Vor zwei Jahren galt die Schweiz noch als Befürworterin eines weltweiten Verbots von Atomwaffen. Im Juli 2017 stimmte Berns Botschafter in der Uno-Generalversammlung mit seinen Amtskollegen aus 121 der insgesamt 193 Uno-Mitgliedsstaaten für das zuvor ausgehandelte Verbotsabkommen.
Die Verhandlungen in der Uno- Generalversammlung wurden initiiert von Österreich, Irland und anderen kleinen Staaten, die keinem Militärbündnis angehören – gegen den massiven Widerstand der USA, Deutschlands und anderer Nato-Mitglieder.
Die Initiatorenstaaten eines Atomwaffenverbots handelten wiederum auf Anregung einer breiten internationalen Kampagne zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Abschaffung von Atomwaffen – die International Campaign for the Abolition of Nuclear Weapons (ICAN). Die ICAN erhielt für dieses Engagement 2017 den Friedensnobelpreis.
“Zusammenarbeit mit Kernwaffenstaaten”
Doch ein Jahr nach diesem historischen Beschluss der Uno-Generalversammlung mit Schweizer Zustimmung gab es in Bern eine überraschende Kehrtwende. Der Bundesrat beschloss, das Uno-Abkommen nicht zu unterzeichnen und dem Parlament nicht zur Ratifizierung vorzulegen. Ein Beitritt zum Atomwaffenverbot sei «sicherheitspolitisch riskant», lautet ein zentrales Argument in der Begründung des Bundesrats. Denn «im Extremfall der Abwehr eines bewaffneten Angriffs würde die Schweiz mit einiger Wahrscheinlichkeit mit anderen Staaten oder Bündnissen, nicht zuletzt mit Kernwaffenstaaten oder deren Alliierten, zusammenarbeiten». Mit einer Unterzeichnung des Atomwaffenverbots würde sich die Schweiz «die Handlungsoption verschliessen, sich explizit unter einen Nuklearschirm zu stellen».
Mit diesem Entscheid folgte der Bundesrat einem Trend zur neuerlichen Legitimierung atomarer Massenvernichtungsmittel zur Abschreckung oder gar Kriegsführung, der im Widerspruch steht zum von fast zwei Dritteln der Uno-Mitgliedsstaaten vereinbarten Verbotsabkommen. Die wichtigsten Elemente dieses Trends:
Auch 30 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs und dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts beharren die USA und ihre Nato-Verbündeten ebenso wie Russland auf der angeblich unverzichtbaren Notwendigkeit der atomaren Abschreckungsdrohung.
Zur zusätzlichen Rechtfertigung dieser Position verweist die Nato seit März 2014 auch auf die damals erfolgte völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland sowie auf die anhaltende Unterstützung Moskaus für die Sezessionisten in den ukrainischen Donbas-Provinzen.
Die USA und Russland betreiben mit hohem finanziellem Aufwand die «Modernisierung» ihrer Atomwaffenarsenale.
Der Begriff Modernisierung ist mit Blick auf Waffen und Munition ein verharmlosender Euphemismus. Denn bei der Modernisierung von Waffen und Munition ging und geht es immer darum, diese noch tödlicher und zerstörungsstärker, noch schneller und flexibler einsetzbar zu machen.Verbunden mit dem Bestreben, das Risiko für die eigenen Soldaten beim Einsatz dieser Waffen und Munition möglichst zu minimieren.
1962 meinte US-Verteidigungsminister Robert McNamara, die damals je rund 400 atomaren Sprengköpfe auf Seiten der USA und der Sowjetunion reichten zur gegenseitigen Abschreckung völlig aus und beide Seiten könnten den atomaren Rüstungswettlauf beenden. Tatsächlich: Schon mit dem damaligen Atomwaffenarsenal hätte sich die ganze Erde mehrfach zerstören lassen.
