eindruck. Ich habe von Klienten schon die Äusserung gehört, wenn er das sage, komme er schnell raus.
Landmann: Das ist ein Punkt, auf den man den Klienten hinweisen muss: Er soll sich nicht mehr belasten, als es tatsächlich der Fall ist. Das ist ein Problem, das am Anfang tatsächlich auftauchen kann. Ich habe dieses Verhalten zum Beispiel immer wieder bei Leuten erlebt, die auf diese Weise Angehörige beschützen wollten. Es ist nicht einfach zu erkennen, ob sich jemand falsch belastet. Es gibt Situationen, in denen man also befürchten muss, dass der Klient «echten Mist» baut, also auch Falschaussagen macht. Damit kann er sich grosse Probleme einhandeln. Es gibt aber auch klare Situationen, in denen man nicht gross diskutieren muss.
plädoyer: Sie sprechen von klaren Situationen, obwohl der Anwalt weder den Klienten kennt, noch Akten gesehen hat?
Landmann: Beim ersten Besuch beim Klienten hat man normalerweise noch keine Akten gesehen. Unter Umständen sagt der Klient aber klar, um was es geht, bevor man es vom Staatsanwalt gehört hat. Man weiss also, ob es um ein Drogendelikt oder um einen Diebstahl geht. Weiss ein Klient genau, um was es geht, und will aussagen, liegt eine ambivalente Situation vor, da ich den Klienten im ersten Moment ja nicht beurteilen kann. Einen aussagewilligen Klienten einfach zu stoppen, erscheint mir aber sehr problematisch. Wir riskieren nämlich, ihm einen grossen Teil des Geständnisrabatts zu verderben, falls er sich wirklich strafbar gemacht hat.
plädoyer: Steht der Geständnisrabatt schon in einem derart frühen Stadium des Verfahrens auf dem Spiel?
Zarro: Nein, das ist vor allem ein Argument der Polizeibeamten, die die erste Einvernahme durchführen. Sie machen dem Beschuldigten die Aussage schmackhaft, indem sie sagen, dann könne man die Sache schneller abklären und er sei schneller draussen. Das ist eine extrem tückische Situation. Entscheidend ist, dass Beschuldigte ein fundamentales Recht haben, die Aussage zu verweigern. Machen sie davon Gebrauch, darf dies nicht zu ihrem Nachteil ausgelegt werden. Wird jemand innerhalb von zwölf Stunden befragt und die nächsten Befragungen finden relativ kurz danach statt, darf es nicht sein, dass sich der Beschuldigte seine Verteidigungsstrategie verbaut, wenn er in den ersten zwölf Stunden kein Geständnis ablegt. Der Anwalt kennt die Situation nicht, er kann grundsätzlich nichts dazu sagen. Gibt er eine Empfehlung ab, trägt er die Verantwortung, die er gar nicht tragen kann. Ich bin im Gegensatz zu Herrn Landmann eher der Ansicht, dass man als Verteidiger den Klienten darauf hinweisen muss, welche Konsequenzen seine Aussagen im Prozess haben können. Die Wahrnehmung dessen, was die Betroffenen als Geständnis anschauen, ist im Übrigen sehr unterschiedlich.
Landmann: Kollege Zarro hat in einem Punkt recht: Es kann rein zeitlich nicht um ein oder zwei Tage gehen, die entscheiden, ob ein Beschuldigter den Geständnisrabatt bekommt oder nicht. Mir geht es vor allem um folgendes: Wenn der Klient tatsächlich eine Straftat verübt hat und sie erst zugibt, nachdem ihm sämtliche Zeugenaussagen vorgehalten wurden, dann verliert er einen Teil des Goodwills, den man ihm verschaffen kann. Zudem verliert er auch einen Teil des Vorsprungs, wenn er als Erster aussagt. Ich habe schon mehrfach beobachtet, dass ein Klient, der früh aussagt, bei den Behörden einen an sich nicht begründeten Glaubwürdigkeitsvorteil erlangt.
plädoyer: In welchem Stadium des Verfahrens sehen Sie erstmals Akten?
Landmann: Beim Haftrichter sehen wir die Akten, die ihm der Staatsanwalt vorlegt, um die Notwendigkeit der Haft zu begründen. Das muss aber nicht ein umfassendes Dossier sein.
plädoyer: Ist es nicht schwierig, die Interessen des Klienten zu wahren, wenn man nichts in der Hand hat?
