Regina Kiener ist es sich gewohnt, auf internationalem Parkett grosse rechtliche Fragen zu wälzen. Die Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich ist Mitglied der Venedig-Kommission des Europarats. Diese berät Staaten verschiedener Kontinente in Rechts- und Verfassungsangelegenheiten.
Seit rund einem Jahr gehört Kiener auch einer Expertengruppe an, die bis November 2021 eine neue Verfassung für die Republik Belarus ausarbeitete. In Belarus kam es nach den Präsidentschaftswahlen von 2020 zu Massenprotesten, die das Regime von Präsident Alexander Lukaschenko brutal niederschlug (siehe Box).
Dem Expertengremium gehörten insgesamt rund 25 internationale Fachleute und ebenso viele Vertreter der belarussischen Zivilgesellschaft an – die meisten von ihnen Oppositionelle im Exil.
Die Initiative kam aus dem österreichischen Aussenministerium. Österreich verfügt traditionell über enge Bande nach Belarus. Über 80 österreichische Unternehmen sind im Land zwischen Polen und Russland tätig, die Hauptstadt Minsk ist mit dem Flugzeug von Wien in weniger als zwei Stunden zu erreichen.
“Projekt hat starke politische Komponente”
Das österreichische Aussenministerium war es auch, das den Kontakt zu Regina Kiener herstellte – was wohl mit ihrer Mitgliedschaft in der international bekannten Venedig-Kommission zu tun hatte. Neben ihr wirkten auch ein österreichisches, ein litauisches sowie ein tschechisches Mitglied der Kommission mit. Kiener betont, dass sämtliche Mitglieder der Venedig-Kommission, die am neunmonatigen Belarus-Seminar mit 20 Internet-Besprechungen teilnahmen, dies in eigenem Namen taten. Das ist deshalb von Bedeutung, weil die Venedig-Kommission normalerweise einzig auf Ersuchen der Mitgliedstaaten oder aufgrund eines Mandates des Europarats tätig wird. Sie begutachtet für gewöhnlich vorliegende Erlasse und arbeitet keine neuen aus. Die Kommission versteht ihre Arbeit als unpolitisch.
Der Entwurf einer neuen Verfassung für ein Land wie Belarus, ohne dass es dafür ein Mandat der amtierenden Regierung gibt, hat eine andere Bedeutung. «Dieses Projekt hat natürlich eine starke politische Komponente», sagt Kiener. Die Expertengruppe habe aber «eine technische Assistenz in Verfassungsfragen» geleistet: Welchen Einfluss hat eine bestimmte Staatsform auf die Wahl oder Aufsicht über die Justizbehörden? Inwiefern sollen bestimmte Grundrechte justiziabel sein? «Solche Aspekte kann man auch unabhängig von bestimmten politischen Konstellationen diskutieren.» Die Federführung im ganzen Prozess hatten laut Kiener die belarussischen Seminarteilnehmer. Sie setzten die Themen und trafen die Entscheidungen. Alle Mitwirkenden brachten aber ihre Erfahrungen ein. Die Experten aus Osteuropa hatten laut Kiener zum Beispiel besondere Kenntnisse, wenn es um Fragen der Übergangsjustiz ging, «die sich in Belarus ja ebenfalls stellen könnten».
Eine parlamentarische Demokratie für Belarus
Eine spezifisch schweizerische Perspektive habe sie nicht einfliessen lassen, sagt die Zürcher Professorin: «Höchstens dann, wenn es um Initiativen, Referenden und die Frage ging, wie hoch dabei die Anzahl Unterschriften gemessen an der Bevölkerungszahl sein soll.» Oder bezüglich des systematischen Aufbaus von Erlassen und Rechtsnormen. Ansonsten habe sie vor allem ihre Erfahrung als Fachfrau für vergleichendes Verfassungsrecht eingebracht.
Resultat des Seminars war der Entwurf einer «modernen, demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassung», wie Kiener sagt: «Der Verfassungsentwurf enthält einen ausführlichen Menschenrechtskatalog, betont Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und legt grossen Wert auf die Gewaltenteilung.» Das heutige Präsidialsystem solle von einer parlamentarischen Demokratie mit direktdemokratischen Elementen abgelöst werden.
Wie realistisch dieses Szenario ist, bleibt offen. Logische Folge des Verfassungsentwurfs wäre eine breite politische Diskussion – gerade auch innerhalb der belarussischen Opposition, in der zahlreiche unterschiedliche politische Strömungen vertreten sind und wo die Meinungen zu einzelnen Aspekten des Verfassungsentwurfs auseinandergehen dürften. Doch die gewünschte Debatte ist nicht möglich. In Belarus sitzen viele führende Oppositionelle, die nicht ins Exil geflüchtet sind, im Gefängnis.
Trotzdem hat Kiener keine Zweifel, dass das Seminar und der Verfassungsentwurf positive Auswirkungen haben: «Das Formulierte kann nicht mehr zurückgenommen werden, der Entwurf ist jetzt in der Welt», sagt sie. Und die Auseinandersetzung mit verfassungsrechtlichen Fragen habe in diesem Kontext auch etwas Identitätsstiftendes: «Es ist wichtig, dass die belarussischen Teilnehmer ernsthaft darüber diskutieren, wohin sie mit ihrem Gemeinwesen wollen.» Kiener zeigt sich tief beeindruckt vom Umstand, dass 2020 Zehntausende Menschen auf die Strasse gingen. Und es bewege sie, was die in der Opposition engagierten Frauen und Männer trotz drohender Folter und langer Haftstrafen sowie des Verlusts ihrer sozialen Sicherheit auf sich nehmen. Kiener: «Das ist gelebte Demokratie!»
Der nächste Schritt auf dem Weg zu einer neuen belarussischen Verfassung soll nun eine akademische Publikation sein, die sich mit dem Entwurf auseinandersetzt und den Diskurs am Laufen hält.
Autoritärer Geist prägt die heutige Verfassung
Massive Proteste begleiteten die Präsidentschaftswahl in Belarus vom 9. August 2020. Gegen Präsident Alexander Lukaschenko, seit 1994 an der Macht, wurden Manipulationsvorwürfe laut. Vor der Wahl waren Kandidaten der Opposition festgenommen worden. Nach der Wahl kam es zu Massendemonstrationen mit teils Hunderttausenden von Teilnehmern. Knapp 40 000 Demonstranten und Unbeteiligte wurden festgenommen. Das belarussische Menschenrechtszentrum Wjasna und Amnesty International dokumentierten zahlreiche Fälle brutaler Polizeigewalt und Folter. Lukaschenko befindet sich mittlerweile in seiner sechsten Amtszeit. Er stützt sich auf die Verfassung von 1994, die er selbst mehrfach revidierte, wobei er vor allem die Befugnisse des Staatsoberhaupts erweiterte. «Der autoritäre Geist ist in der heutigen Verfassung deutlich zu erkennen», sagt Professorin Regina Kiener. Nicht nur die Opposition, auch Lukaschenko strebt eine neue Verfassung an. Fabian Burkhardt vom Leibniz-Institut für Ost- und Südeuropaforschung und Jan Matti Dollbaum von der Universität Bremen sehen darin den Versuch, «ausreichend Veränderung zu suggerieren, ohne tatsächlich Macht abzugeben».