Friedensbewegung führt zu Atomwaffenabbau
Doch die Rüstungsspirale drehte sich weiter: 15 Jahre später –auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges – befanden sich bereits rund 40 000 atomare Sprengköpfe in den Arsenalen der zwei Grossmächte. Ab Ende der 70er-Jahre folgte noch einmal ein besonders gefährlicher Aufrüstungsschub in Europa: Die Sowjetunion stationierte Kurz-und Mittelstreckenraketen vom Typ SS 20, 21 und 23 auf dem eigenen Staatsgebiet, in der DDR und der CSSR. Die USA wiederum brachten Pershing-2-Raketen und Marschflugkörper in Stelllung – in der BRD, in Grossbritannien, Belgien, in den Niederlanden und Italien.
Zur gleichen Zeit wurden im Pentagon Studien erarbeitet, die einen auf Europa begrenzbaren Atomkrieg als Option erscheinen liessen. Die Folge dieser Aufrüstungspolitik: In Europa und den USA gingen Millionen besorgte Menschen auf die Strasse, um gegen den Geist, die Logik und die Politik der atomaren Abschreckung zu protestieren.
Der öffentliche Druck dieser grössten Friedensbewegung seit Ende des Zweiten Weltkrieges führte dazu, dass sich Moskau und Washington Ende 1987 auf ein historisches Abkommen einigten. Es verbot alle landgestützten, mit Atomsprengköpfen ausrüstbaren Kurz- und Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern – die sogenannten Intermediate Nuclear Forces (INF).
Mit dem INF-Abkommen wurden erstmals in der Rüstungskontrollgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg nicht nur numerische Obergrenzen oder andere Einschränkungen für bestimmte Waffensysteme vereinbart, sondern ihre vollständige Abrüstung. Zudem vereinbarten die zwei Grossmächte weitreichende gegenseitige Inspektionsmassnahmen während der bis 2001 laufenden Umsetzung des Vertrags. Schliesslich verbot der Vertrag die Neuentwicklung und Produktion dieser Waffensysteme.
INF-Vertrag seit August nicht mehr in Kraft
2019 geht ein anderer Wind: Am 2. Februar kündigte die Trump-Administration das INF-Abkommen einseitig. Die Regierung Putin vollzog daraufhin wenige Tage später ebenfalls den Ausstieg aus dem Vertrag. Seit dem 2. August ist der Vertrag nicht mehr in Kraft.
Die US-Regierung rechtfertigte die Kündigung mit angeblichen Vertragsverletzungen Russlands. Moskau habe eine neue, landgestützte Mittelstreckenrakete mit einer Reichweite von 2600 Kilometern entwickelt. Moskau bestreitet das. Die neu entwickelte Rakete habe lediglich eine Reichweite von maximal 490 Kilometern und falle deshalb nicht unter das INF-Verbot. Die Einladung der Regierung Putin an die Nato, die neue Rakete vor Ort in Russland im Einsatztest zu inspizieren, wurde von der Nato abgelehnt.
Umgekehrt bezeichnet Russland die in Rumänien und Polen stationierten Raketenabwehrsysteme der USA als Vertragsverstoss. Nach offizieller Lesart der Nato sind sie gegen eine potenzielle Raketenbedrohung aus dem Mittleren Osten – konkret dem Iran – gerichtet. Russland stellt sich auf den Standpunkt, von den Abschussrampen für diese Abwehrraketen könnten auch US-Marschflugkörper vom Typ Tomahawk abgeschossen werden, die bislang auf Kriegsschiffen der USA stationiert sind. Das wiederum bestreitet Washington.
Tatsache ist: die gegenseitigen Vorwürfe wurden bis heute weder eindeutig belegt noch widerlegt. Beide Seiten ergriffen auch keine Initiative, die gegenseitigen Inspektions- und Kontrollmechanismen des INF-Vertrags wieder in Kraft zu setzen, um die Vorwürfe zu überprüfen.
