Seit 1. Januar dieses Jahres ist das revidierte Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen zur Alters- und Hinterlassenenversicherung (ELG) in Kraft. Es regelt in Artikel 11a, dass durch einen Verzicht ausgefallenes Erwerbseinkommen an die einer Person zustehenden Ergänzungsleistungen angerechnet wird. Neu eingeführt wurde sogar, dass auch ein Vermögensverzicht vor der Pensionierung zu einer Reduktion oder einem Wegfall der Ergänzungsleistungen führt. In beiden Fällen wurde also ein hypothetischer Wert in die Berechnung des individuellen Existenzminimums einbezogen. Das führt dazu, dass betroffenen Rentnern das Existenzminimum vorenthalten wird.
Seit 1914 ein Grundrecht auf Existenzsicherung
In der Schweiz können Bundesgesetze nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es aber so, dass es die Frage prüft, ob eine richterliche Entscheidung im konkreten Fall in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht oder nicht (BGE 117 I 367).
Artikel 14 EMRK enthält kein allgemeines Diskriminierungsverbot. Er gilt nur für den Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten, wobei diese Akzessorietät auch dann gilt, wenn Staaten über die Konventionsgarantien hinausgehende Rechte einräumen, die in den Anwendungsbereich eines Konventionsartikels fallen.
Die Bundesverfassung (BV) enthält in Artikel 12 das Grundrecht auf Existenzsicherung. Es garantiert jedem Menschen in Not einen grundrechtlichen Anspruch auf staatliche Leistungen. Es wurde vom Bundesgericht erstmals im Jahr 1914 als ungeschriebenes Grundrecht anerkannt und nachher auch mehrmals als solches bestätigt (Markus Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten, Seite 337, mit Verweisen auf Bundesgerichtsentscheide). Damit gewährleistet Artikel 12 BV sämtliche staatlichen Leistungen, die für ein menschenwürdiges Leben unabdingbar sind – unabhängig davon, ob es sich um finanzielle oder immaterielle Hilfe handelt.
Die Garantie der Existenzsicherung gründet auf der Einsicht, dass sich die Würde eines Menschen nicht allein in der Isolation des Einzelnen realisiert, sondern auch das stets fragile und vorläufige Ergebnis gegenseitiger Anerkennung darstellt. Ein Zusammenleben in Würde gelingt nur, wenn die Rechtsgemeinschaft wenigstens durch ein dünnes Band der Solidarität zusammengehalten wird. In der Ausgestaltung und Sicherung dieser Solidarität mit dem Ziel, den Menschen auf seinem Gebiet ein Leben in Würde zu ermöglichen, liegt die erste Aufgabe des Staates, so Schefer.
Leistungen nach konkretem Bedarf im Einzelfall
Der Umfang der garantierten Leistungen ist in jedem Einzelfall nach den konkreten Bedürfnissen individuell festzulegen. Er ist abhängig von den wirtschaftlichen Unterschieden, weil Menschenwürde entsteht und sich dadurch realisiert, dass sich die Mitglieder einer Gemeinschaft anerkennen, in allen Aspekten ihrer Existenz und auf allen Ebenen ihrer Lebensführung. Dabei kann das geforderte Minimum im konkreten Fall vom allgemeinen Lebensstandard abhängig gemacht werden. Artikel 8 Absatz 2 BV verbietet es aber, einen Menschen wegen seiner «sozialen Stellung» zu diskriminieren. Damit hat ein Kriterium Eingang in die Bundesverfassung von 1999 gefunden, das im Zusammenhang mit den Leistungen zur Existenzsicherung von besonderer Relevanz ist.
Existenz unabhängig von Selbstverschulden sichern
Lehre und Praxis sind sich weitgehend einig, dass der Anspruch auf Existenzsicherung unabhängig davon besteht, ob der Betroffene seine Notlage selber verschuldet hat oder nicht. Auch ist eine Verwirkung des Rechts auf Existenzsicherung nach Artikel 12 BV durch rechtsmissbräuchliche Geltendmachung ausgeschlossen.
Deshalb steht ausser Zweifel, dass das Grundrecht auf Existenzsicherung gemäss Artikel 12 BV positive Massnahmen zum Schutz der Menschenwürde konkretisiert. Das Gleiche gilt für Artikel 112 Absatz 2 Buchstabe b und 112a BV, welche als spezielle Schutznormen das Grundrecht auf Existenzsicherung im Bereich der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung bestätigen. Die Reduktion des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen durch Anrechnung eines rein hypothetischen Einkommens gemäss Artikel 11a Absatz 1 ELG verletzt die Anspruchsberechtigten in ihrer Menschenwürde.
Das Gleiche gilt für die Anrechnung eines bei Rentenbeginn nicht mehr vorhandenen Vermögens gemäss Artikel 11 Absatz 3 ELG. Den Alters- und Invalidenrentnern steht dann nicht mehr der gesamte Betrag zu, den sie für die Existenzsicherung benötigen. Das stellt eine soziale Diskriminierung dar und verletzt auch Artikel 14 EMRK.