Zarro: Wenn weder der Beschuldigte genau weiss, was ihm vorgeworfen wird, noch der Verteidiger den Überblick hat, scheint es mir verfrüht, von einem Geständnis zu reden. Trifft man seinen Klienten zum ersten Mal, muss man zunächst Vertrauen aufbauen. Ausländischen Klienten muss man zudem unser Rechtssystem erklären. In gewissen Kulturkreisen gilt ein amtlicher Verteidiger nämlich als Vasall des Staates. Würde man in dieser Situation dem Beschuldigten sagen, er soll ein Geständnis ablegen, würde man seine Vorurteile bestätigen. Viele Leute brauchen Zeit, um sich auszudrücken. Dies lässt sich nicht im Rahmen eines ersten Gesprächs erreichen. In der Realität sitzt man eine halbe Stunde in einer hässlichen Kammer, in der die Wände mit allerlei Dingen verschmiert sind. Man hat kaum Zeit, der Polizist klopft ungeduldig an die Türe, es ist lärmig, die verhaftete Person ist gestresst. So sieht die Realität aus.
Landmann: Was Kollege Zarro sagt, ist in vielen Fällen richtig. Ich kann nicht sagen, dass ich dies bestreite. Ist eine Situation komplett unübersichtlich, sagen wir zum Beispiel nach einer schweren Massenschlägerei mit einem Toten und drei Halbtoten, ist es sehr schwierig, sich auf Anhieb sinnvolle Aussagen zu überlegen. Man muss dann zuerst herausfinden, was der Mandant weiss und was er bloss vermutet. Er versucht oft, bestimmte Personen zu schützen oder nicht zu nennen. Dies sind Sachen, die in einem späteren Zeitpunkt der Untersuchung gewaltige Schwierigkeiten verursachen.
plädoyer: Wenn Sie einem Beschuldigten sagen, er solle vorläufig schweigen, können solche Fehler nicht passieren.
Landmann: Genau. Wenn ich den Eindruck habe, jetzt kommt Mist, rate ich, vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen – sogar wenn das eine gewisse Verlängerung der Haft bedeutet. Die Anfangslüge, gerade von verfahrensungewohnten Leuten, ist tatsächlich schwer reparierbar.
Zarro: Das spricht doch gerade dafür, dass man die Empfehlung abgibt, die Aussage zu verweigern. Zudem: Auch als Verteidiger kann man Fehler begehen. Ich bin der Auffassung, dass man unglaublich vorsichtig sein muss. Ich habe schon gewisse Schilderungen von Abläufen für unwahr gehalten, die sich schlussendlich bewahrheitet haben.
Landmann: Am Anfang kann man dem Mandanten nur dann zur Aussage raten, wenn er selbst weiss, um was es geht. Zudem muss er geistig und emotional dazu fähig sein.
Zarro: Mit der Emotionalität ist es am Anfang ganz schwierig. Wir müssen uns das konkret vorstellen: Jeder kann – auch unschuldig – in ein Verfahren geraten. Ich wüsste nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich verhaftet würde. Wird man verhaftet, befindet man sich in einem Ausnahmezustand.
plädoyer: Sie sprechen den Freiheitsentzug, den Reputationsverlust, die Probleme mit der Familie und dem Arbeitgeber an?
Zarro: Ja, und man kommt in eine Zelle, in der es ein Papierleintuch hat, man ist in der Kaserne oder man steckt in einem Kellerverlies. In einer solchen Situation ist es Aufgabe des Anwalts, Vertrauen aufzubauen. Zudem muss er versuchen herauszufinden, in welche Richtung das Verfahren geht. Man muss einem Klienten natürlich auch sagen, wie das Verfahren abläuft. Ich rate meinem Klienten, wenn er etwas sagen will, soll er sicher nicht lügen. Denn das ist das Dümmste, was passieren kann. Man muss dem Klienten auch erklären, dass auf der anderen Seite keine Idioten sitzen. Strafbehörden wissen in aller Regel, was sie tun.
plädoyer: Gibt es viele Beschuldigte, die ihre Aussagen bis zum Schluss verweigern?