Modernisierungsschub bei den Atomwaffen
Der drohende Raketenwettlauf in Europa könnte weit gefährlicher werden als die Aufrüstung in den 70er- und 80erJahren des letzten Jahrhunderts. Denn die Atomwaffensysteme, die jetzt in den USA und Russland in der Pipeline sind, lassen die Pershing 2 und die SS-20 alt aussehen. Der US-Kongress bewilligte der Trump-Administration bereits für das Haushaltsjahr 2018 eine erste Tranche von 500 Millionen Dollar zur Entwicklung einer neuen landgestützten Mittelstreckenrakete. Diese wird die technologischen Fähigkeiten der Pershing 2 deutlich übertreffen. Dank ihrer Präzision, Zerstörungskraft und Steuerungsfähigkeit kann sie nicht nur feste, sondern auch bewegliche Ziele treffen. Denselben «Fortschritt» bringen auch die bereits in der Produktion befindlichen Nachfolgemodelle für die atomaren Fallbomben vom Typ B61-12, die die USA ab nächstem Jahr auf ihren Militärbasen im deutschen Büchel in der Eifel, sowie in den Niederlanden und Belgien stationieren wollen. Diese «Modernisierungsmassnahme» wird von allen Nato-Bündnispartnern der USA unterstützt.
Damit nicht genug: Hinzu kommen neue Atomwaffen mit niedrigerer Sprengkraft – sogenannte «Mini-Nukes» – deren Produktion und Stationierung in Europa Präsident Donald Trump bereits Anfang 2018 angekündigt hatte. Laut Trump sollen diese Waffen mit einer Sprengkraft von immerhin noch einem Mehrfachen der Hiroshima-Bombe, eine angebliche «Abschreckungslücke» gegenüber Russland schliessen. Moskau müsse überzeugt werden, dass die USA auch bei einem rein konventionellen Angriff Russlands etwa auf Polen oder die baltischen Staaten in der Lage sei, atomar zu reagieren. Dass diese Gefahr besteht, behauptet die Nato seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland.
Wladimir Putin kündigte Anfang Februar die Entwicklung und Stationierung neuer landgestützter Mittelstreckenraketen sowie von Abschussgeräten für Kaliberraketen an. Letztere waren bislang auf Schiffen stationiert und fielen daher nicht unter das Verbot des INF-Vertrags. Die neuen Raketen und Abschussgeräte sollen bis Ende 2021 einsatzbereit sein. Zudem treibt Russland laut Putin die Entwicklung von Hyperschallraketen mit grösserer Reichweite voran. Sie sollen mit mindestens fünffacher Schallgeschwindigkeit auf ihr Ziel zusteuern. Den Prototyp einer neuen Interkontinentalrakete mit Hyperschallgeschwindigkeit hatte Russland 2018 vorgestellt.
Weitere Abkommen sind in der Schwebe
Nach dem Ende des INF-Vertrags stehen weitere Rüstungsabkommen zur Disposition:
Die Chancen sinken, dass sich Washington und Moskau noch rechtzeitig auf ein Nachfolgeabkommen für den 2021 auslaufenden START-Vertrag einigen können. Dieser Vertrag legt zahlenmässige Obergrenzen für strategische Atomsprengköpfe und ihre Trägersysteme fest. Dabei handelt es sich um Interkontinentalraketen, U-Boote und Langstreckenbomber.
Im schlimmsten Fall droht auch eine Aufkündigung des atomaren Teststoppabkommens.
Sollten die USA und Russland wieder ungehemmt atomar aufrüsten, wird auch der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (NPT) in Frage gestellt. – 186 Staaten haben seit 1970 mit ihrer Unterschrift unter den NPT-Vertrag auf die Entwicklung und den Besitz von Atomwaffen verzichtet. Die nächste Vertragsstaatenkonferenz zur Überprüfung des Vertrags im Mai 2020 könnte daher scheitern.
Die neue atomare Aufrüstung der USA und Russlands wird auch zu entsprechenden Anstrengungen in China führen
sowie in der direkten Folge bei beiden inoffiziellen Atomwaffenstaaten Indien und Pakistan.
