Charles Darwin, Naturforscher, hat sich durch seine Evolutionstheorie einen Namen gemacht. Imma-nuel Kant, Philosoph der Aufklärung, ermutigte die Menschen, sich ihres Verstandes zu bedienen. Und Frank Urbaniok, laut Klappentext seines Verlags Orell Füssli «der renommierteste Psychiater der Schweiz» und «international führender Experte im Bereich der forensischen Psychiatrie», ist bekannt für seine Fähigkeit, vorherzusagen, wie gefährlich eine straffällige Person künftig für die Gesellschaft sein wird.
Wo liegt das Gemeinsame der drei grossen Denker? Alle drei haben Bücher geschrieben. Urbaniok kürzlich ein knapp 500-seitiges Grundlagenwerk, in dem er sich mit den fundamentalen Konsequenzen der Theorien seiner Vordenker befasst. Das Resultat seiner Analyse steht schon im Buchtitel: «Darwin schlägt Kant». Und zwar 1 zu 0. Der Einfältige überlebt, der Vernünftige ist ausgestorben, weil er einmal zu lange überlegt hat.
Noch Fragen? Urbaniok belegt diese Erkenntnis mit einer Parabel. Zwei Urmenschen hören in der Nacht ein Rascheln im Busch. Der Einfältige denkt nicht lange nach und geht davon aus, das Geräusch stamme von einem Löwen. Er flieht. Der Vernünftige wartet auf weitere Informationen, um eine bessere Beurteilungslage zu haben. Er weiss, dass hinter dem Rascheln nur selten ein Löwe steckt. Er kennt die Welt besser als sein Artgenosse, der die Präsenz der Löwen masslos überschätzt. Aber leider überlegte der Vernünftige einmal zu viel.
Urbaniok analysiert in seinem Werk also «die menschliche Natur und insbesondere die menschliche Vernunft». Im zweiten Teil zieht er entsprechende Schlüsse auf menschliche Aktivitäten und die damit verbundenen Risiken in Gesellschaft, Politik, Wissenschaft – und der Justiz. Auch hier zeigen sich nämlich konkrete Schwachstellen der menschlichen Vernunft, «weil es viele Faktoren gibt, die in einem regulären juristischen Prozess zu sachlich falschen Urteilen führen können». Originalton Urbaniok: «Ich selber kann darüber aus meiner langjährigen praktischen Erfahrung ein vielstrophiges Lied singen.
Urbaniok verweist deshalb auf die Vorteile eines Würfelgerichts. «Stellen wir uns vor, dass Urteile nicht mehr durch ein Gericht gefällt, sondern ausgewürfelt werden.» Auf drei Seiten des Würfels wäre ein «Nein», auf drei Seiten ein «Ja». «Der Würfel spart Zeit und Kosten. Die Beweisaufnahme, Anträge der einen und anderen Seite, Fachexperten und Sitzungstermine würden wegfallen.»
Die Wahrscheinlichkeit für den Sieg beider Parteien wäre genau 50 Prozent. Kommentar Urbaniok: «Das Würfelgericht liegt also in 50 Prozent der Fälle goldrichtig. Bei einem schlechten Richter könnte die Trefferquote geringer ausfallen.»
Nun schlägt der Denker aber nicht unbedingt vor, das gesamte bestehende Justizsystem durch Würfel zu ersetzen. Sonst hätten nämlich geständige Mörder eine 50-prozentige Chance, freigesprochen zu werden. Aber der Würfel könnte ja wenigstens im Zivilrecht zum Einsatz kommen. «Damit wäre das Problem des geständigen Mörders eliminiert.» Gerade zivilrechtliche Auseinandersetzungen würden oft zu jahrelangen Verfahren und einem hohen Aufwand führen, was die Beteiligten Geld, Zeit und Nerven koste.
Ein Würfelgericht könnte laut Urbaniok auch eine sinnvolle Ergänzung des bestehenden Systems sein. Indem das Gericht einen Fall an das Würfelgericht überweisen dürfte, «wenn es der Überzeugung ist, dass das übliche juristische Verfahren kaum zu einer deutlich über 50 Prozent liegenden Trefferquote führen würde».
Urbaniok findet es zwar bedauerlich, wenn eine Partei trotz eines berechtigten Anliegens durch ein Würfelgericht verliert. «Aber vielleicht ist ein Zufallsentscheid besser zu akzeptieren als ein falsches Urteil.» Gut formuliert. Da spricht der erfahrene Psychiater.