Zarro: Nein. Statistisch sind jene Fälle viel häufiger, in denen jemand eine Aussage macht. Ob diese auch faktisch richtig ist, sei dahingestellt. Ich hatte bisher ganz wenige Klienten, die bis zum Schluss nichts sagten. Ich kann mich etwa an einen Polen erinnern, der nie etwas sagte und auch mit mir nicht gross sprechen wollte. Dann kam das erstinstanzliche Urteil, in dem er zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Ich dachte, er würde das Urteil weiterziehen. Doch er akzeptierte es. Das war mein einziger Klient, der dies so konsequent durchzog, alle anderen kippten im Verlauf des Verfahrens. Nichts zu sagen ist schwieriger, als etwas zu sagen!
Landmann: Ich glaube, dass wir dem Klienten seine verschiedenenen Möglichkeiten aufzeigen und erklären müssen. Wir müssen ihm auch klarmachen, dass er – wenn er sich für etwas entschieden hat – daran festhalten soll und an einer Einvernahme nicht davon abweichen soll. Er soll also entweder aussagen oder nicht. Wenn er aussagen will, soll er dies auch konsequent tun. Ein Zwischending zwischen Aussage und Aussageverweigerung führt zu Konstellationen, die auch für den Anwalt nicht mehr gut greifbar sind. Ich habe Fälle erlebt, in denen die Aussagen der Mandanten ganz hoffnungslos erschienen – zum Beispiel einen Mordfall, wo der Beschuldigte stur sagte, er sei es nicht gewesen. Schlussendlich liess sich beweisen, dass er es nicht gewesen war. Diese Erfahrung hat mir den Kick gegeben, jedem Mandanten zuzuhören, auch wenn seine Geschichte auf den ersten Blick relativ hoffnungslos scheint.
plädoyer: Beschuldigte sind zu Beginn des Verfahrens über ihre Rechte zu informieren. Wird diese Vorschrift in der Realität von den Polizisten und den Staatsanwälten eingehalten?
Landmann: Die Rechte werden heruntergelesen. Und man fragt den Beschuldigten, ob er es verstanden hat. Ein Mandant antwortete darauf einmal: «Hä?»
Zarro: Die Aufklärung über die Parteirechte erfolgt sehr mechanisch. Die Floskel liest der Polizist einfach herunter, im Kanton Zürich ist dies in den Vernehmungsprotokollen ein Textbaustein. Wenn kein Anwalt dabei ist, wird den Beschuldigten gesagt, einen Anwalt könnten sie auf eigene Kosten beiziehen. Das «auf eigene Kosten» wird dabei fast vorangestellt.
plädoyer: Diese Information ist in Fällen einer zwingenden Verteidigung falsch.
Zarro: Ja. Ich bin mir nicht sicher, ob die Beschuldigten in dieser Situation gross zuhören. Die Beschuldigten wissen nicht mehr, wo ihnen der Kopf steht.
Landmann: Wenn jemand die Aussage verweigern will, habe ich auch schon empfohlen, sie sollen sagen, sie hätten in amerikanischen Krimis gesehen, dass man die Aussage verweigern könne, bis der Anwalt komme. Dann hat der Betroffene nämlich den Idiotenbonus statt den Gangstermalus.
Zarro: Ich sage in solchen Situationen, sie sollen sagen, der Anwalt habe empfohlen, einmal nichts zu sagen. Diese Empfehlung darf ich geben und sie darf dem Betroffenen nicht entgegenhalten werden. Es muss im Übrigen nicht unbedingt der Beschuldigte eine Aussage machen, auch der Verteidiger kann Einfluss nehmen. Man spricht mit den Polizeibeamten und der Staatsanwaltschaft und kann dann durchaus sanfte Hinweise machen, in welche Richtung die Untersuchung gehen soll. Vielleicht stellt man auch einen Beweisantrag. In aller Regel wird dies aufgenommen. Schliesslich muss man den Staatsanwalt von Zeit zu Zeit darauf hinweisen, dass er laut Gesetz auch entlastende Elemente zu berücksichtigen hat – vor allem beim Sammeln der Beweise. Dieses Verständnis ist nicht bei allen gleich vorhanden.
Valentin Landmann, 64, ist seit 1984 in Zürich als selbständiger Rechtsanwalt tätig. An der Uni Luzern hält er Vorlesungen zur Strafverteidigung.
Dario Zarro, 52, ist seit 1995 als Rechtsanwalt in Zürich tätig. Er ist Vorstandsmitglied des Vereins Pikett Strafverteidigung.