Als US-Präsident Trump den Austritt aus dem INF-Abkommen im Oktober 2018 erstmals androhte, benannte er zur Rechtfertigung neben angeblichen Vertragsverstössen Russlands auch die heutigen Mittelstreckenraketen in China, Iran und Nordkorea, die bei Abschluss des INF-Vertrags im Dezember 1987 noch nicht existierten. Auch die von Trump nicht genannten Staaten Israel, Südkorea, Indien und Pakistan verfügen heute über Mittelstreckenraketen.
Das ist auch aus Sicht der russischen Regierung ein Problem. Denn die Mittelstreckenraketen der genannten sieben Staaten können alle russisches, nicht aber das Territorium der USA erreichen. Präsident Putin hatte bereits 2007 in seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz auf das Problem hingewiesen, dass der INF-Vertrag nur die USA und Russland binde.
Multilaterales Abkommen wäre dringend nötig
Ebenfalls bereits 2007 appellierten die Regierungen in Washington und Moskau an die Bereitschaft der anderen Besitzerstaaten von Mittelstreckenraketen, sich an einer multilateralen Rüstungskontrolle und Abrüstungsvereinbarung zu beteiligen. Das ist aus friedens- und rüstungskontrollpolitischer Sicht eine richtige Forderung. Allerdings ist die von der Regierung Trump initiierte Zerstörung des bilateralen INF-Vertrags der falsche Weg, um zu einem multilateralen Abkommen mit im besten Fall weltweiter Gültigkeit zu gelangen.
Der richtige Ort für entsprechende Verhandlungen wäre die ständige Abrüstungskonferenz der Uno in Genf mit ihren 61 Mitgliedsstaaten, die alle drei Jahre rotieren. An Verhandlungen in diesem Rahmen könnten sich auch alle anderen 132 Uno-Staaten beteiligen. Das war zum Beispiel der Fall bei der Aushandlung des 1993 vereinbarten weltweiten Verbots von Chemiewaffen.
Die Schweiz könnte einen solchen multilateralen Verhandlungsprozess mit der Unterzeichnung und Ratifizierung des Uno-Verbotsabkommens befördern.
Doch die aktuelle Haltung des Bundesrats, wonach ein Verbotsabkommen sinnlos sei, solange die Atomwaffenmächte nicht dabei sind, ist nicht glaubwürdig. Gemäss dieser Logik dürfte die Schweiz auch keine Menschenrechtsverträge unterzeichnen, solange Saudi-Arabien, der Iran oder China diese Verträge nicht umsetzen.
Zudem widerlegt die Geschichte die Behauptung des Bundesrats: Sämtliche seit 1945 vereinbarten Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge – mit Ausnahme der bilateralen Abkommen zwischen den USA und der Sowjetunion – wurden entweder von kleinen Staaten oder Koalitionen von Nichtregierungsorganisationen initiiert und durchgesetzt.
Das geschah zunächst oft gegen den Widerstand gewichtiger und grosser Staaten, die über die entsprechenden Waffen oder Munitionen verfügten. Das gilt unter anderem für den Atomwaffensperrvertrag sowie für die Abkommen zum Verbot von chemischen und biologischen Massenvernichtungsmitteln, von Antipersonenminen und Streubomben.
All diese Abkommen bewirkten die politisch-moralische Ächtung der verbotenen Waffen und wurden von den jeweiligen Vertragsstaaten umgesetzt. Auf diese Weise wuchs und wächst der Druck auf die zunächst noch unwilligen Staaten, diesen Abkommen ebenfalls beizutreten.
Übrigens: Auch die Schweiz wurde 1968 erst durch internationalen Druck gezwungen, das im Jahr 1946 vom Bundesrat lancierte Entwicklungsprogramm für eigene Atomwaffen aufzugeben und dem Sperrvertrag beizutreten.