Es war eine akribische Arbeit: Stephan Aerschmann analysierte in seiner Dissertation das Bild der Schweizer Justiz in der Öffentlichkeit. Im Frühjahr veröffentlichte er die Ergebnisse seiner Forschung im Sachbuch «Der ideale Richter». Untertitel: «Schweizer Bundesrichter in der medialen Öffentlichkeit – 1875 bis 2010».
Die Beschränkung auf das Bild der Bundesrichter hat einen einfachen Grund: In Schweizer Medien waren Gerichte und Richter in den über hundert Jahren kaum ein Thema. Eine Ausnahme bildeten Würdigungen von Bundesrichtern – erschienen vor allem in der NZZ. Basis der Analyse waren über tausend Artikel – fast alles Nachrufe – zu insgesamt 152 Bundesrichtern.
Das Ergebnis erstaunt nicht: Nach dem Grundsatz «De mortuis nihil nisi bene» war über die Bundesrichter nur Wohlwollendes zu lesen. Und sehr Einheitliches. Es tauchten immer wieder dieselben Formulierungen auf, sodass Verfasser von künftigen Nachrufen eine einfache Checkliste zur Hand haben. Allgemein gilt:
- Bundesrichter haben ein gründliches juristisches Wissen, einen unabhängigen Charakter, ein tiefes Rechtsgefühl, einen angeborenen Gerechtigkeitssinn, sind von höchster Intelligenz und orientieren ihr Wirken an den Nöten der Menschen.
- Bundesrichter sind allein dem Gesetz verpflichtet, neutral und nur an der Sache interessiert.
- Bundesrichter sind weder Theoretiker noch Praktiker – sondern eine gelungene Kombination von profunder Beherrschung der Doktrin und einem Sinn für das Praktische. Ein theoretisierender Richter gilt als ein wissenschaftlich fundierter Praktiker.
- Die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Richtern sind grundsätzlich minim. Kommt es trotzdem zu juristischen Kontroversen, ist die Arbeitsatmosphäre gleichwohl freundschaftlich, kollegial und familiär.
- Die Argumentation der Richter ist immer klar, der Verstand scharf, der Geist tiefgründig.
- Richter lassen sich vom Rechtsempfinden und dem gesunden Menschenverstand leiten. Ihr Rechtsgefühl und Rechtsempfinden sind sicher und unbestechlich.
- Richter sind wohlwollend, verständnisvoll, einfühlsam und hilfsbereit. Sie verstehen ihr Amt als Dienst am Menschen und an der Gemeinschaft.
- Richter sind unermüdliche Schaffer, die über grosse Arbeitsfreude und Arbeitskraft verfügen. Das Einzige, was sie vom Arbeiten abhält, sind gesundheitliche Gründe.
- Seit Mitte des letzten Jahrhunderts gelang es den Bundesrichtern durchwegs, juristische Probleme in kurze, klare und auch für Laien gut verständliche Voten zusammenzufassen. Sie können ihre Gedanken seither so klar und präzise ausdrücken, dass sie auch ohne juristische Vorkenntnisse verstanden werden.
- Seit den 1960er-Jahren arbeiten Bundesrichter durchwegs speditiv.
- Und ab den 1990er-Jahren verfügen sie zudem noch über hervorragende Führungsqualitäten.
- Bundesrichter stehen auch als Privatpersonen im Dienste der Gesellschaft. Sie sind liebenswert, hilfsbereit und zuvorkommend, edle Menschen von seltener Herzensgüte und von einer unserer Zeit fremden Uneigennützigkeit. Sie können sich für alles Edle, Gute und Schöne begeistern und sind auch als Gatten oder Grossväter die besten und liebevollsten.
- Die in den Würdigungen am häufigsten genannte Charaktereigenschaft der Bundesrichter ist ihre Bescheidenheit.
Stephan Aerschmann
«Der ideale Richter»,
Chronos Verlag, Zürich 2014,
276 Seiten, 58 Franken