1. Rang
«Bedenkliches Eigenleben des Migrationsrechts»
Der Titel «Fehlurteil des Jahres 2023» der plädoyer-Jury geht einstimmig an das Bundesverwaltungsgericht, konkret an die vierte Abteilung, die sich um Asylrecht kümmert. Das Gericht bestätigte die Wegweisung eines Asylsuchenden, der nach eigenen Angaben aus dem Tibet stammt. Es stützte sich dabei auf ein Gutachten, bei dem ein Linguist die Herkunft eines Asylsuchenden aufgrund der Sprach- und Landeskenntnissen beurteilt (Urteil D-2337/2021 vom 5. Juli 2023).
Das Problem: Asylsuchende haben in der Regel keine Kenntnis von der Person des Gutachters und seiner Ausbildung. Sie können keine Ablehnungsvorschläge machen, keine Ergänzungsfragen stellen und keine Stellungnahme zu Gutachten abgeben.
Im vorliegenden Fall war dies anders: Der betroffene Asylsuchende erhielt das Gutachten aufgrund eines Versehens vom Bund. In seiner Beschwerde gegen die Abweisung des Asylgesuchs zitierte er drei anerkannte Tibetologen, die dem Gutachter widersprachen.
Jurymitglied Niklaus Ruckstuhl kritisiert: «Ein anonymes Gutachten hebelt das rechtliche Gehör aus.» Die Parteien müssten jeden Gutachter und sein Werk überprüfen und ablehnen können. Die Identität einer involvierten Person könnte zwar wie in einem Strafprozess ausnahmsweise aus gewichtigen Gründen geheim gehalten werden. «Doch sicher nicht mit einem pauschalen Verweis auf ein angeblich persönliches Interesse des Gutachters wie im vorliegenden Fall.»
Die beiden anderen Jurymitglieder stimmen zu. Professorin Franziska Sprecher ergänzt: «Im Gesundheitsrecht wäre eine solche anonyme Gutachtensstelle undenkbar.» Es sei bedenklich, dass das Migrationsrecht ein solches Eigenleben führe.
2. Rang
«Höchst problematisches Urteil»
An zweiter Stelle landet ein Urteil der Zweiten strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts. Die Polizei hatte einen Vater beim Rasen mit dem Motorrad erwischt. Sie machte eine Hausdurchsuchung und fand auf einer Go-Pro-Kamera auch noch Videos von Raserfahrten des Sohns.
Das Bundesgericht ist sich bewusst, dass es sich um einen Zufallsfund aus einer unzulässigen «fishing expedition» handelt. Es beurteilt die Videos bei zwei als grobe Verkehrsregelverletzung eingestuften Raserfahrten aber als verwertbar (Urteil 6B_821/2021 vom 6. September 2023).
Der Strafrechtler Ruckstuhl beurteilte den Entscheid als «höchst problematisch». Bereits das Gesetz sei unklar, da es illegale Beweise bei «schweren Delikten» als verwertbar erkläre. «Das Bundesgericht schafft jedoch weitere Rechtsunsicherheit, indem es auch grobe Verkehrsdelikte als schwere Delikte beurteilt.» Professorin Isabelle Wildhaber stimmt in prozessualer Hinsicht zu. Doch als Verkehrsteilnehmerin verstehe sie, dass das Bundesgericht gefährliche Verkehrsmanöver sanktioniere. Ruckstuhl weist aber daraufhin, dass es bei der Beweisverwertung wichtig sei, nicht das Resultat und die eigene Betroffenheit im Kopf zu haben. Sonst müsse man in der Konsequenz jede Polizeiaktion als erlaubt beurteilen.
3. Rang
«Unnötig formstrenger Entscheid»
Den dritten Platz holte sich die Zweite zivilrechtliche Abteilung des Bundesgerichts. Eine Frau verfasste eigenhändig ein Testament. Ihren Namen schrieb sie nur auf den Umschlag und unterschrieb nicht auf dem eigentlichen Testament. Das Bundesgericht erachtete das Testament als ungültig (Urteil 5A_133/2023 vom 19. Juli 2023).
Die plädoyer-Jury anerkennt, dass das Bundesgericht zwar die gesetzlichen Formvorschriften des Testamements berücksichtigte. Im Resultat sei dieser Entscheid jedoch «formalistisch» und «unnötig formstreng».
Isabelle Wildhaber verweist auf die Rechtslage in Deutschland. Das Oberlandesgericht Oldenburg bestätigte im Dezember die Gültigkeit eines Testament, bei dem ein Wirt nur den Kosenamen seiner Freundin und das Datum auf einen Zettel schrieb – mit der Ergänzung «bekommt alles» und seiner Unterschrift. Der Fall aus Deutschland zeigt: Es geht auch lebensnaher.
Die Jury
Eine Jury kürt jeweils das Fehlurteil des Jahres. Basis für die diesjährige Wahl waren rechtskräftige Entscheide aus dem Jahr 2023, die plädoyer aus der Leserschaft für die Auszeichnung vorgeschlagen wurden.
Die Mitglieder der diesjährigen Jury: Niklaus Ruckstuhl, emeritierter Titularprofessor für Strafrecht an der Universität Basel, Franziska Sprecher, Assoziierte Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht mit Schwerpunkt Gesundheitsrecht an der Universität Bern, und Isabelle Wildhaber, Professorin für Privat- und Wirtschaftsrecht mit Schwerpunkt Arbeitsrecht, Universität St. Gallen.